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"Was jetzt in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern"

Friedensaktivist Uri Avnery und der Journalist Gideon Levi fordern ein Umdenken in Israel


In Israel ist die Debatte über die Umbrüche in den arabischen Staaten, insbesondere in Ägypten, voll entbrannt. Während die Regierung auf die alten Kräfte setzt und vehement an Mubarak festhält, fordern die Friedensbewegung und die Linke im Land eine realitätsgerechtere Beurteilung der neuen Lage.
Wir dokumentieren im Folgenden einen Artikel von Uri Avnery und einen Kommentar von Gideon Levy (aus der Zeitung Ha'aretz).


Eine Villa im Dschungel

Von Uri Avnery *

WIR SIND inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava.

Die Menschen fürchten sich vor der Veränderung. Wenn dies geschieht, neigen sie dazu, dies zu leugnen, zu ignorieren, geben vor, dass nichts wirklich Bedeutendes geschieht.

Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während im benachbarten Ägypten erderschütternde Dinge geschehen, war Israel mit einem Skandal in den oberen Rängen der Armee beschäftigt. Der Verteidigungsminister verabscheut den amtierenden Stabschef und macht daraus kein Geheimnis. Der mutmaßlich neue Chef wurde als Lügner enthüllt, und seine Ernennung wurde zurückgezogen. Das waren die Schlagzeilen.

Aber was jetzt in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern.

WIE GEWÖHNLICH sah es keiner voraus. Der viel gefeierte Mossad war total überrascht, genau wie der CIA und all die anderen gefeierten Dienste dieser Art.

Doch sollte es überhaupt keine Überraschung gewesen sein – abgesehen von der unglaublichen Wucht des Ausbruchs. In den letzten Jahren haben wir viele Male hier erwähnt, dass in der ganzen arabischen Welt eine Menge junger Leute heranwächst, die eine tiefe Verachtung für ihre Führer hat, und dass es früher oder später zu einem Aufstand kommen werde. Dies waren keine Prophezeiungen, sondern eher eine nüchterne Analyse von Wahrscheinlichkeiten.

Der Aufstand in Ägypten wurde durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt: die wachsenden Lebenskosten, die Armut, die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten jungen Leute. Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: die zu Grunde liegenden Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem Wort zusammengefasst werden: Palästina.

In der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Not ertragen, aber keine Demütigungen.

Was jeder junge Araber von Marokko bis Oman täglich sah, war , dass seine Führer sich demütigten, indem sie die palästinensischen Brüder im Stich ließen, um Gunst und Geld von Amerika zu erhalten. Sie kollaborierten mit der israelischen Besatzung und katzbuckelten vor den neuen Kolonialherren. Dies war für junge Leute zu tiefst demütigend, die mit den Errungenschaften der arabischen Kultur vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer Kalifen aufgewachsen sind.

Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das offen mit der israelischen Führung kollaboriert, in dem es die schändliche Blockade über den Gazastreifen verhängt und so 1,5 Millionen Araber der Unterernährung und Schlimmerem preisgibt. Es war niemals nur eine israelische Blockade, sondern eine israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschmiert wurde.

Ich habe viele Male – laut – darüber nachgedacht, wie ich mich als 15-jähriger Junge in Alexandria, Amman oder Aleppo fühlen würde, wenn ich meine Führer sehe, wie sie sich wie unterwürfige Sklaven der Amerikaner und Israelis benehmen, während sie ihre eigenen Untertanen unterdrücken und ausplündern. In diesem Alter schloss ich mich einer terroristischen Organisation an. Warum sollte ein arabischer Junge anders sein?

Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde reflektiert. Aber ein Diktator, der nationale Schande ausdrückt, ist ein Baum ohne Wurzeln – ein starker Wind wird ihn zu Fall bringen.

Für mich gab es nur die Frage, wo es in der arabischen Welt anfangen würde. Ägypten – wie auch Tunesien – standen unten auf der Liste. Doch genau hier in Ägypten findet die große arabische Revolution statt.

DIES IST ein Wunder für sich selbst. Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, so ist dies ein großes.

Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen wirklich lieben kann, aber man kann sicher ein Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser Hinsicht ist es einem erlaubt, zu verallgemeinern.

Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten der Armen sind eine unglaublich geduldige Gesellschaft Sie sind mit einem unverwüstlichen Gespür für Humor ausgestattet. Sie sind auch unheimlich stolz auf ihr Land und seine 8000 jährige Geschichte.

Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist, ist das fast vollkommene Fehlen von Aggressivität bei den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine besondere Szene: ich saß in einem Taxi in Kairo, als dieses mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken. Und dann hielten beide plötzlich inne und brachen in ein Gelächter aus.

Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt, mag er dieses oder hasst es. In dem Augenblick, in dem du auf ägyptischem Boden landest, verliert die Zeit ihren tyrannischen Druck. Alles wird gelassen, alles ist durcheinander, doch in wunderbarer Weise löst sich alles von alleine auf. Geduld ist grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die Geduld plötzlich ein Ende haben kann.

