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"Ein lebendiger Austausch zwischen wissenschaftlicher Expertise und Friedensbewegung"

Wieder fand der "Friedenspolitische Ratschlag" an der Uni Kassel ein großes Publikum. Ein Tagungsbericht

Von Peter Strutynski *

Unter dem Motto "Umbruch: Die Politik in die eigenen Hände nehmen" fand am 26./27. November der 18. Friedenspolitische Ratschlag in Kassel statt. Veranstalter war die an der Universität Kassel ansässige AG Friedensforschung, die dabei von der durch den Bundesausschuss Friedensratschlag vertretenen Friedensbewegung unterstützt wurde.

Die "Friedenspolitischen Ratschläge" werden seit 1994 jährlich in Kassel veranstaltet und stellen das wichtigste und größte gemeinsame Forum friedenswissenschaftlicher Analyse und friedenspolitischer Praxis dar. Angesichts der Tatsache, dass sich die Friedensbewegung nicht gerade in einem Bewegungshoch befindet und außerdem ein Wochenende darauf zur Afghanistandemo nach Bonn mobilisiert, war der Ratschlag mit über 250 Teilnehmer/innen aus dem In- und benachbarten Ausland war der erstaunlich gut besucht. Ein Beweis für die allgemein anerkannte Qualität der Ratschläge. Zwei Tage lang wurde über die Kriege und Konflikte in der Welt, über die Entwicklung der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts, über zwischen- und innerstaatliche Gewaltprozesse sowie über Möglichkeiten und Formen nicht-militärischer, ziviler Prävention und Konfliktbearbeitung diskutiert. Dazu gab es vier Plenarveranstaltungen und 26 Workshops und Diskussionsforen.

Der Kongress befasste sich schwerpunktmäßig mit sieben aktuellen und brisanten Themenbereichen:

(1) Da ging es einmal um eine Analyse und Bewertung des "arabischen Frühlings", der von der kritischen Friedensforschung und der Friedensbewegung freudig als Chance begrüßt wurde, die Jahrzehnte dauernde Bevormundung und Unterdrückung der Bevölkerung abzuschütteln sowie die Souveränität der Völker im Sinne der UN-Charta herzustellen. Der Ausgang dieses sozialen und politischen Prozesses ist offen. Ebenso offen ist, inwieweit es gelingt, äußeren Einwirkungsversuchen erfolgreich zu widerstehen. Prof. Dr. Werner Ruf konzentrierte sich dabei auf die widersprüchlichen Entwicklungen in Tunesien und Ägypten, während Joachim Guilliard in einem Workshop den Blick auf den Irak und Iran richtete. Weder könne im Irak von einem wirklichen Ende des Krieges die Rede sein, noch sei ein Krieg gegen den Iran ausgeschlossen.

(2) Die Entwicklung in Libyen verdiente die besondere Aufmerksamkeit des "Friedensratschlags". Im Plenum sowie in drei Workshops beschäftigten sich Daniela Dahn, Karin Leukefeld, Dr. Erhard Crome und Dr. Alexander Neu mit dieser jüngsten Aggression der NATO. Ein in mancher Beziehung problematisches Mandat des UN-Sicherheitsrats und ein sieben Monate dauernder Bomben- und Raketenkrieg der NATO haben ein aus westlicher Sicht unbotmäßiges Regime beseitigt und - sozusagen als Kollateralschaden - Zehntausende Menschen getötet und die Infrastruktur des Landes erheblich zerstört. Wenn das Schule macht, ist das Völkerrecht mit seinem strikten Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen aufs schwerste beschädigt; der "gerechte Krieg" scheint wieder führbar geworden zu sein. Zugleich ist Libyen ein Lehrbeispiel für die "double standards" in den internationalen Beziehungen: während hier die NATO eingreift um angeblich "Zivilpersonen zu schützen" (das allein war der Auftrag der UN-Resolution), schweigt sie zur blutigen Unterdrückung der Protestbewegung in Bahrain und im Jemen und wird erst wieder munter im Fall Syriens. Von der NATO bis zu den Vereinten Nationen - die sich immer öfter für imperialistische Ziele einspannen lässt - gehört alles auf den Prüfstand.

