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Blutbad in Kairo

Zahlreiche Tote bei Straßenschlachten in Ägyptens Hauptstadt. Soldaten vor öffentlichen Gebäuden postiert. Ministerpräsident ruft zur Ruhe auf

Von Karin Leukefeld *

Nach schweren Auseinandersetzungen in Kairo am Wochenende hat der Militärrat die Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt deutlich erhöht. Zusätzliche Soldaten wurden vor dem Parlamentsgebäude sowie vor anderen zentralen Einrichtungen stationiert. Nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur MENA wurden Dutzende Menschen wegen des Verdachts der »Anstiftung zu Chaos« festgenommen.

Tausende koptische und andere Demonstranten hatten am Sonntag (9. Okt.) mit einem Sit-in vor dem staatlichen ägyptischen Fernsehgebäude protestiert. Anlaß war die Zerstörung einer Kirche im Süden des Landes. Der Zorn der Demonstranten richtete sich vor allem gegen Mustafa Al-Sayed, den Gouverneur der Provinz Assuan. Sie verbrannten dessen Bilder und forderten den Militärrat auf, Al-Sayed zu entlassen. Das staatliche Fernsehen beschuldigten sie, Hetze gegen die Christen anzuheizen.

Der friedliche Protest war in eine Straßenschlacht umgeschlagen, als Männer in Zivilkleidung mit Stöcken gegen die Demonstranten vorgingen. Aus Fenstern und von Balkonen hätten Personen Flaschen auf die Demonstranten geworfen, berichtete eine Reporterin. Andere Passanten und Anwohner, auch Muslime, seien den Demonstranten daraufhin zu Hilfe gekommen. Ein Augenzeuge sagte der britischen BBC, die Militärpolizei habe Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, auch Schüsse waren zu hören. Die Straßenschlacht weitete sich bis auf den nahe gelegenen Tahrir-Platz aus. Steine und Molotowcocktails flogen, ein gepanzertes Fahrzeug der Militärpolizei raste in die Menschenmenge. Fernsehbilder zeigten, wie Demonstranten einen Soldaten angriffen, während ein Priester sich schützend vor ihn stellte. Ein Soldat war zu sehen, der angesichts der vielen Verletzten weinend zusammenbrach. Nach offiziellen Angaben wurden 24 Menschen getötet und 270 weitere verletzt. Am Montag (10. Okt.) kam es erneut zu Auseinandersetzungen vor einer Klinik, in der viele Opfer behandelt wurden.

Ministerpräsident Essam Scharaf rief die Bevölkerung am Montag zur Ruhe auf. Gewalt zwischen Muslimen und Christen bedrohe die Einheit und den politischen Wandel in Ägypten, sagte er. Beide Gruppen seien »Söhne Ägyptens«. Die Regierung werde nicht zulassen, daß »irgendeine Gruppe die nationale Einheit Ägyptens manipuliert oder den demokratischen Übergangsprozeß hinauszögert«. Für Ende November ist die erste Runde der Parlamentswahlen geplant.

Der Großimam der angesehenen Al-Azhar-Moschee, Scheich Ahmed Al-Tayeb, rief zu einem Treffen des überkonfessionellen Dialogprojektes »Familienhaus« auf. Auch die Opposition kündigte für Montag ein Sondertreffen an. Die EU forderte den Schutz der Kopten und eine Untersuchung. Bei den Auseinandersetzungen am Samstag habe es sich nicht um einen konfessionellen Konflikt gehandelt, sondern um einen Angriff auf eine Minderheit, hieß es in der englischsprachigen Onlinezeitung Al-Ahram. Die Attacke auf die Kopten durch einen aufgestachelten Mob sei vergleichbar mit den rassistischen Übgriffen auf Schwarze in den USA.

Rund zehn Prozent der 80 Millionen Ägypter sind Kopten. Bereits in der Vergangenheit ist es immer wieder zu Konflikten gekommen. Angriffe von dogmatischen Salafisten auf Kopten waren vom alten Regime zum eigenen Machterhalt instrumentalisiert worden. Deshalb wurde bereits die Vermutung geäußert, daß die Eskalation von dessen Anhängern provoziert wurde. Der Patriarch der koptisch-orthodoxen Kirche machte Provokateure für die Ausschreitungen verantwortlich, die sich »in den Demonstrationszug eingeschlichen« hätten.

