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Afghanistan-Krieg im neunten Jahr: Welche Chancen auf Frieden gibt es am Hindukusch?

Von Lühr Henken *

Welche Chancen auf Frieden gibt es am Hindukusch? Zunächst einmal gar keine. Denn US-Präsident Obamas Marschbefehl für 30.000 weitere US-Soldaten, darunter eine Menge Kampftruppen, sollen den Krieg in Afghanistan eskalieren. Die FAZ schrieb am 3.12.09 zutreffend: Präsident Obama will „in einer anderthalb Jahre dauernden Schlacht die Entscheidung erzwingen. Mit dieser politischen, militärischen und finanziellen Kraftanstrengung sollen die Aufständischen zurück gedrängt und für die in der Zwischenzeit aufzubauenden Streitkräfte beherrschbar gemacht werden.“ Obama verdreifacht die Zahl der US-Truppen seit Beginn seiner Amtszeit von 32.000 (vgl. Obamas Rede in West-Point sowie NZZ 3.12.09 unter Rückgriff auf eine Grafik der Brookings Institution) auf 98.000 im Juni 2010. Hinzu kommen 7.000 bis 10.000 Soldaten aus anderen NATO-Ländern. Im Ergebnis führt das zu noch mehr Leid, Blut und Opfern in Afghanistan. Ob die US-Regierung das gewünschte Ergebnis erreichen wird, werden wir untersuchen. Bereits ab Juli 2011 soll mit dem Abzug von Truppen begonnen werden. Ob es wirklich dann dazu kommt oder erst später soll aber erst im Dezember 2010 entschieden werden. (Zeit online, 3.12.09) „Abhängig von den Bedingungen vor Ort werde dann 'eine Hand voll' Truppen abgezogen“ (HB, 8.12.09), so US-Kriegsminister Gates gegenüber NBC. Obama hatte nur den Beginn des Abzugs genannt, über die Geschwindigkeit und das Ende sagte er nichts. Aber er sagte: „Ich hätte gern, dass das afghanische Volk versteht: Amerika möchte dieser Zeit von Krieg und Leid ein Ende setzen. Wir haben kein Interesse, ihr Land besetzt zu halten.“ (www.apa.at, 2.12.09) Es klingt nach gar keinem Eigeninteresse am Land und an der Region am Hindukusch. Auch das werden wir untersuchen. Obama gab noch einmal die Begründung für den Krieg: „Unser umfassendes Ziel bleibt das gleiche: Al-Kaida in Afghanistan und Pakistan zu zerstören, auseinanderzunehmen und zu besiegen, und seine Fähigkeit zu unterdrücken, Amerika oder unsere Verbündeten in Zukunft zu bedrohen.“ (www.apa.at, 2.12.09)

Dieses Ziel wird seit Beginn des Afghanistankrieges Ende 2001 genannt. Mit einem ständigen Mehr an Truppen und das Überziehen des pakistanischen Westens mit Krieg ist man diesem Ziel kein Stück näher gekommen. Schafft es Obama mit einer Truppenerhöhung? Auch das werden wir erörtern.

Der Bundestag hat am 3. Dezember einer Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan für ein weiteres Jahr zugestimmt. Die Obergrenze wurde zunächst bei 4.500 Soldaten belassen. Von Erhöhungen um 2000 bis 2500 Soldaten ist aber schon die Rede. Nach dem Kundus-Desaster spielt man auf Regierungsseite erst einmal auf Zeit und versteckt sich hinter der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2010, die kurz nach dem Bombardement der Tanklaster von Merkel, Brown und Sarkozy aus dem Hut gezaubert wurde.

Eins ist jedoch schon heute sicher, die „einsatzbedingten Zusatzkosten“ des Afghanistan-Abenteuers steigen schon mal drastisch, nämlich um monatlich durchschnittlich 40 Prozent. (Von 688 Millionen für 14 Monate auf 820,7 Millionen Euro für 12 Monate).

Bevor wir die oben aufgeworfenen Zukunftsfragen behandeln, werfen wir einen Blick zurück auf das Kriegsgeschehen in Afghanistan.

Kurze Geschichte des NATO-Krieges in Afghanistan

Die Truppenerhöhungen von ISAF um das 16fache (von 5000 im Jahr 2003 auf 83.500, FAZ 5.12.09) haben zu keiner Wende des Krieges im NATO-Sinne geführt. Die letzte markante Truppenerhöhung in dieser Rechnung war Obamas erste Amtshandlung überhaupt bezüglich Afghanistan gewesen: Der Marschbefehl für 21.000 Soldaten im März 2009.

Das Ergebnis davon war indirekt in der Neuen Zürcher Zeitung Anfang August abzulesen: „Nur ein Drittel Afghanistans befindet sich momentan (noch, L.H.) unter der Kontrolle der Regierung.“ (NZZ 4.8.2009)

Bereits diese erste Truppenverstärkung Obamas scheint den Kampfgeist des militärischen Widerstand ganz besonders geweckt zu haben. Denn die Zahl seiner Anschläge hat sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Im August erreichten sie mit durchschnittlich 100 am Tag den höchsten Wert. Übrigens damit liegen sie vier Mal so hoch wie im Irak. Der militärische Widerstand gegen die Besatzung war nie stärker als zur Zeit. Neue Zahlen des US-Kongresses (Government Accountability Office, GAO, 5.11.09) belegen, dass 58 Prozent der Anschläge gegen die ISAF und 13 Prozent gegen die afghanische Armee gerichtet sind. Damit ist belegt, dass sich der Widerstand gegen die militärische Besatzung richtet. Das heißt, würden die Besatzer abziehen, würden diese Kriegshandlungen aufhören und es bestünde eine Chance auf Frieden.

