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"Heute gibt es zwei Machtfaktoren: die Armee und das Volk"

Gespräch mit Hassan Saber und Mamdouh Habashi. Über die nächsten Schritte der Protestbewegung in Ägypten, die Beharrungskräfte des alten Regimes und die Einflußnahme der Ersten Welt


Hassan Saber ist seit vielen Jahren in der linken Bewegung »Kifaya« (zu deutsch »Es reicht«) aktiv, die sich für eine Demokratisierung Ägyptens und für die Aufdeckung der Menschenrechtsverletzungen der Regierung einsetzt. In den 18 Tagen der Revolution hat er fast ununterbrochen auf dem Tahrir-Platz demonstriert.

Mamdouh Habashi ist Vizepräsident des Weltforums für Alternativen (www.forumdesalternatives.org) und Vorstands­mitglied des »Arab & African Research Centre« in Kairo.


Die Weltöffentlichkeit schaut seit Wochen gebannt wie fasziniert auf die Massenproteste im Nahen Osten. Nach Tunesien wurde auch in Ihrem Land der Staatschef gestürzt. Hosni Mubarak ist nicht mehr Präsident. »Ägypten ist frei, aber die Revolution ist von Panzern umstellt«, so die Wertung in den hiesigen Medien. Was hat sich in Ihrem Land seit dem Sturz des »Pharao« tatsächlich verändert?

Hassan Saber: Zunächst muß man einmal klarstellen: Wir umstellen die Panzer! In den Tagen des Aufstands im Januar und Februar haben Millionen Menschen die von Mubarak entsandten Panzer umstellt, nicht umgekehrt. Auf die Panzer wurden Graffitis gesprüht: Weg mit Mubarak!

Das ägyptische Volk hatte sich zu einer friedlichen Revolution entschieden, und nicht dazu, die Armee zu bekämpfen. Die Armee ihrerseits war mehr oder weniger neutral und stand zwischen Mubarak und dem Volk. Das Militär hat nicht auf die Menschen geschossen und auch nicht von Demonstrationen abgehalten. Es gab zwar eine Ausgangssperre, aber die war nicht streng gehandhabt. Die Armee wußte, wenn sie auf die Menschen schießt, wird sie am Ende mit verlieren. Es würde in einem Desaster enden, in einer gewaltsamen Revolution, vielleicht sogar einem Bürgerkrieg, und die Armee wäre gespalten worden.

Die Protestbewegung hatte keine direkten Anführer, keine Führungsköpfe. Verbunden hat uns ein gemeinsames Ziel. Es war eine Koalition aus verschiedenen sozialen Schichten, wenn nicht allen Schichten, die da auf die Straße gegangen ist. Sie umfaßte Menschen jeden Alters und aus allen Regionen des Landes. Die meisten wußten vermutlich, wenn man wirklich grundlegende Änderungen in Ägypten erreichen will, muß man sich gegen die Armee stellen. Doch sie haben sich dafür entschieden, diesen gefährlichen Kampf gegenwärtig nicht zu riskieren.

Heute gibt es zwei Machtfaktoren in Ägypten: Die Armee und das Volk. Millionen Menschen gehen freitags auf die Straßen, auf dem Tahrir-Platz in Kairo, in Alexandria, in Port Said, überall. Sie feiern die Revolution – und sie protestieren weiter. »Was ihr uns gegeben habt, ist nicht genug«, so der Tenor an die militärischen Machthaber. »Wir fordern wirkliche Veränderungen.« All die Verantwortlichen in den Medien aus der Mubarak-Ära etwa müssen gehen. Die Chefredakteure der Zeitungen und TV-Stationen haben von einem Tag auf den anderen ihre Meinung geändert. Bis zum 11. Februar waren sie Mubarak-Anhänger, am Tag nach dem Sturz dessen Gegner. Sie können sich einer Konterrevolution jederzeit anpassen.

In der Übergangsregierung sitzen Leute der alten Mubarak-Garde, die ganzen antidemokratischen Sondergesetze aus der Sadat-Zeit sind weiter in Kraft. So können wir formal noch immer keine neuen Parteien gründen. Unter diesen Umständen machen Wahlen keinen Sinn. Sie wären nicht demokratisch und würden nicht dem Willen der Bevölkerung gerecht.

