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Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien ... und kein Ende?

Von Peter Strutynski *

Als wir über das Motto zum diesjährigen Friedensratschlag sprachen und wir uns schließlich für die Figur vom „globalen Winter“ entschieden, der den arabischen Frühling verdrängen werde, da haben wir weder an die physischen Temperaturen hier und heute gedacht noch an die Geschwindigkeit, mit der sich das politische Klima in Nordafrika und im Nahen Osten bis an den Gefrierpunkt abkühlen würde.

Und doch stehen knapp zwei Jahre nach dem Aufbruch der Menschen in Tunesien und Ägypten, den wir mit so viel Sympathie und Hoffnung begleiteten, die Zeichen in der Region, aber auch in der übrigen Welt auf Sturm. Politik, so scheint es heute vielfach, wird nicht mehr gemacht, um Konflikte einzudämmen und Kriege zu verhindern, sondern Kriege werden vielmehr geführt als Ersatz für und als Mittel der Politik. Einige herausragende Ereignisse des zurückliegenden Jahres mögen das illustrieren.

Da wird in Afghanistan schon im elften Jahr Krieg geführt – und an ein Ende ist nicht zu denken. Wie viele Koranbücher müssen denn noch verbrannt werden, wie viele Massaker müssen noch stattfinden, wie viele NATO-Soldaten müssen sog. „Innentätern“ noch zum Opfer fallen, um die Regierungen der Interventionsstaaten zum Umkehren zu bewegen? A propos „Innentäter“: Ich mag diese Wortneuschöpfung. Gemeint sind damit Attentäter, die aus den afghanischen Streitkräften heraus Angriffe auf Besatzungstruppen vornehmen. In diesem Jahr sind bisher immerhin 48 NAT0-Soldaten bei solchen Angriffen ums Leben gekommen. Wenn es Innentäter gibt, muss es auch „Außentäter“ geben. Dieser Begriff kommt im offiziellen Wortschatz der Bundesregierung aus gutem Grund nicht vor. Er macht nämlich wirklich Sinn: Außentäter sind all jene, die - von außen kommend - in Afghanistan eingefallen sind und ihr Kriegshandwerk ausüben.

Von den Regierenden hören wir seit Monaten die beschwichtigende Phrase vom Abzug der Außentäter bis Ende 2014 – „wenn es die Sicherheitslage zulässt“, wie vorsichtshalber immer hinzugefügt wird. Dabei weiß die politische Klasse und wissen wir alle, dass es auch nach 2014 keine Sicherheit geben wird am Hindukusch. Was soll sich denn bis dahin fundamental verändert haben? Werden die Afghanen genügend Arbeitsplätze haben, um nicht weiter auf den Drogenanbau angewiesen zu sein? Werden die korrupten Politiker aus ihren Ämtern gejagt sein, damit Vertrauen in die Institutionen des Landes hergestellt wird? Werden die Warlords und Drogenbarone entmachtet sein, damit ziviles Leben wieder stattfinden kann? Werden die „Taliban“ – ohnehin ein Sammelbegriff für alles, was gegen die ausländische Besatzung im Widerstand sich befindet – das Feld geräumt haben? Nichts von alledem! Auch in zwei Jahren werden wir feststellen, was Margot Käßmann schon vor fast drei Jahren diagnostiziert hat: „Nichts ist gut in Afghanistan.“

Wie zur Bestätigung dieses vernichtenden Urteils hat die Bundesregierung vor vier Tagen ihren sog. Fortschrittsbericht Afghanistan veröffentlicht. Danach hat sich alles (von der Alphabetisierung bis zu den Frauenrechten) „leicht“ gebessert. Der Bericht ist aber so ehrlich jeweils hinzuzufügen, dass „gravierende Probleme“ nach wie vor bestehen. Nur bei der Sicherheitslage sind bedeutende Fortschritte zu verzeichnen, insbesondere was die Sicherheit der NATO-Soldaten betrifft. „Im Jahr 2012 sind deutlich weniger ISAF-Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan gefallen als im Vorjahr. Die Zahl der Gefallenen sank von 427 auf 287 (Januar bis einschließlich Oktober 2012) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum“, heißt es im Bericht (S. 11). Etwas kleinlaut wird aber angefügt: „Die Zahl der Opfer unter den ANSF-Angehörigen nahm im gleichen Zeitraum zu, da die ANSF durch die Transition der Sicherheitsverantwortung nun deutlich mehr Operationslast tragen als ISAF.“ Es wurde aber auch Zeit, dass die Afghanen selbst ihren Kopf hinhalten – im Auftrag der Besatzer. Zahlen über getötete afghanische Sicherheitskräfte werden übrigens nicht bekannt gegeben – sie zählen offenbar nichts.