(3) Im Schatten des "arabischen Frühlings" tritt der israelisch-palästinensische Konflikt weiter auf der Stelle - zum Schaden vor allem der Palästinenser. Deren verzweifelter Versuch, wenigstens vor der UNO die ihnen gebührende Anerkennung zu erhalten, scheitert am Veto der USA und an der einseitigen Bindung weiterer westlicher Mächte (auch Deutschlands) an die Interessen der israelischen Regierung. Die Katastrophe in diesem Kernkonflikt des Nahen Ostens hat einen Namen: Besatzung und Verweigerung der Staatlichkeit Palästinas. Doch auch die Rolle der Türkei und die Behandlung der Kurdenfrage spielen eine wichtige Rolle in der Region. Während Prof. Dr. Norman Paech in einem Gastvortrag im großen Hörsaal bedrückende Fakten und Sachverhalte über die ungesetzliche, aber von der israelischen Justiz gedeckte Behandlung der Palästinenser (Razzien, Landnahme, Freiheitsentzug, Folter) sprach und ein Ende der Besetzung des Westjordanlandes forderte, schilderte Matthias Jochheim das trostlose (Über-)Leben der Menschen im abgeriegelten Gazastreifen, den er vor kurzem besuchen konnte. Murat Cakir von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Soziologe Baki Gül (Brüssel) referierten über die Bedeutung der Türkei für die imperialen Mächte, insbesondere Deutschland und die EU, sowie über die neuerliche Repressionswelle des türkischen Staates gegen die Kurden.

(4) Der Afghanistan-Krieg spielte auch auf diesem Friedensratschlag wieder eine große Rolle: Es ist der zentrale Konflikt um die Herrschaft des Westens in Zentralasien und zudem das herausragende Beispiel für die Untauglichkeit militärischer Mittel zur Befriedung oder Entwicklung eines Landes. Eine Woche vor der internationalen Konferenz in Bonn (10 Jahre Petersberg), auf der sich die Krieg führenden Staaten bescheinigen, dass sie auf dem richtigen Weg sind, wurde in Kassel eine kritische Bilanz des zehnjährigen Krieges gezogen. In einem neuen Dokumentarfilm von Frieder Wagner (Autor des Films "Deadly Dust") wurde die verheerende Langzeitwirkung der von der Kriegsallianz eingesetzten Uran-Munition analysiert. Die Workshop-Teilnehmer/innen verabredeten sich spontan zu weiteren Aktivitäten, um dieses Thema in der Friedensbewegung besser zu verankern. Kirsten Janssen, Berlin, ermöglichte in einem Workshop einen kritischen Blick auf die Unzulänglichkeiten des parlamentarischen Kundus-Untersuchungsausschusses und berichtete über die dazu vorliegenden Sondervoten. Zu einem Höhepunkt gestaltete sich die Rede der aus Afghanistan angereisten Kriegsgegnerin und Bürgerrechtlerin Malalai Joya. Ihre Bilanz des zehnjährigen Krieges fiel vernichtend aus: Weder habe sich an der Lage der Bevölkerung etwas verbessert - alles sei vielmehr schlimmer geworden - noch werde das Land künftig zur Ruhe kommen, solange nicht die ausländischen Truppen vollständig abgezogen würden. Das Karzai-Regime ist in ihren Augen eine von Korruption und Drogenwirtschaft beherrschte Clique, die über keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung verfügt.

(5) Friedensforschung und Friedensbewegung interessiert natürlich auch der Blick nach Innen. Wozu wird die Bundeswehr gebraucht? Welche Rolle spielen deutsche Waffen und deren Export in alle Welt? Welche Anstrengungen werden unternommen, Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten) für militärische Zwecke in Dienst zu nehmen? Antworten darauf gaben Michael Schulze von Glaßer ("Bundeswehr in Schulen") sowie Dietrich Schulze und Peter Förster ("Mit Zivilklauseln gegen Militärforschung an den Universitäten"). Der Militärexperte Lühr Henken wies in seinem Workshop (("Die Neuausrichtung der Bundeswehr") darauf hin, dass entgegen der landläufigen meinung, dass die Bundeswehr sparen müsse, die gesamten Rüstungsausgaben im nächsten Jahr real um 5 % steigen würden und dass der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee planmäßig voran getrieben würde. In der Diskussion haben einige IG-Metall-Mitglieder aus Rüstungsfirmen spontan eine bundesweite Arbeitsgruppe "Konversion" gebildet. Auch das ein willkomener Nebeneffekt der Kasseler "Ratschläge": Man trifft und vernetzt sich.

