"Wir brauchen keine Reformen, wir brauchen eine Revolution"
Ein Gespräch mit dem Musiker, Liedermacher, Komponisten und Schriftsteller Konstantin Wecker über Kapitalismus, SPD, Kirche und Krieg
Das folgende Interview, das wir auszugsweise dokumentieren, haben wir der Website "globale Gleichheit" entnommen. Es wurde im Mai 2005 aufgenommen und ins Netz gestellt. Konstantin Wecker eröffnet mit einem Konzert am 2. Dezember 2005 den "Friedenspolitischen Ratschlag" an der Universität Kassel.
globale Gleichheit: Du hast Dich vor einiger Zeit in der Tageszeitung "junge Welt" als "großer Fan der Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes" geoutet, weil diese die Überführung von Produktionsmitteln und Grundbesitz in Gemeineigentum erlauben. Fühlst Du Dich darin durch die von SPD-Generalsekretär Franz Müntefering angestoßene Kapitalismus-Debatte bestätigt? Was steckt Deines Erachtens hinter diesen ungewohnt kritischen Tönen aus der SPD-Zentrale?
Konstantin Wecker: Es wäre ja wunderschön, wenn ich der SPD glauben könnte. Ich glaube sogar, dass Müntefering es ernst meint, obwohl er daraus ganz sicher keine Konsequenzen ziehen wird. Ob das nun eine Wahlkampfstrategie war, um zum Beispiel die WASG nicht hochkommen zu lassen, oder warum auch immer diese Debatte jetzt angezettelt wurde, ist mir eigentlich ziemlich egal. Ich bin vor allem froh, dass diese Debatte stattfindet, sie hätte nur schon viel früher stattfinden müssen. Ich habe in den letzten Tagen aufmerksam die Medien verfolgt und beobachtet, wie sie querbeet von einem anfänglichen Hohngelächter über Müntefering zurückstecken mussten, und wie sie diese Kritik jetzt allmählich als Debatte ernst nehmen müssen, weil zwei Drittel der Bevölkerung hinter Münteferings Aussagen stehen. Das hat mich sehr gefreut und war mir eine innere Genugtuung, dass derart arrogante Schreiber und arrogante Blätter, auch wenn sie immer noch auf der Seite von Hundt und Westerwelle stehen, sich gezwungen sehen, diese Debatte ernst zu nehmen. Es ist ja geradezu unglaublich, wie dreist diese Brüder, allen voran dieser unsägliche und sinnlose Ökonom Herr Sinn den Kapitalismus gewissermaßen mit einem Naturgesetz gleichsetzten. Da merkt man, dass sie es in den letzten Jahren einfach nicht gewöhnt waren, mit Kritik konfrontiert zu werden. Und kaum wird ein bisschen an ihren Lügen gekratzt, rasten sie geradezu aus. Am erregendsten fand ich ja den Westerwelle, der sagte, kein Arbeitgeber habe jemals so viele Arbeitsplätze vernichtet wie die Gewerkschaften. Da fragt man sich doch, warum dieser Mann nicht sofort in eine Heilanstalt gesteckt wird? Man kann doch nicht öffentlich soviel Blödsinn verzapfen, ohne dafür in irgendeiner Weise belangt zu werden.
(...)
Du arbeitest zusammen mit Gewerkschaftern und Mitgliedern von "Künstler gegen den Krieg" an der Entwicklung von Ideen für Kulturaktionen gegen die so genannte Arbeitsmarktreform Hartz IV. Für wie wichtig hältst Du den Widerstand speziell gegen die Hartz-Reformen, mit denen ja viele Menschen regelrecht in die Armut und ins Elend getrieben werden?
Wecker: Widerstand dagegen ist unerlässlich. Der muss in breitesten Schichten der Bevölkerung passieren. Es ist eine Tragödie, dass Demonstrationen gegen Hartz IV weitgehend ausgeblieben sind.
gG: Das hat ja offenbar sogar die SPD-Grünen-Regierung überrascht.