Man sieht: Die Kriegsallianz kann nicht eingestehen, dass der Afghanistankrieg ein Fehler war. Sie wird sich nicht „vorzeitig“ vom Hindukusch zurückziehen, weil das ein Eingeständnis ihrer Niederlage wäre. Und sie wird auch über 2014 hinaus am Hindukusch bleiben wollen. Die Weichen dafür sind seitens der NATO bereits gestellt worden – und die Bundesregierung hat mit ihrem neuen Mandat, das im Januar nächsten Jahres vom Bundestag abgesegnet werden soll (die SPD steht schon wieder Gewehr bei Fuß um der Koalition beizuspringen) deutlich gemacht, dass die Bundeswehr-Präsenz über 2014 hinaus selbstverständlich sei: zur Ausbilddung der afghanischen Soldaten (einschließlich der Innentäter) sowie zur Terrorismusbekämpfung – und das für den ganzen Zeitraum der sog. Transformationsphase: nämlich weitere 10 Jahre bis 2025 Als Friedensbewegung sagen wir, was wir seit 11 Jahren sagen: Dieser Krieg ist ein Verbrechen. Er muss beendet werden. Am besten sofort und bedingungslos!

Doch während die Regierenden an ein Ende des Afghanistankrieges nicht denken, bereiten sie neue Kriege vor. Jedenfalls tun sie alles, um die Bevölkerung hier zu Lande von der Notwendigkeit neuer Kriege zu überzeugen. Die neuen Kriegsschauplätze, über die verhandelt wird, als wären es Austragungsorte von Auswärtsspielen einer sportlichen Großmacht, heißen Syrien und Iran. Und wehe, es wagt jemand, die Logik der Kriegspropaganda in Frage zu stellen! Selbst eine doch bislang recht unbescholtene und moralisch unangreifbare Instanz wie der Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat vor einem Dreivierteljahr zu spüren bekommen, was es heißt, dem Frieden den Vorzug vor einem Krieg zu geben. Wenn Israel kritisiert und gleichzeitig Verständnis für den Iran geäußert wird, hört hier zu Lande die Gemütlichkeit auf. Da wird aus einer nationalen Ikone, der einst sogar die Springer-Presse Hochachtung bezeugte, als sie den Nobelpreis „für Deutschland“ holte, als handle es sich um den Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft, plötzlich eine Persona non grata, ein Verfemter, der irgendwie den Verstand verloren haben muss. Sein Poem „Was gesagt werden muss“, wenige Tage vor den Ostermärschen veröffentlicht, wurde der BILD-Zeitung ein „irres Gedicht gegen Israel“; der notorische Islamhasser Henrik Broder beschimpfte Grass in der „Welt“ als "Prototyp des gebildeten Antisemiten"; Micha Brumlik meinte in einem taz-Kommentar, "der Grass von 2012" sei noch "schlimmer als ein Antisemit" und die israelische Botschaft in Berlin stellt Grass in eine Traditionslinie des europäischen Antisemitismus, der die Juden regelmäßig vor dem Pessach-Fest des "Ritualmords" angeklagt habe.

Dabei hat Günter Grass doch nur ein paar Tatsachen ins rechte Licht gerückt, die hier zu Lande nur allzu gern verschwiegen werden. Etwa wenn er darauf hinweist,
  • dass nicht der Iran, sondern Israel über Atomwaffen verfügt und somit in der Lage ist, den Iran zu vernichten;
  • dass nicht Iran, sondern Israel dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten ist und keinerlei internationale Kontrolle über sein Atomprogramm zulässt;
  • dass Deutschland mit der Lieferung eines weiteren Atom-U-Boots an Israel sich zum Beihelfer eines möglichen Präventivkrieges gegen Iran machen würde;
  • dass von der realen Atommacht Israel eine Gefahr für den "brüchigen Weltfrieden" ausgeht; und
  • dass, wer Israels Politik kritisiert, Gefahr läuft unter das Verdikt des "Antisemitismus" zu fallen.
So geschah es auch vor zwei Wochen, als die Kritiker der neuerlichen israelischen Kriegsaktion im Gazastreifen pauschal verdächtigt wurden, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen. Und die Kanzlerin wurde nicht müde, ihre uneingeschränkte Solidarität mit Israel und dessen Recht auf Verteidigung zu bekunden. Und regelmäßig wird der Friedensbewegung die Antisemitismus-Klatsche um die Ohren geschlagen, nur weil sie es wagt, Israel wegen seiner Siedlungspolitik, seinem Landraub an palästinensischem Besitz, seiner Beanspruchung ganz Jerusalems als „ewiger Hauptstadt“ zu kritisieren.