Die Ausweitung der Anschläge hat eine erhöhte Opferzahl unter den Besatzungssoldaten zur Folge: Zwei markante Beispiele: Die Zahl der Verwundeten und Verstümmelten US-Soldaten im Vierteljahr von August bis Oktober 2009 beträgt ein Viertel aller, die in dem Krieg seit 2001 verwundet wurden. (NZZ online, 31.10.09) Die 102 getöteten britischen Soldaten in diesem Jahr machen über 40 Prozent aller getöteten Briten seit 2001 aus. (Icasualties.org, Stand 16.12.09) Die vielen Toten hat die Volksmeinung in Großbritannien gekippt. „Drei Viertel sind für einen Abzug binnen Jahresfrist.“ (Spiegel online.de, 6.11.09). Infratest-dimap ermittelte am 4.12.09 für die Tagesschau, dass 69 Prozent der Deutschen für einen „möglichst schnellen Abzug“ sind. Ein Plus von 12 Prozentpunkten gegenüber der Umfrage im September. Auch in den USA schwenkte die öffentliche Meinung auf Abzug um.

An Abzug dachte man in der US-Regierung und beim Militär über das Jahr jedoch nicht.

Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs der USA, Michael Mullen, sagte Mitte des Jahres: „Wir müssen in den kommenden zwölf bis 18 Monaten die Wende in Afghanistan erreichen. Andernfalls schaffen wir es womöglich gar nicht.“ (FAZ 29.6.09) Demnach soll alos ganz konkret die Wende bis spätestens Ende 2010 erreicht sein. Der Grund sind Zwischenwahlen des US-Kongresses im November 2010. Bis dahin muss sich in den Kriegsverlauf die Aussicht auf ein erfolgreiches Ende hineininterpretieren lassen. Genau auf dieses Datum zielt die schnelle Dislozierung der 30.000 Mann, die schon im Juni 2010 abgeschlossen sein soll. Und den Abzugsbeginn auf Juli 2011 zu legen, zielt auf den Beginn der Kampagne zur Wiederwahl Obamas im November 2012.

Folglich ging der neue ISAF-Kommandeur McChrystal mit seiner Forderung nach mehr Truppen, von bis zu 40.000 war die Rede, Ende August an die Öffentlichkeit. Bekäme er diese Truppen nicht, sei mit einer Niederlage in Afghanistan zu rechnen.

Da in Umfragen 70 Prozent der US-Demokraten sich gegen eine Truppenerhöhung aussprachen und 56 Prozent der US-Bürger insgesamt, musste sich der Präsident etwas einfallen lassen, wie er den Spagat zwischen den öffentlichen Vorgaben des Militärs und der ablehnenden Mehrheitsmeinung hin bekommt. Die Schlüsselwörter dafür lauten seitdem Abzug und Zeitplan. Die Bundesregierung hat sich die wohl klingende Formel „Übergabe in Verantwortung“ einfallen lassen. Was ist da dran?

Aufstandsbekämpfung – Afghanisierung des Krieges

Ausgangspunkt der militärischen Überlegungen ist das Feldhandbuch der US-Armee zur Aufstandsbekämpfung (FM 3-24 Counterinsurgency). Das stellt schlicht und ergreifend fest, dass zur Niederschlagung eines Aufstands pro 1000 Einwohner 20 bis 25 Sicherheitskräfte nötig sind. Auf Afghanistan umgesetzt, schrieb die FAZ, würden „570.000 bis eher 710.000 Sicherheitskräfte erforderlich“ (FAZ 14.10.09). Deshalb kursiert bereits seit März 2009 der Plan aus Obamas Beraterstab, in den nächsten sechs bis sieben Jahren die afghanischen Sicherheitskräfte auf 400.000 zu erhöhen. (FAZ 20.3.09) Diese Planungsvorgaben der USA machten sich Ende November die afghanischen Minister für Verteidigung und Inneres komplett zu Eigen. Nach ihren Worten soll die Armee konkret auf 240.000 Soldaten und die Polizei auf 160.000 Mann anwachsen. (zeit.de, 21.11.09) Den dafür veranschlagten Zeitraum hatte tags zuvor Präsident Karsai bekannt gegeben: „Wir sind entschlossen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte innerhalb von fünf Jahren fähig sein sollen, federführend für die Sicherheit im ganzen Land zu sorgen.“ (FAZ 20.11.09) Das heißt ganz konkret ab Ende 2014. Die deutsche Regierung setzt den Zeitpunkt sogar noch ein Jahr früher - auf Ende 2013. Außenminister Westerwelle sagte im Bundestag (am 3.12.), die Bundesregierung wolle eine Abzugsperspektive in dieser Legislaturperiode erarbeiten. Ziel sei eine selbst tragende Sicherheit in Afghanistan.

Damit werden Vorhaben in einem überschaubaren Zeitraum anvisiert, die eine Machbarkeit suggerieren. Die Frage ist nur: Geht das so? Untersuchen wir das.

Schauen wir uns die afghanischen Sicherheitskräfte an: Auf dem Papier verfügt die Afghanische Nationalarmee (ANA) Anfang Dezember über 95.500 Soldaten (FAZ u. NZZ 5.12.09), die Stärke der nationalen Polizei (ANP) beträgt demnach 93.800 Mann (FAZ u. NZZ 5.12.09). Die Zahlen beziehen sich auf Veröffentlichungen der NATO. (Facts & Figures: Afghan National Police: Zusammensetzung der ANP mit Stand vom 20.11.09 . Hierin: Uniformierte Polizei: 67.500, Grenzpolizei: 12.800, Bürger-Ordnungs-Polizei: 3210, Drogenpolizei: 2695. Widerspruch: Die Summe dieser Polizeisparten ergibt 86.205 und nicht 93.800 Polizisten) Das ist nicht der einzige Widerspruch: Gerade einmal 14 Tage vorher gab Pakistans Innenminister die ANP-Stärke mit lediglich 82.000 an (zeit.de, 21.11.09). Die Unstimmigkeiten lassen sich derzeit nicht aufklären.