Wecker: Ja, da war jeder überrascht. Wenn ich in Konzerten sage, wir brauchen keine Reformen, sondern eine Revolution, so meine ich das natürlich ernst, auch wenn die Leute es für lustig halten. Die Menschen denken bei Revolutionen immer an Laternenpfähle und an Guillotinen. Das ist aber nicht das Wesen einer Revolution, das waren immer nur Auswüchse von Revolutionen. Die Revolution beginnt in einem Umstrukturieren nicht nur des eigenen, sondern auch des gesellschaftlichen Denkens. Und sie beginnt - das muss ich immer wieder betonen - in dem Zusammenwachsen einer neuen Spiritualität mit einer engagierten sozialen Politik. Mit Spiritualität meine ich natürlich keine kirchlich gebundene Religiosität - ich meine ganz bestimmt nicht Herrn Ratzinger und diese ganze erstaunliche Papst-Hysterie, deren Zeugen wir gerade jetzt wurde. Schon die Beerdigung von Johannes Paul II hat ja geradezu an die Beerdigung von Khomeini erinnert, wie Eugen Drewermann treffend sagte.. Dieser Fundamentalismus, der sich da aufmacht, ist erschreckend. Also das meine ich nicht. Mit Spiritualität meine ich vielmehr die Chance, sich selbst ständig zu revolutionieren, sein eigenes Denken und Sein permanent zu hinterfragen, zu überprüfen und auch durch Stille und Schweigen erst zu entdecken. Das bedeutet auch, sich der Betriebsamkeit zu widersetzen, die uns mitreißt und mit der wir uns immer wieder vom Wesentlichen ablenken.
gG: Du hast einen Roman geschrieben "Der Klang der ungespielten Töne". Darin gehst Du unter anderem mit der von Seichtheit, Beliebigkeit und Selbstvergötzung geprägten Unterhaltungsbranche, aber auch mit den Medien ins Gericht. Der Ich-Erzähler, Anselm Cavaradossi Hüttenbrenner, der nicht zufällig autobiographische Züge trägt, scheitert an dieser Scheinwelt, um gleichzeitig durch sein Scheitern über diese hinauszuwachsen.
Wecker: Ganz genau.
gG: Eine wichtig Hilfestellung leistet ihm dabei sein geheimnisvoller Lehrer Karpoff.
An einer Stelle des Buches lässt Du Karpoff sagen: "Philosophie, aus der nicht eine Verwandlung des eigenen Wesens entsteht, ist nichts als eine Worthülse. Denken, das keine Transformation zur Folge hat, ist sinnlos. Klavierspielen, das nicht auch Dein Wesen verwandelt, ist Zeitverschwendung." Wieder an anderer Stelle kritisiert Karpoff die "Selbstherrlichkeit derer, die nur auf den Verstand bauen" In dem Roman geißelst Du gleichermaßen Oberflächlichkeit, Gefallsucht und Ich-Vergötzung, kapitalistische Waren- und Marktvernarrtheit, aber auch Materialismus und Rationalismus. Befindest Du Dich damit nicht doch in gewisser Nähe zu Leuten wie Wojtila und Ratzinger, die ja ebenfalls gegen Rationalismus und Materialismus predigen und eine Rückbesinnung auf in ihrem Sinne geistige Werte fordern.
Wecker: Erstmal gilt es klar zu stellen, dass die Meinung einer Romanfigur - auch eines Protagonisten - nicht zwingend die Meinung des Autors sein muss. Darüber hinaus befinde ich mich überhaupt nicht "in der Nähe" zu welchem Papst auch immer. Allein schon die kirchliche Sexualmoral verbietet mir jede Nähe. Die Sexualunterdrückung ist bis heute eines der wichtigsten Instrumente gesellschaftlicher und politischer Machtausübung. Wovon ich spreche, das ist ein Prozess, der im Individuum stattfindet und der nie zu einem ideologischen Gebäude werden kann. Es ist die Transformation des einzelnen, im Sinne eines Krishnamurti, der jede Form von institutionalisierter Spiritualität ablehnt und zum Beispiel sagt, schon zu erklären, man sei Christ, Moslem, Buddhist oder Hindu, bedeute bereits eine Kriegserklärung.
gG: Würdest Du diese Aussage auch auf die Politik anwenden? Schließen sich Denken und Intuition, Vernunft und Eingebung wirklich gegenseitig aus?