* Aus: junge Welt, 11. Oktober 2011


Massaker an Kopten

24 Menschen starben bei schweren Zusammenstößen in Kairo

Von Juliane Schumacher, Kairo **


Bei Protesten von christlichen Kopten ist es in Ägypten zu den schwersten Ausschreitungen seit dem Sturz von Staatschef Husni Mubarak gekommen. Bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und koptischen Demonstranten wurden am Sonntagabend mindestens 24 Menschen getötet und 200 verletzt.

Es ist ein schwarzer Tag für Ägypten: Mindestens 24 Menschen kamen bei der Gewalt zwischen hauptsächlich koptischen Protestierenden und dem Militär am Sonntag (9. Okt.) ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Organisationen von jungen Kopten hatten zu einer Demonstration gegen die andauernde Herrschaft des Militärs aufgerufen, auch muslimische Protestierende hatten sich ihnen angeschlossen. Die Kopten werfen dem Militär vor, sie nicht zu schützen und gezielt religiöse Spannungen zu schüren. Bereits am Nachmittag war die Demonstration mehrmals von Polizei und Unbekannten attackiert worden, als Bilder von Hussein Tantawi, dem Staatsoberhaupt und Armeechef, verbrannt wurden.

Gegen 18 Uhr griff das Militär Demonstranten zufolge die friedliche Kundgebung vor dem staatlichen TV-Gebäude im zentralen Stadtteil Maspiro an, zusammen mit Gruppen von bezahlten Schlägern. Das Staatsfernsehen berichtete, Kopten hätten mit automatischen Waffen aus der Kundgebung heraus auf Soldaten geschossen. Die Organisatoren der Demonstration dementierten dies. Insbesondere der staatliche Sender Nil-TV hetzte gegen die Kopten und rief die Bürger auf, »ihr Militär« zu unterstützen. Das Militär griff gegen 21 Uhr die unabhängigen Fernsehsender Al-Hurra und TV25 an, um die Live-Übertragung zu unterbinden, in der Nacht kappte es der großen Tageszeitung »Al-Shorouq« Internet und Strom, vermutlich um sie am Druck von Bildern der Nacht zu hindern.

Über Stunden tobten Straßenschlachten in Maspiro, die sich später auf den Tahrir-Platz und die Innenstadt ausweiteten. Autos brannten, das Militär schoss scharf, Videos im Internet zeigen, wie Militärfahrzeuge in die Menge rasen und Protestierende überfahren. Der bekannte Blogger und Aktivist Hossam Hamalawy spricht von einem »Massaker« an den Protestierenden. Schlägertrupps, unterstützt möglicherweise von aufgebrachten Anwohnern, griffen das koptische Krankenhaus an, in das Verletzte gebracht worden waren, konnten jedoch nicht eindringen. Das Gesundheitsministerium sprach von 24 Toten, fünf davon von Seiten des Militärs. Mindestens 200 Menschen wurden verletzt.

** Aus: neues deutschland, 11. Oktober 2011


SphinxMilitärrat

Von Roland Etzel ***

Der Militärrat selbst hat die Einsetzung einer Untersuchungskommission angewiesen, um herausfinden, wie es zum Ausbruch der Gewalt in Kairo kam. Eine undankbare Aufgabe. Denn wenig spricht dafür, dass es sich um sinnlose spontane Gewalt gehandelt hat, und wenig auch dafür, dass die Acht-Prozent-Minderheit von Christen in Ägypten den Aufstand probte.

Wer aber davon ausgeht, dass das nächtliche Massaker Organisatoren hatte, und denen politische Motive unterstellt, wird nicht daran vorbeisehen können: Das stärkste Motiv haben die Auftraggeber der Untersuchungskommission selbst, also der Militärrat. Dessen Beliebtheitskurve als vermeintlicher Garant der mittels Massenprotests erlangten demokratischen Veränderungen für die Ägypter zeigte zuletzt deutlich nach unten. Weil drängende Fragen der Ägypter bislang ohne befriedigende Antwort geblieben sind.

Welche politischen Prämissen haben die Generäle in Bezug auf bürgerliche Grundrechte, die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Bildung freier Parteien, Gewerkschafts-, Religionsfreiheit und nicht zuletzt Israel/Palästina? Hier bleiben sie rätselhaft wie die Sphinx von Gizeh. Und immer mehr Ägypter argwöhnen, dass dies kein Ausweis überbordender politischer Bescheidenheit ist. Wenn aber scheinbar undefinierte, gar noch religiös motivierte Gewalt auf die Straßen zurückkehrt, wird eine Militärherrschaft leicht an Akzeptanz wiedergewinnen. Und Hussein Tantawi, der Chef des Generalstabs, vielleicht nächstes Jahr Präsident.

* Aus: neues deutschland, 11. Oktober 2011 (Kommentar)


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