Hat sich also gar nichts verändert?

Hassan Saber: Was sich verändert hat, ist das Bewußtsein der Menschen. Die Ägypter sind massenhaft für ihre Interessen auf die Straße gegangen. Sie haben für ihre Freiheit gekämpft – und sie werden nicht einfach wieder nach Hause gehen, ohne daß sich etwas ändert. Wir haben Teil eins der Revolution erfolgreich hinter uns gebracht und das alle einigende Ziel erreicht: Mubarak ist weg. Noch haben wir aber nicht diejenigen an die Macht gebracht, die unsere Interessen vertreten. Es fehlt an politischen Organisationen und Anführern etwa für die gegenwärtige Übergangsperiode. Das ist ein Erbe der Diktatur. Und daher liegt die Macht beim Militärrat. Die Armee hat unseren Vorschlag abgelehnt, die Macht zu teilen und einen Präsidialrat zu bilden, bestehend aus drei Vertretern der Opposition und zwei Militärs. Nicht einmal für die sechsmonatige Übergangsperiode kam das in Frage.

In Teil zwei der Revolution müssen wir tatsächliche demokratische Veränderungen erkämpfen. Wir haben gar keine andere Wahl. Wenn Mubarak geblieben wäre, hätte es ein Desaster gegeben. Als er ging, hat er den Menschen Hoffnung gegeben, etwas erreichen zu können.

Mamdouh Habashi: Tatsächlich haben wir in Ägypten eine sehr große Protestbewegung – von Revolution will ich nicht sprechen – aber ohne Kopf bzw. mit sehr vielen Köpfen, was auf das Gleiche hinausläuft. In solch einer Bewegung ist es einfacher, sich zunächst darauf zu verständigen, was man nicht will. Wenn es um die Frage geht, was wir alles wollen, werden die Meinungen wieder auseinandergehen. Sicher, es gibt einige Forderungen bezüglich des Demokratisierungsprozesses, auf die sich alle Demonstranten geeinigt haben – unabhängig von den sonst verschiedenen ideologischen Ausrichtungen.

Wir dürfen nicht vergessen, daß es in den vergangenen Jahrzehnten in Ägypten praktisch unmöglich war, sich politisch zu organisieren und zu artikulieren. Wir stehen daher vor einer verzerrten politischen Landschaft. Mubarak ist zwar gestürzt, das Regime ist aber weiterhin im Amt. Und zwar komplett. Vom Kabinett bis hin zu den Stadtverwaltungen. Die alten Kräfte haben immer noch alle Schlüssel in der Hand.

Die Armee ist nicht identisch mit dem Regime. Sie ist eine selbständige Institution. Die Armeeführung aber gehört zur Regimeelite. Es wäre töricht zu glauben, die Armee sei neutral oder die Panzer spielten eine militärische Rolle. Nein. Die Armee macht jetzt ausschließlich Politik. Die Panzer in den Straßen von Kairo und anderen Städten haben heute rein symbolische Bedeutung.

Die Armeeführung versucht, so viel wie möglich vom alten Regime beizubehalten. Dafür braucht sie politisches Fingerspitzengefühl – und das hat sie auch. Sie macht Zugeständnisse, Deals.

Auf der anderen Seite haben wir einen neuen Faktor in der Gleichung: Das Volk. Bis zu der Bewegung vom 25. Januar war das Volk nie ein Faktor in irgendwelchen Kalkulationen. Im Augenblick ist alles in Bewegung. Zur Zeit werden massenhaft neue Organisationen gegründet. Zwar gilt weiter der Ausnahmezustand und ein ganzes Paket an antidemokratischen Gesetzen ist weiter in Kraft, doch die Menschen wissen, sie haben ihre Freiheit erkämpft durch revolutionäres Recht. Alle wissen, das Gesetz, das die Parteienbildung behindert hat, muß über kurz oder lang fallen. Und wenn nicht: Es interessiert uns nicht, wir machen das jetzt einfach so. Täglich erfährt man jetzt in den Zeitungen von neuen Organisationen, die aber erst einmal ihren Weg finden müssen.