Wecker: Genau das versuche ich zu verbinden: Denken und Intuition. Sie schließen sich keineswegs aus, aber leider schließen die Rationalisten die Intuition aus, und viele Esoteriker und sogenannte Spirituelle die Vernunft. Ich würde das gerne noch einen Schritt weiter erklären. Für mich ist das Mysterium des Lebens nie und nimmer durch Denken zu ergründen, sondern ausschließlich in dem Raum des Nicht-Wissens, im Raum der Intuition zu erfahren. In diesem Raum, in dem, wie fast alle Wissenschaftler und Künstler bestätigen, die wirklich innovativen Entdeckungen und Schöpfungen zustande kamen. Ich weiß seit Kindesbeinen, dass ich meine Melodien, dass ich meine schönsten lyrischen, poetischen Sätze nie erdenken kann, sie fallen mir zu. Sie passieren dann, wenn ich die Ratio nicht zum Herrscher meiner selbst mache, sondern wenn dieses Selbst, das ich nicht kenne, das ich erforsche, das ich zu ergründen suche im Laufe meines Lebens, wenn mein Herz, nicht meine Emotionen, mein Herz und mein Geist, die Ratio im Griff hat. Das Problem des Rationalismus ist in meinen Augen, dass der Rationalist zwar viel denkt, aber dass er genau diesen Raum ausklammert. Ein rationaler Mensch zu sein - ein Mensch also, der die Ratio nicht zur allumfassenden Ideologie erklärt - ist hingegen notwendig. Ebenso verhält es sich mit dem Materialismus. Das war auch immer mein Problem mit Marx, wobei ich eingestehen muss, dass ich kein großer Marx-Kenner bin, aber ich weiß, was Materialismus ist. Und meine Materialismus-Kritik zielt nicht nur auf den kapitalistischen Materialismus ab, sondern auch auf den selbst zur Ideologie gewordenen Dialektischen Materialismus. Meines Erachtens ist deswegen die schöne Idee des Sozialismus gescheitert, weil sie die Transzendenz nicht zugelassen hat. Die Sehnsucht des Menschen und das Wissen des Menschen um das Mysterium ist aber zu groß, als dass man es ausschalten könnte. Wenn man es unterdrückt, wird es sich heimlich in einer Nische formieren. Du kannst nicht mit der Ratio den Menschen ein Glück überstülpen, das sie eigentlich nur in sich selbst erfahren können, und zwar ausschließlich in den Momenten des Nicht-Wissens und des Nicht-Denkens. Das spricht aber keineswegs gegen das Denken, um Gottes Willen, das Denken darf uns nur nicht beherrschen, wir müssen es als Fahrzeug benützen.
gG: Darf ich da an dieser Stelle einhaken. Du hast eben das Beispiel des Wissenschaftlers genannt, dessen große Entdeckungen ausschließlich auf Intuition basieren. Was wäre die Intuition aber ohne die Vorarbeit der Ratio, ohne die Vorbereitung durch - zugegebenermaßen - oft mühsame Vernunftarbeit?
Wecker: Natürlich, keine Frage, das ganze Leben wird auch durch Denken vorbereitet ...
(...)
gG: Befinden wir uns nicht derzeit in der großen Gefahr, wieder in einen tiefen Irrationalismus zurückzufallen? Auch wenn das von den Medien zum Teil sicher übertrieben wurde, so ist es doch auffällig, in welcher Masse gerade auch junge Menschen nach dem Tode Johannes Pauls II. bzw. der Inthronisierung seines Nachfolgers, eines noch offenkundigeren Dogmatikers, nach Rom gepilgert sind. Die Vernunft hat im Moment nicht gerade Hochkonjunktur.