Es ist wie ein defekter Deich an einem Fluss. Das Wasser steigt kaum wahrnehmbar und geräuschlos hinter dem Deich – aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht der Deich und überschwemmt alles.

MEINE EIGENE erste Begegnung mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach Anwar Sadats beispiellosem Besuch in Jerusalem eilte ich nach Kairo. Ich hatte kein Visum. Ich werde niemals den Moment vergessen, in dem ich meinen israelischen Pass dem korpulenten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer verwirrter – und dann hob er seinen Kopf mit einem breiten Lächeln und sagte „Marhaba!“, „Herzlich Willkommen!“ Zu diesem Zeitpunkt waren wir die einzigen drei Israelis in der riesigen Stadt, und wir wurden wie Könige gefeiert. Beinahe erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern der Leute gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen Ägyptens liebten dies.

Es dauerte nur ein paar Monate, bis sich dies zu tiefst veränderte. Sadat hoffte - und glaubte ehrlich– dass er auch den Palästinensern Befreiung gebracht hat. Unter intensivem Druck von Seiten Menachem Begins und Jimmy Carters stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald danach merkte er, dass Begin nicht im Traume daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen. Für Begin war das Friedensabkommen mit Ägypten ein separater Frieden, der es ihm möglich machte, den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren.

Die Ägypter vergaben dies niemals – das begann bei der kulturellen Elite und sickerte bis zu den Volksmassen durch. Sie fühlten sich betrogen. Die Palästinenser mögen nicht sehr geliebt sein, aber einen armen Verwandten zu verraten, ist nach arabischer Tradition eine Schande. Nachdem die Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit diesem Verrat kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag allem zugrunde, was in dieser Woche geschehen ist. Die Millionen, die „Mubarak, geh weg!“ schrieen, schrieen - bewusst oder unbewusst - auch aus dieser Verachtung.

BEI JEDER Revolution gibt es einen „Jeltzin-Moment“ . Die Panzer werden in die Hauptstadt geschickt, um die Diktatur wieder herzustellen. Im kritischen Augenblick standen sich die Volksmassen und das Militär gegenüber. Wenn die Soldaten sich zu schießen weigern, ist das Spiel zu Ende. Jeltzin kletterte auf einen Panzer, ElBaradei wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz. Das ist der Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland flieht, wie es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.

Dann gibt es noch den „Berliner Moment“, wenn ein Regime ins Wanken gerät und keiner der Mächtigen weiß, was er tun soll, und nur die anonymen Massen genau zu wissen scheinen, was sie wollen: sie wollten, dass die Mauer fällt.

Und es gibt noch den „Ceaucesco Moment“. Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die Menge, als plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment lang ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er. Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede hielt und umsonst versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.

WENN MUBARAK die Realität nicht mehr sieht, so trifft dies auch auf Binyamin Netanyahu zu. Er und seine Kollegen sind unfähig, die schicksalhafte Bedeutung dieser Ereignisse für Israel zu begreifen.

Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Was in der nächsten Zukunft in Ägypten geschieht – Demokratie oder eine Militärdiktatur – so ist das nur die Sache einer (kurzen) Zeit, bevor die Diktatoren in der ganzen arabischen Welt fallen und die Massen eine neue Realität ohne Generäle schaffen.

Alles, was die israelische Führung in den letzten 44 Jahren der Besatzung oder der 63 Jahre seiner Existenz getan hat, ist obsolet geworden. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie ignorieren – und darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“ sind, wie Ehud Barak es einmal bekanntermaßen sagte – oder einen passenden Platz in der neuen Realität finden.

Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger Luxus. Es ist eine absolute Notwendigkeit. Frieden jetzt, und zwar Frieden schnell. Frieden mit den Palästinensern und dann Frieden mit den demokratischen Massen in der ganzen arabischen Welt, Frieden mit den vernünftigen islamischen Kräften (wie Hamas und den Muslimbrüdern, die sich sehr von der Al-Qaida unterscheiden), Frieden mit den Führern, die im Begriff sind, in Ägypten und überall aufzutauchen.

5. Februar 2011

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

* Aus: Deutschsprachige Website von Uri Avnery; www.uri-avnery.de


Die ägyptischen Massen wollen nicht weiter die Verbündeten Israels spielen

Von Gideon Levy **

Vor drei oder vier Tagen war Ägypten noch in unserer Hand. Die Armee von Panditen, einschließlich unseres Spitzenexperten über Ägypten Benyamin Ben-Elieser, der sagte: „Alles ist unter Kontrolle“, dass Kairo nicht Tunis sei und dass Mubarak stark sei. Ben-Eliezer sagte, er habe über Telefon mit einem ranghohen ägyptischen Offizier gesprochen, er versicherte ihm, das es keinen Grund für Besorgnis gebe. Man kann sich auf Fuad und Hosni verlassen. Beide sind „Gewesene“ geworden.