Diejenigen, die so viel wie möglich vom alten Regime retten wollen, sind bestrebt, die Übergangsperiode möglichst kurz zu halten. Sie wollten am liebsten binnen zehn Tagen die Verfassung modifizieren und sie wollen am Präsidialsystem festhalten. Die progressiven Kräfte sind für eine längere Übergangsperiode. Sie wollen eine komplett neue Verfassung ausarbeiten und eine parlamentarische Demokratie etablieren, in der die Macht des Präsidenten begrenzt ist. Salopp gesagt: Sie ziehen das Modell Deutschland den USA vor. Für Ägypten muß man sagen: Selbst ein Engel als Präsident würde in einer neuen Diktatur enden.

Parallel zu den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo und in den anderen Städten Ägyptens gab es Streiks. Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in Ihrem Land?

Hassan Saber: Unter Mubarak konnten sich weder Parteien bilden noch etwa die Studenten unabhängig organisieren. Es gab keine freien Gewerkschaften. Was es gab, waren »gelbe Gewerkschaften«, denen Kostgänger des Regimes vorstanden. Wir haben 18 Tage lang protestiert und gekämpft, um Mubarak loszuwerden. Wir werden zwei bis drei Jahre brauchen, sein Regime zu entfernen. Natürlich werden die etablierten Kräfte dabei nicht helfen, aber sie wissen auch, sie können nicht weitermachen wie bisher. Sie müssen ein paar Reformen machen, was die Bewegung wiederum inspiriert, radikalere Forderungen zu stellen. Das sind unsere Möglichkeiten. Die Alternative: Wir müßten eine gewaltsame Konfrontation mit der Armee aufnehmen. Das will aber keiner in Ägypten. Wir sind nicht Libyen oder Jemen. Nicht zuletzt sind bei uns nicht so viele Waffen im Umlauf.

Man darf nicht vergessen: In Ägypten geht es nicht um eine sozialistische Revolution. Die bräuchte ganz andere Voraussetzungen: Kampfstarke unabhängige Gewerkschaften, eine populäre Partei, eine politische Avantgarde. Wir kämpfen momentan um demokratische Mindeststandards. Selbst diesbezüglich ist die Revolution nicht am Ende, sie beginnt gerade.

Derzeit erleben wir »Aufstände« in einzelnen Fabriken, in Suez, in Mahala. Vielerorts gehen die Arbeiter gegen Chefs und Direktoren vor, die zum Mubarak-Regime gehören. Der Militärrat ruft dazu auf, Ruhe zu bewahren, und erklärt, daß alles weitere nach den Wahlen im September entschieden werden soll.

Mamdouh Habashi: Die weitere Zukunft hängt davon ab, wer die Bevölkerung mobilisiert. Jeder weiß um die Macht des »neuen Faktors«, des Volkes. Die neu entstandenen Organisationen versuchen, so viele junge Leute für sich zu gewinnen wie möglich.

Möglich sind nun zwei verschiedene Szenarien: Das Szenario der progressiven Kräfte, die darauf erpicht sind, die revolutionäre Bewegung in Gang zu halten. Sie werden versuchen, eine Art Volksversammlung zu bilden. Der sollen alle angehören, die an der Revolution teilgenommen haben und die unter dem alten Regime eine wirkliche Opposition waren – linke, rechte, Muslime, einfach alle. Diese Volksversammlung kann die Menschen in der Übergangsperiode weiter mobilisieren und orientieren. Die Linken würden darin die führende Rolle spielen, dessen bin ich sicher. Das wäre schon einmal die halbe Miete – derart geeint könnten wir von einer starken Position aus mit den Kräften des alten Regimes verhandeln und Erfolge erzielen. Wir könnten vorgeben, welche Gesetze geändert werden müssen, wann genau Wahlen stattfinden sollen etc.

Wenn uns das nicht gelingt, greift das andere Szenario, das weniger erfolgversprechend ist: Es gibt eine Vielzahl ideologisch verschiedener Plattformen, die miteinander konkurrieren und also auch gegenüber dem Regime nicht so stark sind.

Deutschland und die EU sowie die USA haben Millionen Euro angeboten, um beim »Aufbau der Demokratie« in Ägypten zu helfen. Wie wichtig sind derartige Transferleistungen?