Wecker: Das zeigt die Sehnsucht der Menschen und die Verblendung derer, die diese Sehnsucht auf eine solche Weise ausnutzen. Viele Kirchenmännern mögen ja durchaus ehrenwerte Motive haben, oder sie glauben zumindest, sie hätten ganz ehrenwerte Motive. Bei Wojtyla war ich immer hin- und hergerissen. Auf der einen Seite war er nun einmal der Chef des ganzen Konzerns gewesen (lacht), auf der anderen Seite hat er aber auch ein paar sehr erstaunliche Dinge geschrieben aus seiner spirituellen Erfahrung heraus. Aber das erlebt man ja immer wieder: Wenn sich der Mystiker nicht ganz allein auf den Weg macht und auch alleine auf seinem Weg bleibt - dann geht es regelmäßig in die Hose (lacht). Es kann meines Erachtens auch keine mystische Kirche geben, daran glaube ich nicht. Auf deren anderen Seite sollte man allerdings auch die politische Macht des Papstes nicht überschätzen. Sie ist vorhanden, das ist gar keine Frage, doch sie wird im Moment hochgespielt. Während dessen sind nach wie vor die Kirchen leer, die Leute treten aus. Wir haben nicht plötzlich ein Volk von religiösen Kirchgängern.
gG: Bezeichnenderweise hat sich Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. unmittelbar nach seiner Wahl bei den Medien für die wohlwollende Propaganda - pardon: Berichterstattung bedankt.
Wecker: Allerdings. In den Tagen nach der Wahl habe ich natürlich mein "Habemus Papam" wieder ausgepackt und bei Konzerten zum Besten gegeben. Und da habe ich schon gemerkt: das wurde schon einmal besser aufgenommen. ("Habemus Papam" ist übrigens auf meiner Website www.wecker.de unter "Tagebuch" nachzulesen)
gG: Sprechen wir einmal über den Künstler und die Politik. Deutsche Künstler zumal Musiker gelten ja nicht gerade als besonders politische Menschen. Abgesehen von SPD- bzw. regierungsnahen Prominenten wie Marius Müller-Westernhagen oder Wolfgang Niedecken melden sich Musiker hierzulande nur selten zu Wort. Du bist da eine offenkundige Ausnahme. Du hast nicht nur massiv gegen die von den USA angeführte Invasion im Irak, gegen die fortwährende Besatzung des Landes sowie gegen die indirekte Unterstützung dieser Politik durch die deutsche Bundesregierung protestiert. Du hast Dich auch zugunsten der Obdachlosen engagiert, deren Projekt Gnadenacker in München für die Bundesgartenschau geräumt wurde.
Politik und Kunst - ist das für Dich ein Gegensatz? Oder ergibt sich Dein politisches Engagement zwingend aus Deiner Identität als Künstler?
Wecker: Nicht aus meiner Identität als Künstler, aber aus meinem Dasein als Mensch ergibt es sich in der Tat zwingend. Manchmal empfinde ich das durchaus auch als einen großen Gegensatz, weil es mich innerlich zerreißt. Es ist einfach ein Problem des Zeitmanagements: Schaffe ich das überhaupt zeitlich alles, was ich mir vorgenommen habe? Im Prinzip halte ich es aber mit Oskar Maria Graf, der in einem wunderbaren Vorwort zu seinem letzten Buch, seinen Erinnerungen "Gelächter von außen" in etwa geschrieben hat: der Dichter müsse ein engagierter Dichter sei, denn wer außer ihm stehe schon auf der Seite der Unterdrückten, auf der Seite der von der Gesellschaft Ausgegrenzten. Aber selbstverständlich kenne ich auch die Sehnsucht, mich in einen Turm zurückzuziehen und dort ausschließlich den schönen und den schöngeistigen Dingen zu frönen (lacht). Ich schaffe es nur einfach nicht, ich schaffe es nicht, ich lese dann wieder etwas in der Zeitung und errege mich. Nehmen wir das von Dir angesprochene Beispiel Gnadenacker. Das ist ja nur eine ganz kleine Geschichte, mein Gott, das passiert wahrscheinlich hier in Deutschland jeden Tag irgendwo. Nur, wenn man einmal selbst dort gewesen ist, wenn man gesehen