Schon diese Unstimmigkeiten deuten darauf hin, dass die Zahlenangaben mit Vorsicht zu genießen sind. Untersuchen wir das näher. Zunächst

Das afghanische Militär

Die NZZ stellte im Sommer fest, man neige hier zur Schönfärberei. „Wirklich einsatzbereit“ seien „weniger als die Hälfte der Einheiten“ (NZZ 24.7.2009). Konkret: 46 von 86 Kandaks (Bataillon von 600 Mann) sind „zu eigenständigen Operationen fähig“ (Paul, SWP-Aktuell 60, November 2009, S. 5). Das heißt: Selbst leiten kann die afghanische Armee lediglich Kampfeinsätze bis zur Kompaniestärke von 120 Mann. (Paul, S. 7).

Bis Oktober 2010 sollen 134.000 ANA-Soldaten aufgestellt sein. Das heißt man braucht bis dahin ausgehend von 95.500 noch 38.500 neue Rekruten, somit von Dezember an monatlich 3.500. Das scheint insofern realistisch, als man in den 27 Monaten zwischen Juni 2007 und Dezember 2009 die ANA um durchschnittlich 2.200 Soldaten im Monat verstärkt hat. (Von 35.000; Streitkräfte und Strategien, NDR-Info, 16.6.07, auf 95.500) Setzt man das Tempo 3500 bei der Ausbildung nach dem Oktober 2010 fort, wäre die Armeestärke von 240.000 Soldaten tatsächlich bis Ende 2013 erreichbar. Soweit die Papierform. Übrigens dieser Zeitplan, so ehrgeizig er klingt, liegt um schon zwei Jahre hinter den Erwartungen zurück, die der US-Kommandeur McNeill im Mai 2008 äußerte. Er sagte damals, „dass die einheimischen Sicherheitskräfte (schon, L.H.) im Jahr 2011 so weit seien, um die Verantwortung für den 'Großteil des Schlachtfeldes' zu übernehmen.“ (FAZ 30.5.08) Soviel zu Planungen beim Militär. Es dauert meist länger wie angegeben.

Die ANA dient vor allem als Kanonenfutter. Nach Aussagen des NATO-Generals Egon Ramms, Kommandeur des „Allied Joint Force Command“ im niederländischen Brunssum, und Vorgesetzter des ISAF-Kommandeurs McChrystal, werden „monatlich 3000 neue Rekruten ausgebildet, um die Verluste von rund 1000 Soldaten (Gefallene und Deserteure) im selben Zeitraum auszugleichen“ (rp-online.de, 6.11.09). Da bei Kampfverbänden die Rate der Deserteure 2009 bei neun Prozent liegt (Paul, S. 5), muss die Todesrate entsprechend hoch sein. Die Probleme seien groß, so Ramms. 15 Prozent aller afghanischen Soldaten seien drogensüchtig. Hinzu kommt, dass schätzungsweise „30 Prozent der Rekruten nicht richtig lesen oder schreiben können“. (Streitkräfte und Strategien, 16.6.07)

Der Druck, neue Rekruten zu finden, ist riesig. So forderte Britanniens Premier Brown Karzai auf, „pro Monat 5.000 afghanische Rekruten zu finden“. Allerdings bringt das schnelle Rekrutieren Gefahren mit sich. Denn es führt dazu, dass bei der Auswahl geschlampt wird. Folglich sei es „kaum überraschend, dass die afghanischen Sicherheitskräfte von Taliban infiltriert seien,“ schreibt Spiegel online (6.11.09). Schon heute gilt: „Die Armee wächst bestenfalls quantitativ.“ (Ruttig, SWP-Aktuell 56, Oktober 2009, S. 6). Denn noch einmal: Nur die Hälfte ist einsatzfähig.

Und noch ein Punkt, der jenseits des Fünfjahrplans liegt: Der Aufbau einer afghanischen Luftwaffe wird nicht vor Ende 2016 abgeschlossen sein. (Facts & Figures: Afghan National Army, December 2009) Übrigens vor eineinhalb Jahren behauptete der damalige ISAF-Kommandeur noch das wäre 2013 schon der Fall, also drei Jahre früher. Aber das mit der Zuverlässigkeit von Planungen beim Militär kennen wir ja schon.

Deutlich wird, das Herausbilden eines afghanischen Militärs, das selbst für die Sicherheit im Land sorgen kann, dauert zumindest länger als vier oder fünf Jahre. Die Ankündigungen sind eine Mogelpackung.

Die afghanische Polizei

Damit sieht es noch wesentlich düsterer aus. Wir haben von zwei Zahlen erfahren. (s.o.) Zum einen die Zahl 93.800 Polizisten von Anfang Dezember, die von der NATO stammt, und die Zahl 82.000 vom afghanischen Innenminister im November. Jedoch bereits die Zahl 82.000 gilt schon als geschönt. Denn noch zwei Monate zuvor stellte die FAZ fest: „Von dem Ziel, für die Afghanische Nationale Polizei (ANP) insgesamt 82.000 Mann aufzustellen, ist man weit entfernt. Nach unterschiedlichen Angaben stehen zwischen 40.000 und 60.000 Polizisten zur Verfügung. Zudem gibt es gravierende Probleme mit Korruption und Abwanderung in die besser bezahlten Privatarmeen lokaler Machthaber.“ (FAZ 10.9.2009). Diese Feststellung ist glaubwürdig. Aber nicht nur das: Die afghanische Polizei hat „jährlich 1.500 Tote zu beklagen.“ Demnach halten sich aktuell bei der Polizei „Verlust- und Rekrutierungsraten in etwa die Waage, die Personalstärke stagniert.“ (Ruttig, S. 6) Der Afghanistan-Analyst Ruttig zitiert einen Stammesführer aus Uruzgan, der die unakzeptable Rechtsauffassung der afghanischen Polizisten auf den Punkt bringt: „Früher hatten wir Diebe in der Polizei, heute haben wir trainierte Diebe.“ Sollte die NATO im Hinblick auf das Ziel, 160.000 afghanische Polizisten in fünf Jahren zur Verfügung haben zu wollen, die aktuelle Zahl hoch gejubelt haben? Wir wissen es nicht.