Vorgestern Abend sprach der israelische Botschafter in der Vollversammlung der Vereinten Nationen von dem 4000-jährigen Rechtsanspruch der Juden auf das von Israel beanspruchte Gebiet. Sein Land sei das einzige Land in der Region, das den Frieden wirklich will, das aber von feindlichen Staaten und Terrororganisationen umgeben sei, weshalb es ein Recht auf Verteidigung habe. Der Antrag der Palästinenserbehörde auf Anerkennung als Nicht-Mitgliedsstaat in der UNO führe nicht zum Frieden, meinte er und forderte sie auf, in Zweierverhandlungen mit Israel zurückzukehren. Aber was sind das für Verhandlungen, die seit 20 Jahren zu keinem Ergebnis geführt haben, weil sie unter einer immensen Asymmetrie an Macht und Gewaltpotential stattfinden? Was sind das für Verhandlungen, die nach Belieben von Israel verschleppt oder durch militärische Aktionen, gezielte Tötungen usw. unterbrochen und konterkariert wurden?

Unter solchen Bedingungen kann nur eine Internationalisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts helfen. Die Gründung des israelischen Staates erfolgte vor 64 Jahren durch Beschluss der Vereinten Nationen. Mit welchem Recht, frage ich, soll Gleiches den Palästinensern verweigert werden? Bis zur wirklichen Gründung eines souveränen Palästinenserstaates sind noch viele Widerstände und Hindernisse zu überwinden – und sie sind nicht nur auf Seiten Israels und des Westens, sondern auch im Palästinenserlager selbst zu suchen.

Ich möchte bei der Gelegenheit darauf aufmerksam machen, dass wir eine Spendensammlung für die Arbeit des Deutsch-Palästinensischen Ärzteforums durchführen. Wir rufen zu Spenden auf, um die medizinische Versorgung der vielen in den letzten Wochen verletzten Menschen im Gazastreifen zu unterstützen. Die Spendenaufrufe befinden sich auch in der Tagungsmappe. Ich möchte auch den Vorsitzenden des Deutsch-Palästinensischen Ärzteforums, Dr. Muneer Deeb, begrüßen. Er wird im anschließenden Diskussionsforum mit Norman Paech anwesend sein.

Die USA, die EU und die Bundesregierung haben in den letzten Wochen und Monaten die Drohkulisse gegenüber dem syrischen Regime ständig erhöht und damit zu einer gefährlichen Eskalation beigetragen. Hier gilt, was wir auch schon im Fall von Libyen gesagt und gefordert hatten: Die Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung eines Landes ist ausschließlich die Angelegenheit seiner Bevölkerung. Jede Einmischung von außen – auch wenn sie sich noch so „humanitär“ gibt – ist von fremden Interessen geleitet und widerspricht dem völkerrechtlichen Prinzip der „Selbstbestimmung“ und der „Souveränität“ der Staaten. Libyen darf nicht zur Blaupause für eine NATO-Intervention in Syrien werden. Damit machen wir uns keineswegs gemein mit den Machthabern in Damaskus. Ich warne nur davor, in dem syrischen Konflikt Partei zu ergreifen für eine der beiden Seiten – oder sind es noch mehr? Als Friedensbewegung wenden wir uns gegen jede Gewaltanwendung. Und als Friedensbewegung sind wir solidarisch mit den Zivilisten, den Menschen, die am meisten unter dem Bürgerkrieg zu leiden haben.

Ein neuerlicher Bürgerkrieg droht auch in der benachbarten Türkei. Die regierende AKP in Ankara verschärft ihre Repressionspolitik gegen die Kurden im eigenen Land, knebelt die Presse, verhaftet willkürlich Journalistinnen und Journalisten und führt sog. Strafaktionen in Kurdengebieten durch. Parlamentsabgeordneten wird reihenweise die Immunität, ja sogar das Mandat entzogen. Doch auch der Widerstand gegen das Gewaltregime wächst. Der Hungerstreik Tausender politischer Häftlinge in türkischen Gefängnissen hat die ungebrochene Bereitschaft der Kurden unter Beweis gestellt, sich nicht kampflos dem Diktat der Erdogan-Regierung zu unterwerfen.