hat, was diese Menschen sich aufgebaut haben, dann kann man das nicht mehr einfach ignorieren. Da haben sich 30 Obdachlose in Wohnwagen liebevoll eingerichtet - ich wäre am liebsten selbst hingezogen. Die haben zum Beispiel auch ihr Drogenproblem selbst verwaltet, versucht, es in den Griff zu bekommen. Das heißt, es herrscht Drogenverbot, auch an Alkohol gibt es nur ein so genanntes Arbeitsbier, das ihnen zusteht, wenn sie wirklich etwas geleistet haben. In einem Wohnwagen haben sie sogar ein eigenes Rathaus eingerichtet. Und genau dieses fast schon anarchische Streben nach Unabhängigkeit ist der Grund, warum man sie nicht mochte. Was der Staat nun mit ihnen macht, kostet ihn weit mehr Geld. Man ist der Meinung, es gehe nicht an, dass sozial Geschädigte ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen, ihre eigenen Probleme und ihre eigene Therapie selbst regeln und ihre eigene Gesellschaft aufbauen. Nein, dass muss von oben geregelt werden. Und jetzt will man sie in irgendwelche Wohnheime stecken, wo sie natürlich nicht hinwollen. Kein Obdachloser will ins Wohnheim, wenn er jemals schön in Wohnwagen leben konnte. Und es kostet viel mehr Geld, 1.000 Euro pro Person im Monat.
gG: Meinst Du, den Staat treibt die Furcht vor dem, was sich daraus entwickeln könnte, wenn Menschen anfangen, sich unabhängig von etablierten Strukturen zu organisieren?
Wecker: Das ist die Angst der Gesellschaft vor der Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit der Bürger. Die Gesellschaft will so etwas nicht zulassen, und vor allem eine neoliberale Gesellschaft wie unsere. Das ist auch eine Art Symbol. Die Bundesgartenschau muss sauber sein. Es gab ja sogar Architekten, die daran dachten, diesen kleinen Gnadenacker mit in die Buga einzuplanen. Das wäre doch ein wunderbares Symbol für die Welt gewesen, wenn man demonstriert hätte: "Schaut mal, wir sind wirklich die Weltstadt mit Herz." So hätte man es ja auch machen können. In den 70er Jahren wäre das vielleicht noch möglich gewesen. Da hätte die Presse auch in ganz anderer Weise darüber berichtet als heute, wo sich die Medien für so etwa kaum noch interessieren. Menschen wie diese Obdachlosen haben keinen Anwalt mehr.
gG: Herbert Marcuse sprach seinerzeit von der "repressiven Toleranz", mit der sich die spätkapitalistische Gesellschaft alles originär Widerständische, Rebellische oder auch nur Nichtkonforme einverleibt und seines Sprengstoffs beraubt. Kann man angesichts der aktuellen antidemokratischen Entwicklung - ich nenne hier nur die nach dem 11. September in aller Eile erlassenen so genannten Antiterrorgesetze - noch von Toleranz sprechen? Oder sind hier nicht schon totalitäre Tendenzen erkennbar?
Wecker: Ja, sicher. Das neoliberale Konzept ist ein totalitäres Konzept. Ich habe schon vor ein paar Jahren gesagt, als man mich wegen meines Engagements gegen den Irak-Krieg so angegriffen hat: Es ist nicht überall Demokratie drin, wo Demokratie drauf steht. Nun ist das im Falle des Irak heute offensichtlich. In den USA ist der antidemokratische Prozess schon sehr weit fortgeschritten und man muss sich fragen, was das noch mit Demokratie zu tun hat. Aber es wird eben noch als solche etikettiert. Man kann sich nicht zurücklehnen und sagen: Wir haben doch eine Demokratie, das kann uns nichts passieren. Was ist das denn für eine Demokratie, wenn man nur noch die Wahl zwischen zwei Parteien hatte, die sich wie ein Ei dem anderen ähneln, die dritte ist marginal und spielt keine Rolle, weil sie nicht finanziert wird. Das hat mit Demokratie meines Erachtens nur noch wenig zu tun.
gG: Und wo das Foltern von "Staatsfeinden" offensichtlich wieder zur Normalität wird.