Wie schnell kann die ANP wachsen? Ein Blick zurück: In den 18 Monaten von Mai 2008 bis November 2009 nominell um 11.000 (von 71.000, FAZ 31.5.08, auf 82.000), somit monatlich um etwa 600. Bis zur Zielzahl 160.000 fehlen 78.000 Polizisten. Bei gleichem Aufwuchstempo würde man dafür rein rechnerisch 130 Monate benötigen. Das entspricht fast 11 Jahre. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass man derzeit lediglich von einem Bestand von 40.000 bis 60.000 ausgehen kann. Also würde die Ausbildung noch über fünf Jahre länger dauern. Auch bei einer signifikanten Aufstockung der Ausbilder ist zu berücksichtigen, dass die Ausbildungshemmnisse gewaltig sind: „70 Prozent der Rekruten in den unteren Rängen sind Analphabeten.“ (FAZ 4.8.07). Und der Zuwachs an Polizeiausbildern ist schwierig.

Wie man angesichts dieses Desasters behaupten kann, binnen fünf Jahren die Zahl der Polizisten verdrei- oder vervierfachen zu wollen, um danach mit dem Abzug Ernst zu machen, ist eine Irreführung der Öffentlichkeit. Man muss Ex-Minister Volker Rühe leider zustimmen. Im August sagte er: Wenn Jung und Struck „noch zehn Jahre in Afghanistan bleiben wollen, dann ist das ein Alptraum“. (Der Spiegel Nr. 34 vom 17.8.2009) Nun sind Struck und Jung nicht mehr in Verantwortung, aber der Alptraum ist vorprogrammiert.

Zusammengefasst:
Wir haben es also mit dem Versuch der NATO zu tun, den Willen des militärischen Widerstands in Afghanistan eines Tages zu brechen. Im günstigsten Fall sollen dies dem Westen wohl gesonnene afghanische Kräfte bewerkstelligen. Das Geschehen will die NATO jedoch unter Kontrolle halten. Analog zum Irak. Man steuert Afghanistan damit in einen endlosen Bürgerkrieg hinein. Diese „Afghanisierung des Krieges“ ist keine „Übergabe in Verantwortung“, sondern unverantwortlich.

Vergleiche tun sich noch auf: Mit Vietnam und mit dem sowjetischen Afghanistankrieg. Am Ende stand jeweils die Niederlage der Invasoren.

Die Parallelen mit dem sowjetischen Afghanistankrieg sind auffällig. Derzeit sind etwa 110.000 ausländische Soldaten unter NATO- und OEF-Befehl in Afghanistan. Bis Mitte des kommenden Jahres werden es wohl annähernd 150.000 sein. Die Sowjetunion hatte zuletzt ca. 120.000 Soldaten in Afghanistan. Auch gab es damals einen Aufwuchs der afghanischen Armee von anfangs 87.000 (1979) auf zuletzt 330.000 (1989). Dazu kamen noch Milizen von 150.000 auf der afghanischen Regierungsseite, so dass diese etwa 600.000 Soldaten und Milizen aufbrachte. Dem damaligen Krieg fielen 1 bis 1,3 Millionen Afghanen zum Opfer. Dass der NATO-Krieg, mit einer vergleichbaren Zahl von Soldaten geführt wie damals, kostspielig und blutig würde, wird verschwiegen. Und dass der Ausgang dieses Krieges sehr ungewiss ist, auch. Denn US-Studien haben ergeben, dass Aufstandsbekämpfungen nur eine Erfolgsquote von 25 Prozent haben. (Vgl. Lühr Henken, August 2009)

Die Frage bleibt, warum führen die USA diesen kostspieligen Krieg und dazu mit einem so ungewissen Ausgang? Apropos kostspielig: Zur Zeit haben sich ihre Ausgaben auf 243 Milliarden Dollar summiert. Bis Oktober 2010 kommen 100 Milliarden dazu. Und das in der Krise! Also warum der Krieg?

Geostrategie

Jürgen Todenhöfer sagt im SPIEGEL: "Al-Qaida spielt in Afghanistan keine Rolle mehr. Das sagt selbst der amerikanische Oberbefehlshaber, General Petraeus. Wer behauptet, dass wir bei einem Abzug das Land al-Qaida überlassen, erzählt Märchen. Verbrecher kehren selten in die Verstecke zurück, aus denen sie gerade vertrieben worden sind."
Der Spiegel (fragt): Wenn wir in Afghanistan keine Terroristen jagen, was suchen wir dann noch in Afghanistan?
Todenhöfer: "Wir kämpfen in Afghanistan gegen einen nationalen, antiwestlichen Aufstand. Afghanistan ist geostrategisch interessant, weil man dort Russland, Indien, Pakistan und auch China kontrollieren kann. Auch rohstoffpolitisch ist das ein fabelhafter Standort. Schließlich wollen die Amerikaner eine Erdgaspipeline durch Afghanistan bauen." (Der Spiegel 29.6.2009, S. 30) Wie recht der Mann hat. Hinzu kommt noch die Nähe zu Dreivierteln der globalen Öl- und Gasressourcen. Die ökonomischen Interessen näher zu beleuchten, lohnt sich:

Gaspipeline TAPI

1998 hatte ein vom US-Ölkonzern Unocal geführtes Konsortium mit der damaligen Taliban-Regierung einen Pipeline-Deal vereinbart. Einer der Lobbyisten von Unocal in Afghanistan war damals Hamid Karsai. Allerdings gelang es Osama bin Laden, die Taliban davon zu überzeugen, stattdessen einen lukrativeren Vertrag mit der argentinischen Ölfirma Bridas abzuschließen. Die Verärgerung Washingtons darüber war so groß, dass „George W. Bush sechs Monate vor den Anschlägen vom 11. September 2001 die Entscheidung getroffen (hat), in Afghanistan zu intervenieren und das Taliban-Regime zu stürzen.“ (jw 3.7.2008)

Offensichtlich geht es hier um sehr viel. Nämlich um Geopolitik. Warum? Die westliche Erdgas-Pipeline Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien (TAPI) ist von strategischer Bedeutung. Mit TAPI wird das Ziel verfolgt, nicht nur China vom Zugang zu den zentralasiatischen Energieressourcen auszuschließen, sondern es geht „den Amerikanern laut US-Wirtschaftsblatt Forbes […] darum, mit Hilfe der TAPI-Pipeline‚ Russlands Einfluss in der Region zu schwächen und Iran zu marginalisieren’“ (jw 3.7.2008). TAPI soll in Afghanistan über Herat und Kandahar verlegt werden, in Pakistan über Quetta verlaufen und dann nach Neu Delhi führen. Im April 2008 haben Pakistan, Indien und Afghanistan mit Turkmenistan einen Rahmenvertrag über den Kauf von Erdgas unterzeichnet. Westliche Energiekonzerne wollen eigentlich mit den Bauarbeiten 2010 beginnen und 2014 fertig sein. Sie soll 7,6 Milliarden Dollar kosten.

Gaspipeline IPI

Das TAPI-Projekt konkurriert mit einem anderen Pipeline-Projekt: IPI. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Erdgas-Pipeline nach Pakistan und Indien. Jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, das Gas soll aus dem Iran kommen. Dieses Projekt existiert seit 20 Jahren, ist also älter als TAPI. Ausgehend vom noch unerschlossenen iranischen Gasfeld South Pars im Persischen Golf, in dem 7 bis 8 Prozent der weltweiten Gasreserven lagern, soll die etwa 2500 km lange und 7,5 Milliarden Dollar teure Pipeline über Bandar Abbas durch Belutschistan verlegt werden, würde in Multan auf TAPI treffen und parallel zu TAPI verlaufen und in Neu Delhi enden. Pakistan leidet unter Energieknappheit. Pakistans Gaskonsum würde durch IPI um 20 Prozent erhöht werden, mit TAPI sogar um ein Drittel. IPI läuft den Bestrebungen der USA, Iran zu isolieren, diametral entgegen. Sanktionen gegen den Iran würden ins Leere laufen. Dem ungeachtet schlossen im Mai 2009 Pakistans Präsident Zardari und Irans Präsident Ahmedinedschad einen Vorvertrag für diese so genannte „Friedenspipeline“ ab. Indien steht zunächst abseits, eine Klausel besagt jedoch, dass es sich jederzeit beteiligen kann. Auch die IPI-Pipeline soll 2014 fertiggestellt sein. (HB, 26.5.2009) An sie kann auch China angeschlossen werden. China soll Verträge über Investitionen in den Gassektor Irans in Höhe von 100 Mrd. Dollar abgeschlossen haben. (FAZ 8.3.2006) Das IPI-Projekt wird von den USA bekämpft, denn es würde am Ende eine Achse Iran – Pakistan – Indien - China bilden.

Bau und Inbetriebnahme beider Pipeline-Projekte setzt eine weitgehende Befriedung Afghanistans und Pakistans voraus, so dass Anschläge auf die Pipeline ausgeschlossen sind. Davon ist man weit entfernt. Die USA haben das Interesse, dass Indien und Pakistan das IPI-Projekt mit dem Iran aufgeben.

Pakistan

Die US-Regierung orientiert sich zunehmend auf den Rückzugs- und Ausbildungsraum der Taliban, auf das Gebiet der Paschtunen im Westen Pakistans. Seit der Ernennung Richard Holbrookes zum US-Sondergesandten werden Afghanistan und Pakistan von der US-Regierung als einheitliches Kriegsgebiet, kurz „AfPak“, behandelt und Obama setzt verstärkt auf den Einsatz von Kampfdrohnen und des Geheimdiestes CIA in Pakistan. Holbrooke formulierte vor dem US-Kongress: „In Pakistan ‚stehen unsere existentiellen, nationalen Sicherheitsinteressen auf dem Spiel.’“ (Berliner Zeitung 12.5.09) Das ist eine gewichtige Aussage.

Der pakistanische Bürgerkrieg

Die pakistanische Armee hat den Krieg gegen Aufständische in diesem Jahr mächtig verstärkt. So geht sie im Swat-Tal, in Süd- und Nordwaziristan und in weiteren Stammesgebieten, sogar, wo es irgend möglich ist, mit schweren Waffen gegen aufständische Taliban vor. Insbesondere die Kämpfe in Süd-Waziristan, einer schluchtenreichen Hochgebirgsregion, „in der Zigtausende von Höhlen“ liegen“ (dradio.de 15.10.09), sind für die pakistanische Armee sehr verlustreich, zumal hier der Bodenkampf Mann gegen Mann erforderlich ist.