Ein Abgeordneter des türkischen Parlaments hat heute den Weg zu uns gefunden. Ich begrüße Levent Tüzel, unabhängiger Kandidat des Wahlbündnisses "Freiheit, Arbeit und Demokratie"; Levent Tüzel wurde in einem Istanbuler Wahlkreis mit landesweit den meisten Stimmen direkt in die Nationalversammlung gewählt. Zugleich ist er Mitbegründer und Geschäftsführendes Mitglied im Bundesvorstand des Demokratischen Kongress der Völker. Herzlich willkommen, Herr Tüzel. Wir werden Sie vor dem Plenarvortrag um 16.15 Uhr im Hörsaal sehen und hören.

Mit Sorge sehen wir die Vorbereitungen der Türkei, der NATO und der Bundesrepublik, an der syrisch-türkischen Grenze Patriot-Raketensysteme aufzustellen. Die Stationierung von Patriots liefert aber die technische Voraussetzung zur Einrichtung einer „Flugverbotszone“ und damit einen möglichen Einstieg in eine militärische Beteiligung der NATO im Syrien-Konflikt. Das ist es, was die dortige bewaffnete Opposition will, und das ist es auch, was Erdogan will, um seinen Einfluss in der Region zu verstärken. Auch hier also: Krieg als Mittel der Politik.

Dabei wäre es so einfach, dem Sanktionsmechanismus, der Rüstungsspirale und der Gewalteskalation Einhalt zu gebieten: Man müsste nur Ernst machen mit einem allgemeinen Waffenembargo. Das heißt konkret: Sofortiger Stopp aller Waffenlieferungen in die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens; dies schließt Schützenpanzer in die Vereinigten Emirate genauso ein wie Kampfpanzer nach Saudi-Arabien oder U-Boote nach Israel.

Wir müssen aufhören, die Welt mit unseren Waffen zu beglücken. Deutschland genießt ja inzwischen den zweifelhaften Ruf, drittgrößter Waffenlieferant der Welt zu sein – hinter den USA und Russland. Dabei dürften viele Waffendeals gar nicht sein, würde sich die Bundesregierung nur an die eigenen und die EU-Exportrichtlinien halten. Danach sollen Waffenexporte unterlassen werden, wenn die Menschenrechtssituation im Empfängerland „problematisch“ ist; auch soll nicht in Spannungsgebiete geliefert werden. Die Realität sieht anders aus. Geliefert wird in über 80 Länder der Erde, viele von ihnen wahrlich keine menschenrechtlichen Musterknaben.

Als im April d.J. in den USA der russische Waffenhändler Viktor Bout wegen „illegalem Waffenhandel“ zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, lautete eine der Begründungen des Gerichts, er habe Waffen an die „grausamsten und gewalttätigsten Regime“ geliefert. Müsste man nach derselben Logik nicht auch die Verantwortlichen des deutschen Panzerdeals nach Saudi-Arabien bestrafen? „Grausam und gewalttätig“ gegen das eigene Volk ist das Regime in Riad schon lange. Ich habe nicht gehört, dass irgendein deutscher Staatsanwalt Anklage gegen die Bundesregierung, die die Waffenexporte absegnet, erhoben hat. So sind auf absehbare Zeit auch keine Haftstrafen für die staatlichen Händler des Todes zu erwarten. Schade eigentlich, denn das könnte künftig die Regierung zu mehr Zurückhaltung beim Rüstungsexport veranlassen.

Für diejenigen, die es vielleicht noch nicht wissen: Kassel ist nicht nur die Stadt der documenta und des Friedensratschlags – Kassel ist auch ein bedeutendes Rüstungszentrum. Kein deutscher Panzer, ob Schützen- oder Kampfpanzer, der nicht in Kassel zumindest teilgefertigt wird. Die Schützenpanzer – vom Fuchs bis zum Marder – bei Rheinmetall (früher Henschel) und die Leopard-Panzer bei Krauss-Maffei Wegmann. Es ist wirklich eine Schande, dass wir es – trotz einiger Anläufe – bisher nicht geschafft haben, die Rüstungsschmieden in Industriebetriebe zur Herstellung nützlicher ziviler Produkte zu konvertieren. Doch wir arbeiten daran.

Die jüngste Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union haben wir dabei nicht auf unserer Seite. Die EU hat sich spätestens mit dem Lissabon-Vertrag zu einem Militärpakt entwickelt – mit Beistands- und Aufrüstungsverpflichtung. Diese Militärunion handelt mittlerweile auch ohne UN-Resolutionen. Letztes Beispiel hierfür ist die im Frühjahr beschlossene Erweiterung des Atalanta-Mandats zur Piratenbekämpfung am Horn von Afrika. Die EU erlaubt seither ihren Kriegsschiffen die Verfolgung von Piraten (oder was man dafür hält) an Land, das heißt bis ins Innere Somalias hinein.