Wecker: Folter wird mehr und mehr zur Normalität - erschreckend. Doch dann gibt es immer wieder so erstaunliche Abweichungen, wie etwa das plötzliche Urteil eines Bundesgerichts, das die Regierung anscheinend punktuell korrigiert. Das sind Kleinigkeiten, die dazu führen, dass man sich sagt: Es ist also doch noch ein bisschen anders als in einem absolut totalitären System. Die Presse muckt dann auch erstaunlicherweise auch immer mal wieder auf, was mich einerseits richtig wundert, aber auch erfreut. Aber dass Leute einfach weggesperrt werden können, ohne die Chance auf einen Anwalt zu haben, alles im Rahmen der Terrorismusgesetze, die mit dem Patriot Act in den USA eingeleitet wurden, das ist schon in höchstem Maße erschreckend. Mein Freund Hakim, der in meiner Band die Percussion spielt, ein Afghane, war vor einem halben Jahr in Amerika auf Tournee. Nach seiner Rückkehr erzählte er, dass er im ganzen Land ausschließlich als Mohammed bezeichnet wurde. Er sagte, ich heiße Hakim. Doch überall, wo er auch war, an der Grenze, bei staatlich-öffentlichen Stellen, nicht bei den Leuten, wurde er nur Mohammed genannt. Er hieß Mohammed. Punkt. Er konnte sagen, was er wollte.
gG: Das Feindbild scheint also zu greifen. Wie weit sind wir denn hier in Deutschland noch von amerikanischen Verhältnissen entfernt?
Wecker: Meines Erachtens haben wir es im Moment mit einer konservativen Revolution zu tun. Die haben es komischerweise geschafft, eine Revolution zu machen (lacht sarkastisch). Andererseits ist es immer wieder interessant zu sehen, welches Trauma selbst für jüngere Konservative - für die alten, die es erlebt haben ohnehin - das Jahr 1968 ist. Die haben eine solche Angst vor dieser rebellischen Zeit, dass sie öffentlich als Kapitalisten oder als Gierhälse gebrandmarkt werden könnten. Das bedeutet doch: Wir lagen damals im Prinzip schon richtig.
gG: Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie etwa dem "Scheibenwischer" finden Deine Lieder und Texte in Radio und Fernsehen so gut wie nicht mehr statt. Woran glaubt Du, liegt das? Bestraft man Dich damit möglicherweise für Dein politisches Engagement? Oder liegt Deine Musik so quer zum Zeitgeist, dass die Musikredakteure gar nicht erst auf die Idee kommen, sie zu spielen?
Wecker: Ich werde ja auch zum Scheibenwischer nicht mehr eingeladen. Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich gelegentlich im Radio zu hören wäre. Früher lief ja ab und zu ein Lied von mir in einer Sendung, die die Hausfrau beim Bügeln störte. Da gab es doch den arroganten Spruch: Wir machen Sendungen, die die Hausfrau beim Bügeln nicht stören dürfen - das gilt bis heute. Und dann fühlten sich diese Hörerinnen eben gestört, weil so ein Lied wenigstens ab und zu mal zwischenrein kam, und das hat zum Teil, was ich aus Briefen erlesen kann, ihr Leben verändert. Die haben da zum ersten Mal gemerkt, dass es etwas ganz anderes gibt, und dass das einem das auch etwas bedeuten kann. Es ist schon so, dass ich in bestimmten Medienkreisen für mein politisches Engagement - nicht bestraft, das ist vielleicht zu moralisch, aber geächtet und verlacht werde (lacht). Das ist schon traurig. Ich habe das deutlich gemerkt nach meiner Reise in den Irak. Da war ich in bestimmten Kreisen unten durch.
gG: Wie haben denn andere Künstler auf Deinen Einsatz reagiert?