Die Opferbilanz in Pakistan ist ähnlich hoch wie in Afghanistan. 2006 wird die Zahl der Todesopfer in Folge von Kampfhandlungen mit 4000 angegeben, meist Taliban (NZZ 17.1.07), für das Jahr zwischen dem Sommer 2007 und dem Sommer 2008 belaufen sich die Schätzungen schon auf 6.000. Darunter 1000 Soldaten und 2.000 Zivilpersonen (FAZ 26.9.08). Die Verluste der pakistanischen Armee sind hoch, was den Kampfgeist schmälert.

Belutschistan ist für Pakistan von großer Bedeutung. Hier lagern reiche Bodenschätze und etwa die Hälfte des pakistanischen Erdgases kommt aus Ostbelutschistan um die Stadt Sui. Und auch genau hierdurch soll die Pipeline IPI aus Iran eines Tages verlaufen. Hier hatte der „Tiger von Belutschistan“ Bugti seine Residenz. (Der Spiegel 8.5.06) Bugti führte einen Stamm mit 200.000 Mitgliedern. 5000 von ihnen gingen zum bewaffneten Kampf gegen die Armee über und sprengten Pipelines, denn die Regierung war nicht auf ihre Forderungen eingegangen, der Region einen Anteil an den Erträgen aus den reichen Bodenschätzen zukommen zu lassen. Im August 2006 wurde Bugti mittels Raketenangriff in seinem Höhlenversteck von der Armee umgebracht. (NZZ 29.6.06). Das Problem ist nicht gelöst. Will sagen, um die IPI zu verhindern, ist es ein Leichtes den Konflikt um Sui zu schüren.

Aber auch der TAPI-Verlauf durch Quetta ist alles andere als sicher. Denn dort liegt die Kommandozentrale der aus Afghanistan geflüchteten Taliban. Quetta, die Hauptstadt Belutschistans, blieb bisher von der pakistanischen Armee unangetastet.

Das soll sich nach US-Vorstellungen ändern. Dazu hat der US-Kongress ein Knebelgesetz verabschiedet. Das Kerry-Lugar-Gesetz sieht vor, dass Pakistan die Militärhilfe in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar (FAZ 24.10.09) gestrichen wird, wenn die Regierung nicht ihre „Antiterrormaßnahmen“ auf das ganze Land ausdehnt. „Namentlich genannt werden im US-Gesetz die Städte Quetta und Muridke.“ (jw 12.10.09) Muridke liegt im Punjab. Dort liegt das Hauptquartier der militanten Gruppe Laschkar-e-Toiba, der US-Kriegsminister Gates enge Kontakte zu Al-Kaida nachsagt. Der Betrag 1,6 Milliarden Dollar stellt ein Drittel der pakistanischen Militärausgaben dar. (Seit 2001 erhielt Pakistan 7,6 Mrd. Dollar US-Militärhilfe, FAZ 24.10.09, d.h. 950 Mio. p.a.. Das Militärbudget Pakistans betrug 2008 laut Military Balance 3,46 Mrd. Dollar). Darauf kann Pakistan, das am Rande der Zahlungsunfähigkeit dümpelt, kaum verzichten. Wenn Pakistan dem US-Druck folgen würde, welche Aussicht auf Erfolg hat ein militärisches Vorgehen gegen die militanten Islamisten in Pakistan?

Wie sind die militärischen Kräfteverhältnisse in Nordwestpakistan? Der Neuen Zürcher Zeitung war im April zu entnehmen, dass „laut einem vertraulichen Regierungsbericht (Pakistans) die verschiedenen islamistischen Extremistengruppen, die im Nordwesten Pakistans aktiv sind, heute über 60.000 bis 90.000 bewaffnete Kämpfer verfügen.“ (NZZ 30.4.09). Kann die pakistanische Armee diese besiegen?

Die Antwort ist: vorerst nein. Das hat vor allem zwei Gründe: Die Taliban sind Produkt des pakistanischen Geheimdienstes ISI, der die Koranschüler in den 80er Jahren mit CIA-Hilfe zu antisowjetischen Kämpfern in Afghanistan aufgebaut und später gegen Indien in Kaschmir eingesetzt hat. Es besteht somit eine Hemmung gegen die Taliban vorzugehen. Zweitens stehen vier Fünftel der 550.000 Mann zählenden pakistanischen Armee an der Grenze zu Indien, dem Erzfeind, und nur ein Fünftel im Westen, mithin etwa 110.000 Soldaten. Und daran wird sich solange nichts ändern, wie sich das Verhältnis der beiden Erzfeinde nicht entspannt. Also 110.000 pakistanische Soldaten können 60.000, geschweige 90.000 Taliban nicht besiegen.

Was wird weiter geschehen? Der Krieg in Pakistan wird sich in der Fläche ausweiten und an Intensität zunehmen. Folglich wird es zu Flüchtlingsströmen kommen. Auch US-Drohnenangriffe werden zunehmen. Sie stoßen in Pakistans Bevölkerung auf große Ablehnung. (Laut Gallup-Umfrage lehnen 67 Prozent der Pakistaner sie ab, lediglich 9 Prozent befürworten sie, NZZ 7.12.09) Die dadurch verursachten zivilen Todesopfer erhöhen den Hass gegen die USA. Terroristische Gegenreaktionen der Taliban in Ballungszentren mit zum Teil verheerenden Bombenanschlägen verunsichern weiter. Das Land wird zunehmend destabilisiert.