Die Friedensnobelpreisträgerin EU hat in den letzten Monaten sowohl in der Sanktionspolitik gegenüber Iran und Syrien als auch im europäischen Binnenverhältnis die friedens- und demokratiefeindliche „Sau raus gelassen“. Griechenland wurde jeglicher Souveränität beraubt, dessen staatliche Institutionen sind nur noch eine demokratische Fassade; die Politik wird von Brüssel aus, oder besser noch: von Deutschland und Frankreich aus bestimmt. Der neoliberale Kapitalismus setzt sich mit brachialer Gewalt über alle demokratischen Spielregeln hinweg durch und vernichtet die letzten Reste wohlfahrtsstaatlicher Sicherungen für die Menschen. Ein erschütterndes Beispiel hierfür war für mich der Selbstmord des 77-jährigen Dimitris Christoulas in Athen im Frühjar. In seinem Abschiedsbrief sprach er davon, dass er lieber ein „anständiges Ende“ nehmen wollte, „als im Müll nach Essen zu wühlen“.

Wer heute nach Beispielen für staatliche und überstaatliche Demokratie und Solidarität sucht, wird nicht in der EU fündig, wohl aber in Lateinamerika. Hier gibt es, ausgehend von Venezuela, Bolivien und Ecuador und gestützt auf die historische Leistung Kubas, erfolgversprechende Initiativen, sich dem weltweiten Diktat der Finanzmärkte und dem Griff der US-Konzerne zu widersetzen.

Ich freue mich daher sehr, den Botschafter Venezuelas, Seine Exzellenz Rodrigo Oswaldo Chaves Samudio beim Friedensratschlag begrüßen zu dürfen.
Bienvenido a la Universidad de Kassel – Bienvenido al Movimiento por la Paz!


Fragen wir am Ende: Wofür das alles? Was haben EU, NATO, der „Westen“, die „reichen Länder“ und die Bundesregierung vor? Warum Aufrüstung und Interventionen? Warum Krieg als Mittel der Politik?

Nun, ausschließen dürfen wir getrost, dass es den Regierenden um Menschenrechte, Demokratie oder die Verbreitung von Wohlstand in der Welt geht. Dazu braucht man keine Armeen, dazu braucht man keine Militärinterventionen, keine Aufrüstungsprogramme und Waffenexporte. Deutschland und der EU geht es vielmehr darum, sich für die kommenden Auseinandersetzungen im weltweiten Konkurrenzkampf zu wappnen. Hier geht es um
  • den Zugang zu fossilen Energiereserven und anderen Rohstoffen,
  • die Positionierung im globalen Kampf um Märkte und Profite,
  • die militärische Absicherung der „Wohlstandsinseln“ (die selbst immer tiefer gespalten werden zwischen Reichen und Armen) gegen die Armutsbevölkerung aus der Dritten Welt („Festung Europa“), die wir mit unserer verfehlten Wirtschafts- und Handelspolitik zu ewiger Armut verdammt haben.
Um diese Gewaltpolitik durchzusetzen, muss sie der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden. Feindbilder müssen her! Nachdem der Gegner nicht mehr der Osten, der Warschauer Pakt, ist – der hat sich vor 20 Jahren aus der Geschichte verabschiedet, sind es nun die Staaten und Regime, die sich weigern, die Quellen ihres Reichtums bedingungslos dem Westen zur Verfügung zu stellen. Der „islamistische“ Terrorismus und die unbotmäßigen Regime des öl- und erdgasreichen „Krisenbogens“ (von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Zentralasien) eignen sich hervorragend für die neuen Feindbildprojektionen der alten und neuen europäischen Kolonialmächte.

Im Grunde genommen ist damit das große Spektrum an Themen umrissen, die heute und morgen diesen Kongress bestimmen werden.

Und lasst mich ein persönliches Wort hinzufügen. Für mich ist es diesmal eine ganz besondere Freude, den Friedensratschlag eröffnen zu dürfen und euch hier in meinem Wohnzimmer zu begrüßen. Ich freue mich sehr, dass ihr alle gekommen seid. Der 19. Friedenspolitische Ratschlag ist kann damit beginnen.

* Dr. Peter Strutynski, Kassel, Politikwissenschaftler und Friedensforscher, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; Website: www.ag-friedensforschung.de
Eröffnungsbeitrag zum Friedenspolitischen Ratschlag 1/2. Dezember an der Uni Kassel. Nach dem unkorrigierten Manuskript.



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