Wecker: Dazu kann ich wenig sagen, ich stecke nicht in denen drin. Aber ich weiß noch, wie ich mich damals für die Grünen, bei der grünen Raupe, als Petra Kelly noch lebte, engagiert habe. Ich war unglaublich im Geschäft damals, ich war der Liebling aller. Es war ja auch eine Zeit, wo man links sein durfte und zugleich Liebling sein konnte. Dann habe ich mich für die Grünen engagiert, für eine Splitterpartei. Bei der grünen Raupe ging es damals darum, dass die Partei bei den Wahlen über die 5-Prozent-Hürde - auch so seine undemokratische Regelung - kommt. Da passierte es von einem Tag auf den anderen, dass ich plötzlich und dann gleich für Jahre aus bestimmten Sendungen raus war und im Rundfunk insgesamt viel weniger gespielt wurde. Ich habe ganz deutlich gemerkt: Ich war Persona non grata, weil ich eine nicht etablierte Partei öffentlich unterstützt habe. Heute ist das selbstverständlich völlig anders, aber damals, als sie noch authentische, zum Teil radikaldemokratische Forderungen erhoben, wollte man die Grünen draußen haben. Da waren sie so geächtet oder wurden einfach lächerlich gemacht, wie heute die die WASG oder die PDS, die werden von der Presse ja regelrecht kleingeschrieben. Abgesehen von "Freitag" und "junge Welt", zwei marginalen Zeitungen, gibt es ja so gut wie kein Blatt, das auch nur halbwegs objektiv über die WASG berichtet. Davon nehme ich auch den berühmten "Spiegel" nicht aus. Der war noch nie ein linkes Blatt, noch nicht einmal im Zweifelsfall. Das hat man fälschlicherweise immer nur gemeint. Die einzige Chance, diese Mediengleichschaltung aufzuweichen, ist, wenn die Medien spüren, wie jetzt im Falle Müntefering, dass eine Mehrheit der Bevölkerung und demnach auch die eigenen Käufer und Leser nicht die veröffentlichte Meinung teilen. Das ist ein echtes Argument.
gG: Trotz allem kommen die Menschen nach wie vor in Deine Konzerte. Wie sieht Dein Publikum denn heute aus?
Wecker: Es gibt nach wie vor ein Publikum für meine Musik. Ich merke das auch immer wieder, wenn neue Leute zu meinen Konzerten kommen, die bis dahin nichts von mir gehört haben, dass sie sich von den Liedern und der Musik packen lassen. Also, es gibt schon ein Potenzial, auch bei der Jugend. Es ist gar nicht so, dass die Jugend nichts mit meiner Musik zu tun haben wollte, weil ich z. B. keinen Hip-Hop mache. Die sind durchaus auch für diese Art von Melodien und Texten zu gewinnen. Sie müssen Sie nur irgendwo finden.
(...)
gG: Und wie bewertest Du die Drohungen der USA in Richtung Iran und Syrien? Werden Sie hierzulande, etwa von Friedens- bzw. Antikriegsgruppen zu wenig ernst genommen? Wie ich gestern gelesen habe, haben die USA gerade Israel spezielle bunkerbrechende Bomben geliefert.
Wecker: Das wird zu wenig ernst genommen. Ich halte das für ausgesprochen dramatisch. Ich bin überzeugt davon, dass die Bush-Regierung Iran mit auf der Agenda hat. Und dann wird wohl das Gleiche wie im Falle des Irak passieren. Erst wenn es wirklich akut wird, wird sich hier die Friedensbewegung wieder zu Wort melden - und wahrscheinlich wird das wieder ein bisschen zu spät sein. Man bekommt zur Zeit niemanden gegen den Krieg auf die Straße. Da muss wohl erst wieder etwas passieren, wie überall heutzutage, wie auch beim Ableben des Papstes. Eine Sache muss zum Event werden - dann erst ist den Leuten ein Engagement zu entlocken.
gG: Woran liegt das?