Ein Abhilfeangebot kommt aus der NATO. Kein geringer als Egon Ramms, „forderte [...] den Einsatz der NATO-Truppen ISAF von Afghanistan auf Pakistan auszuweiten.“ (HA 12.5.09) Das Massenblatt BILD machte schon die entsprechende Stimmung: „Taliban wollen Atombombe erobern“, so die Überschrift. Und im Text: „Diese Waffen in der Hand von verrückten Mullahs – das ist DIE Horrorvision des Westens!“ (15.5.09) Auch Obama malte in West-Point dieses Schreckensszenario an die Wand.

Dabei sind die Atomsprengköpfe Pakistans sicher gelagert. Unbefugte können sie nicht zünden. Sprengköpfe und Zünder werden getrennt aufbewahrt. Eine Fehleingabe der langen Zahlenreihe führt zur sofortigen Sperre. Den Zahlencode hat Ministerpräsident Gilani. Dieser sagte dem Spiegel Ende November: „Ich garantiere Ihnen, ich garantiere unserem Volk und ich garantiere der Welt, dass unsere gesamte Kommandostruktur in den zuverlässigsten Händen liegt. Sie ist absolut sicher. Die USA sehen das übrigens genau so.“ (Der Spiegel 49/2009, 30.11.09).

Der Druck der USA auf Pakistan wird dort Gewalt und Chaos steigern, so dass die wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage Pakistans sich weiter verschlechtert. Damit erscheint es nicht mehr ausgeschlossen, dass die USA mit Kampftruppen nach Pakistan vordringen werden, später wohl möglich auch die NATO.

Wir werden es also insgesamt mit einer erheblichen Ausweitung des Krieges zu tun bekommen. Die USA operieren bereits mit Special Forces in Pakistan. Das für die USA leitende Motiv: Letztlich den „Allwetterfreund“ China als wichtigsten Verbündeten Pakistans zurückzudrängen und selbst an dessen Stelle zu treten.

Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan

Zurzeit stehen 4280 Bundeswehrsoldaten unter ISAF-Kommando (Stand 9.12.09), 1000 davon sind in Kundus stationiert. Im Januar 2010 kommt eine Infanteriekompanie hinzu, so dass dann neun Schützenpanzer Marder zur Verfügung stehen. Landesweit setzt die Bundeswehr sechs Tornado-Flugzeuge zur Bodenaufklärung in Echtzeit ein. Sie stellt nach den USA und Großbritannien das dritt größte Kontingent. Durch die Nordregion werden zunehmend die Versorgungstransporte der ISAF auf dem Landweg über Usbekistan nach Afghanistan geleitet, so dass die strategische Bedeutung der Region rapide zunehmen wird.

Die militärische Lage der Bundeswehr am Hindukusch hat sich seit Mitte des Jahres grundlegend gewandelt, denn die Angriffe auf Bundeswehr-Patrouillen im Raum Kundus haben stark zugenommen. Insgesamt wurden 70 Anschläge gezählt. Der militärische Widerstand gegen die Besatzung geht nicht mehr nach der Taktik „hit and run“ vor, sondern legt es darauf an, Bundeswehreinheiten durch Anschläge mit Sprengfallen oder Schusswaffen zu stellen und sie in Gefechte zu verwickeln. Das muss als eine neue Qualität gewertet werden.

Die Bundeswehr geht dabei zum Angriff über. Bereits im Juli griffen 900 afghanische und 300 Bundeswehrsoldaten Taliban bei Kundus an. Die Bundeswehr führt Krieg am Hindukusch. Und dass auch unter Einsatz der Schützenpanzer.

Die veränderte Kampfsituation hat eine Anpassung der Einsatzregeln für die Soldaten – die so genannte Taschenkarte – zur Folge. „Schneller schießen“ titelte die Süddeutsche Zeitung trefflich. (SZ 28.7.09) „Kernpunkt ist die Erlaubnis, Angriffe nicht nur abwehren zu dürfen, sondern erkennbar beabsichtigten Attacken schon im Vorfeld zu begegnen“, so die Süddeutsche. Wörtlich heißt es in der Taschenkarte: „Angriffe können zum Beispiel dadurch verhindert werden, dass gegen Personen vorgegangen wird, die Angriffe planen, vorbereiten, unterstützen oder ein sonstiges feindseliges Verhalten zeigen.“ Diese Erlaubnis, präventiv gegen mutmaßliche Angreifer vorzugehen, ist die Weichenstellung für den von den USA geforderten Offensiveinsatz.

Das bisher gröbste Beispiel für die Anwendung vermeintlich präventiver Gewalt lieferte die Bundeswehr in der Nacht auf den 4. September. Zwei von Taliban zuvor entführte Tank-Laster, von denen dem Kommandeur bekannt war, dass sie seit dreieinhalb Stunden auf einer Sandbank im Kundusfluss feststeckten, wurden von US-Flugzeugen bombardiert. Die Anordnung des deutschen Oberst führte zur „tödlichsten Militäroperation Deutschlands seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“, wie der britische Guardian schrieb (Spiegel online, 6.11.09). Der deutsch-afghanische Anwalt Popal, der Prozessbeauftragter für 78 afghanische Familien ist, ermittelte bis zu 139 Getötete, darunter 36 Kleinkinder. 20 Menschen gelten noch als vermisst. Er fordert Schadensersatz von der Bundesregierung. Lediglich fünf der Getöteten seien demnach Taliban. Als Begründung für das Massaker führte Staatsekretär Kossendey am 4.9. an, es habe „höchste Gefahr im Verzug“ bestanden, die Laster hätten als „rollende Bomben“ für einen Anschlag auf das ca. zwölf Kilometer entfernte deutsche Feldlager dienen können. (Der Spiegel, 14.9.09) Aber, selbst wenn die Laster wieder hätten flottgemacht werden können, wäre ein Blitzangriff mit ihnen nicht möglich. Denn das deutsche Lager liegt auf einem Hochplateau und das ist wegen des Anstiegs für Laster schwer zugänglich. (Spiegel online.de, 1.12.09) Zudem hatten sich die Laster zuvor vom deutschen Feldlager entfernt. Enthüllungen weisen darauf hin, dass das Bombardement vor allem Taliban-Kommandeuren galt, die sich bei den LKWs aufhielten. Zivile Opfer wurden offensichtlich in Kauf genommen. Die Umstände sind dubios und haben schon zu Entlassungen des Generalinspekteurs und des zuständigen Staatssekretärs geführt sowie zum überfälligen Rücktritt des verantwortlichen Ministers. Ein juristisches und ein parlamentarisches Nachspiel folgen.