(6) Der jüngst bekannt gewordene Skandal über das offenkundige Versagen des "Verfassungsschutzes" bei der Abwehr rechter, neonazistischer Gewalt sollte Anlass sein, über zivilgesellschaftliche Strategien antifaschistischen Engagements zu diskutieren. Über Probleme und Erfolgsbedingungen antifaschistischer Bewegungen am Beispiel der Aktionen "Dresden nazifrei" referierten Ringo Bischoff (Bundesjungendsekretär von ver.di) und eine weitere Expertin aus Berlin. Die Teilnehmer/innen an dem Workshop dankten es ihnen mit zahlreichen ergänzenden Diskussionsbeiträgen über weitere Aktionen in anderen Regionen. Da sich die Nazis deutschland- und europaweit auf Dresden konzentrieren, bleibe dies auch der Schwerpunkt antifaschistischer Mobilisierung - im nächsten Jahr zum 18. Februar. Der Blick nach "Innen" wäre unvollständig, wenn nicht auch die europäische Schuldenkrise und der wenig demokratische Umgang mit bestimmten Ländern der EU thematisiert würden. Die Wirtschafts- und Finanzexperten Dr. Andreas Wehr und Lucas Zeise boten hierzu gut besuchte Workshops an, die belegten, dass die Friedensbewegung einen großen Bedarf an Expertise und materialistischer Analyse der ökonomischen Krise hat. Der Verleger Hannes Hofbauer aus Wien konnte sich ebenfalls über gute Resonanz auf seine Thesen zum "Ende der Meinungsfreiheit in der EU" freuen. Jedenfalls fand sein gerade erschienenes Buch "Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung" reißenden Absatz.

(7) Immer geht es bei den "Friedenspolitischen Ratschlägen" auch um Alternativen und andere Sichtweisen. Diese betreffen welt- und entwicklungspolitische Modelle jenseits des real existierenden Welt-Kapitalismus sowie Widerstands- und Protestformen der Gewaltfreiheit. Alternative Entwicklungsmodelle in Lateinamerika kommen hier genauso in den Blick wie der asiatische Raum, die junge "Occupy"-Bewegung genauso wie die "klassischen" sozialen Bewegungen. In verschiedenen Workshops und im Plenum referierten und diskutierten hierzu Achim Wahl (Lateinamerika), Kai Ehlers (Asien), Bernhard Nolz (PädagogInnen für den Frieden), Christoph Marischka und Tobias Pflüger (IMI e.V.), Christian Koch (AG Friedensforschung) und Christine Buchholz. Stefan Lindner (Attac), Matthias Jochheim (IPPNW), Heike Hänsel (MdB Die Linke) und Helga Schwitzer (geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG-Metall unterhielten sich in der abschließenden Podiumsdiskussion über die "alten" und "neuen" sozialen Bewegungen und wie sie sich zu je besonderen Anlässen zu "Mosaikbündnissen" (Schwitzer) zusammentun sollten.

Die Organisatoren des "Friedensratschlags", Dr. Peter Strutynski und Prof. Dr. Werner Ruf (beide von der AG Friedensforschung) werteten den diesjährigen "Ratschlag" als einen großen Erfolg. Wieder sei es eindrucksvoll gelungen, wissenschaftliche Expertise und Friedensbewegung zu einem lebendigen Austausch an die Kasseler Uni zu bringen. Leider sei es nicht einfach, Studierende in größerer Anzahl für solche Tagungen zu interessieren. Sie hätten an diesem Wochenende mehr lernen können als in einem Seminar während des ganzen Semesters.

* Peter Strutynski, AG Friedensforschung, Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


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