Am Freitagabend veränderte sich alles. Es stellte sich heraus, dass der israelische Geheimdienstschätzungen, die bis zum Überdruss von Gerichtsanalytikern zitiert wurden, wieder nicht der Inbegriff von Genauigkeit waren. Das ägyptische Volk hatte nun das Sagen und hatte die Freiheit, mit Israels Wünschen nicht überein zu stimmen. Ein Moment bevor Mubaraks Schicksal besiegelt ist, ist die Zeit gekommen, israelische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Nicht eine Plage der Dunkelheit in Ägypten, sondern das Licht des Nils: das Ende eines von Bajonetten gestützten Regimes wird vorausgesagt. Es kann noch Jahre weitergehen und der Zusammenbruch zur am wenigsten erwarteten Zeit kommen – aber am Ende passiert es. Nicht nur Damaskus und Amman, Tripolis und Rabat, Teheran und Pyongyang: Ramallah und Gaza werden auch erschüttert.

Die scheinheilige und frömmlerische Teilung des Landes durch die US und den Westen zwischen „der Achse des Bösen“ auf der einen Seite und den Moderaten auf der anderen ist zusammengebrochen. Falls es eine Achse des Bösen gibt, dann schließt es die nicht-demokratischen Regime und die „moderaten“, die „stabilen“ und die „pro-westlichen“ mit ein. Heute Ägypten, morgen Palästina, gestern Tunis, morgen den Gazastreifen.

Es ist nicht nur das Fatahregime in Ramallah und das Hamasregime in Gaza dazu bestimmt zu fallen, sondern eines Tages vielleicht auch die israelische Besatzung, bei der sicherlich all die Kriterien einer kriminellen Tyrannei und eines üblen Regimes zutreffen. Es verlässt sich nur auf seine Waffen. Es wird von allen Schichten des beherrschten Volkes gehasst, selbst wenn sie hilflos, unorganisiert und ohne jede Waffe einer großen Armee gegenüberstehen. Die erste Schlussfolgerung: besser wäre, dem ein gutes Ende zu machen, mit Abkommen, das sich auf Gerechtigkeit und nicht auf Macht gründet, einen Moment bevor die Massen das Sagen haben und es ihnen gelingt, die Dunkelheit zu vertreiben.

Eine zweite nicht weniger wichtige Schlussfolgerung: Allianzen könnten mit unbeliebten Regimen über nacht aufgekündigt werden. So lange die Massen in Ägypten und in der ganzen arabischen Welt weiterhin die Bilder der Tyrannei und Gewalt aus den besetzten Gebieten sehen, wird Israel nicht in der Lage sein, angenommen zu werden, selbst wenn es von ein paar Regimen angenommen wird.

Da ägyptische Regime wurde ein Verbündeter der israelischen Besatzung. Die gemeinsame Belagerung des Gazastreifens ist ein unwiderlegbarer Beweis davon. Das ägyptische Volk mag dies gar nicht. Es mochte das Friedensabkommen mit Israel nie, in dem es sich verpflichtet hat, „die legitimen Rechte der Palästinenser anzuerkennen, aber nie sein Wort gehalten hat. Stattdessen bekam das Volk von Ägypten die Bilder der Operation Cast.Lead zu sehen.

Es genügt nicht, ein paar Botschaften in der Region zu haben, um akzeptiert zu werden. Es müssen Botschaften des guten Willens sein, ein Abbild von Gerechtigkeit und ein Staat, der kein Besatzer ist. Israel muss sich einen Weg schaffen, um die Herzen der arabischen Völker zu gelangen, die nie damit einverstanden sind, dass ihre Brüder unterdrückt werden, auch wenn ihre Geheimdienstminister weiter mit Israel zusammenarbeiten.

Wenn es etwas gibt, das allen Fraktionen der ägyptischen Opposition gemeinsam ist, dann ist es der siedende Hass gegen Israel. Nun werden ihre Vertreter an die Macht kommen – und Israel wird sich in einer schwierigen Situation befinden. Es wird auch nichts von dem virtuellen Errungenschaften bleiben, die Netanyahu oft demonstrierte – die Allianz mit den „moderaten“ arabischen Regimen gegen den Iran. Eine wirkliche Allianz mit Ägypten und seinen Schwesterstaaten kann nur auf das Besatzungsende gegründet werden, wie es das ägyptische Volk wünscht und nicht auf einen Feind, weil es im Interesse des Regimes liegt.

Die Massen des ägyptischen Volkes – und zwar auf allen Ebenen – nehmen ihr Schicksal in ihre Hände. Das ist recht eindrucksvoll. Keine Macht, nicht einmal die von Mubarak, den Ben-Eliezer so liebt, kann sie überwinden. In Washington ist der Ernst der Lage schon verstanden worden, und sie waren dort schnell dabei, sich von Mubarak zu trennen, um die Gunst des eigenen Volkes zu gewinnen. An einem bestimmten Punkt sollte dies (auch ) in Jerusalem passieren.

30.1.11 (dt. Ellen Rohlfs)

** Originalartikel: The Egyptian masses won't play ally to Israel. In: Haaretz, 30.01.11; http://haaretz.com


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