Schlagartig wurde deutlich, dass Deutschland am Hindukusch Krieg führt.

Dabei wurde bis in den August hinein noch von einem Stabilisierungseinsatz gesprochen und das K-Wort gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Nun spricht auch Merkel von kriegsähnlichen Zuständen in manchen Landesteilen. In Wirklichkeit hat sich der Charakter des Bundeswehreinsatzes radikal geändert. Es wird getötet und gestorben.

Obwohl sich die Situation im Norden drastisch geändert hat, denkt die Kanzlerin nicht an Abzug. Zum Afghanistaneinsatz gebe es keine Alternative, sagt sie. Deutschland habe ein großes Kontingent und würde bündnistreu seine Pflicht erfüllen und sich seiner Verantwortung nicht entziehen.

Anders der kanadische und der niederländische Kollege, die ihre Truppen bis 2011 bzw. 2010 aus Südafghanistan abziehen werden. Beide zusammen haben mit 5.000 dort mehr Soldaten als die Deutschen. Man fragt sich: Wenn diese Staaten abziehen können, warum dann Deutschland nicht? Sind die nicht bündnistreu, nicht verantwortungsvoll? Doch. Aber sie sind nicht so ambitioniert wie die Deutschen. Schließlich strebt Deutschland eine führende militärische Rolle in Europa in EU und NATO an und will einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Und damit das Volk dabei auch fein mitspielt, sagt der neue Minister zu Guttenberg über die Auslandseinsätze der Bundeswehr: „Das Außergewöhnliche muss zur Gewohnheit und generell akzeptiert werden.“ Klartext: Kriegseinsätze sollen nicht mehr die Ausnahme, sondern Regel sein.

Das wird Afghanistan nicht helfen. Die Bilanz des zivilen Aufbaus ist niederschmetternd. Er wird stiefmütterlich behandelt. „Von jedem Euro kommen nur 20 Cent bei den Afghanen an“, sagte Pierre Lelouche, im Mai 2009 Afghanistan-Beauftragter Frankreichs (FAZ 14.5.09). Das wären bis 2008 magere fünf Milliarden Dollar – wenn überhaupt. Die Lage der Bevölkerung hat sich verschlechtert. Die Kindersterblichkeit in Afghanistan ist die höchste der Welt. Jedes dritte Kind ist unterernährt. Acht Millionen Menschen leiden Hunger. 43 Prozent der Mädchen unter 15 Jahren werden verheiratet. „Zudem haben 70 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.“ (SZ 20.11.09) An dieser Lage wird sich im Krieg nichts Substantielles ändern. Im Krieg ist kein nachhaltiger ziviler Aufbau möglich. Deshalb muss der Krieg beendet werden. Dafür ist der Abzug die Voraussetzung. Je eher desto besser. Am besten umgehend.

Damit die NATO abziehen kann, muss es zunächst einen Waffenstillstand geben, denn unter Beschuss kann man nicht abziehen. Die Niederlage wäre zu offensichtlich. Voraussetzungen dafür sind Waffenstillstandsverhandlungen. Die gibt es nur, das ist die Position der Taliban, wenn die NATO das Land verlässt. Dazu muss die NATO also einen zeitnahen Termin nennen, bis wann sie abgezogen ist. Erst dann besteht die Chance auf Frieden in Afghanistan.

Verwendete Literatur:

Government Accountability Office, GAO, Afghanistans's Security Environment, 5.11.09, 20 Seiten, http://www.gao.gov/new.items/d10178r.pdf

Lühr Henken, USA und NATO: “Auf der ganzen Linie gescheitert”, 23. August 2009, /regionen/Afghanistan/henken2.html

NATO, Facts & Figures: Afghan National Police, December 2009 http://www.isaf.nato.int/images/stories/File/Dec_2009-Fact_Sheet_ANP.pdf

NATO, Facts & Figures: Afghan National Army, December 2009 http://www.isaf.nato.int/images/stories/File/Dec_2009-Fact_Sheet_ANA.pdf

Michael Paul, Der (Wieder-)Aufbau der afghanischen Nationalarmee, SWP-Aktuell 60, November 2009, 8 Seiten, http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=6501

Thomas Ruttig, Afghanistans Wahlkrise, SWP-Aktuell 56, Oktober 2009, 8 Seiten http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=6470

Streitkräfte und Strategien, NDR, http://www.ndrinfo.de/programm/sendungen/streitkraefte4.html

Zeitungen (Abkürzungen)
  • dradio.de - Deutschlandradio
  • FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung
  • FR – Frankfurter Rundschau
  • HA – Hamburger Abendblatt
  • HB - Handelsblatt
  • jw – Junge Welt
  • NZZ – Neue Zürcher Zeitung
  • rp-online – Rheinische Post online
  • SZ – Süddeutsche Zeitung
* Lühr Henken, Hamburg, einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, im Vorstand des Hamburger Forums für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e.V.

Referat beim 16. Kasseler Friedensratschlag an der Universität Kassel am 5./6. Dezember 2009 (unkorr. Manuskript)



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