Hassan Saber: Zunächst einmal sind sie vor allem sehr gefährlich. Grundsätzlich gilt doch, wer das Geld gibt, bestimmt die Agenda bzw. versucht es zumindest. Es ist ganz offensichtlich ein Versuch, Einfluß auf die Protestbewegung zu nehmen. Wir trauen US-Präsident Barack Obama nicht, wenn er sagt, er wolle der ägyptischen Regierung bei der Durchführung der nächsten Wahlen helfen.

Gleichzeitig brauchen wir Geld. Ganz konkret: Die linken Gruppen müssen unbedingt eine eigene Druckerei haben. Wir sind dabei, die dafür notwendigen Mittel bei der Bevölkerung zu sammeln. Das ist sicher mühseliger, aber wir bleiben unabhängig.

Von den politischen Kräften im Westen erwarten wir einzig, die Entwicklungen in Ägypten aufmerksam zu verfolgen, so daß sich das Land zu einer wirklichen Demokratie entwickelt und es nicht bei einigen formalen, kosmetischen Änderungen bleibt. Die EU könnte zum Beispiel regelmäßig eine Beobachtergruppe schicken und sich über den Stand der Dinge informieren. Der Militärrat versucht sich in einer Hinhaltepolitik. Seine Hauptparole an die Ägypter: Geht nach Hause, hört auf zu protestieren, hört auf zu streiken. Wir haben eure Forderungen verstanden und kümmern uns darum.

Wenn Politiker aus der EU nach Kairo kommen, sollten sie den Militärrat fragen, warum es noch immer nicht möglich ist, Parteien zu gründen bzw. warum die neu gegründeten Parteien illegal sind.

Mamdouh Habashi: Warum ist das viele Geld gefährlich? Gelder aus der Ersten Welt, aus den USA und der EU, werden in erster Linie dafür eingesetzt, möglichst viel vom alten Regime beizubehalten, aber auf eine »nachhaltigere« Weise. Maxime ist, die neoliberale Politik in Ägypten fortzusetzen unter welchem System auch immer. Die Diktatur ist dazu offensichtlich nicht mehr in der Lage. Zweitens: Ägypten darf die ihm in den geostrategischen Plänen der Ersten Welt zugeschriebene Rolle – die Abhängigkeit von den USA und das Verhältnis zu Israel – nicht infrage stellen. Während wir auf dem Tahrir-Platz demonstrierten, wurde bei Ihnen das Mantra wiederholt, Ägypten muß die internationalen Verträge und Abkommen respektieren. Das heißt die Ägypten etwa im Camp-David-Abkommen angelegten Fesseln sollen beibehalten werden.

Wir verstehen unter Demokratie sozialen Fortschritt. Wenn der nicht erzielt wird, ist es nicht die Demokratie, die wir wollen. Wir wollen keine Wahlurnendemokratie, die die Menschen in ihrem Elend läßt.

Welche Parallelen und Unterschiede zwischen den Auseinandersetzungen in Libyen und Ägypten sehen Sie?

Mamdouh Habashi: Was die beiden Regime gemeinsam hatten, sind die Diktatur, die Abhängigkeit zum Westen, vielleicht auch die Sprache und Nachbarschaft … Das Volk in beiden Ländern will unbedingt das Joch der letzten vier Dekaden abwerfen und zum Klub der freien Völker dieser Erde gehören. Ägypten ist ein Land mit zirka 80 Millionen Einwohnern und Libyen nur sechs Millionen, das Bürgertum ist in Ägypten etwa zwei Jahrhunderte alt und in Libyen hat das Erdöl Reichtum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts plötzlich ins Land gebracht, das unter populistischen Phrasen und einem brutalen Unterdrückungsapparat der Ghaddafi-Clique so gut wie beschlagnahmt worden ist.

In der EU und in den USA wird über eine militärische Intervention in Ihrem Nachbarland diskutiert. Welche Folgen hätten NATO-Angriffe?

Mamdouh Habashi: Eine militärische Intervention der USA in Libyen wäre ein Albtraum, für die Libyer aber auch für uns und die Tunesier und schließlich die ganze Region. Ich wünsche mir Boykotte dieses Regimes aller Art, Unterstützung der Rebellen mit Rat und Tat, aber kein militärisches Eingreifen. Das Problem sollte auf arabischer und/oder afrikanischer Ebene diskutiert und gelöst werden.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, 12. März 2011


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