Wecker: Es liegt an einer allgemeinen Verblödung, die in den letzten dreißig Jahren in unserer auf den Konsum fixierten Gesellschaft stattgefunden hat. Die einzige Chance bestünde in der Verweigerung. Darum ist mir auch mein Aufruf zur Stille so wichtig. Stille hat etwas mit Verweigerung zu tun. Wenn ich mich für die Stille entscheide, wenigstens für einen Teil meines Lebens, so verzichte ich damit auf bestimmte Verblödungseffekte, die etwa durch die Medien und durch die ganze Unterhaltungsindustrie auf mich eindringen. Der Großteil der Leute schaltet einfach nur den Fernseher ein, lässt sich vom Geschwätz der Politiker und vom Geschrei der Werbung in die Irre führen. In gewisser Weise fühlen wir uns alle von den Plakaten belästigt, die uns von jeder Straßenwand entgegenstarren. Doch wir nehmen ihren Inhalt trotzdem auf. Es braucht schon eine starke Widerstandskraft, um sich gegen diese Dauerberieselung zu wehren. Wie kann man das von einem 17-jährigen erwarten?
gG: Kann Kunst dazu beitragen, diese Widerstandskraft zu stärken?
Wecker: Ja, natürlich könnte sie das - aber mit welcher Verbreitung?
gG: Also das alte Problem: Wie stellt man eine Gegenöffentlichkeit her?
Wecker: Ja, nur mit dem Unterschied, dass das Problem früher leichter zu lösen war als heute.
gG: Sieht Du Ansatzpunkte hierfür?
Wecker: Das Internet, unabhängige Radios. Es gibt ja auch eine Welt jenseits der Medien. Die erlebt man immer wieder, wenn man sich im erweiterten Freundeskreis bewegt. Wir müssen es schaffen, dass wir uns mehr vernetzten und uns gegenseitig aktivieren.
gG: Du hattest vor einiger Zeit die Idee einer Pazifismuskonferenz angesprochen. Ist das eine Sache, die Du nach wie vor verfolgst und von der Du Dir auch eine gewisse Breitenwirkung erwartest?
Wecker: Ich hatte schon ein erstes Treffen mit verschiedenen Wissenschaftlern. Wir haben uns natürlich gefragt: Worin unterscheidet sich das denn von einem Friedenskongress? Mir geht es bei diesem Kongress ausschließlich um die Rettung, Neugestaltung und -erfindung des Begriffs Pazifismus. Es ist nicht einfach nur ein Kongreß über Frieden, da gibt es viele und auch gute. Ich möchte wissen und ich möchte erfahren von Wissenschaftlern, Historikern, Psychologen und von Künstlern, von praktizierenden, bekennenden Pazifisten, wie wir dieses Wort in dieses neue Jahrtausend oder - seien wir einmal bescheiden - in dieses neue Jahrhundert hinüberretten und wie wir es vor allem wieder mit Inhalt füllen können. Dazu müssen wir es beispielsweise von dem Weichei-Image befreien, das ihm fälschlicherweise anhaftet: Das ist Blödsinn, denn Pazifisten sind keine Weicheier, Pazifismus ist eine radikale und auch eine kämpferische Haltung gegen den Krieg und für eine friedlichere Welt.
Ich stehe zu der Idee des Pazifismus auch deshalb, weil das Wort Frieden von allen verwendet wird. Waffenhändler geben vor, ihre Waffen zu verkaufen, um die Welt zu befrieden, Kriegsherren ziehen in den Krieg mit der Parole des Friedens für die Welt auf ihrem Panier, "Frieden" ist ein Wischiwaschi-Begriff geworden. Beim Pazifismus ist klargestellt, dass er auf keinen Fall durch Kriege Frieden schaffen will.
gG: Nun haben sich in der Vergangenheit viele erklärte Pazifisten und bedingungslose Kriegsgegner unter veränderten Bedingungen immer wieder in genauso bedingungslose Bellizisten verwandelt. Nehmen wir nur die Grünen, die beim Kosovo-Krieg zu ausgesprochenen Kriegstreibern wurden.
Wecker: Das ist in der Tat ein hervorragendes Beispiel, ganz ohne Frage. In meinen Augen waren diese Leute, etwa Joschka Fischer, nie wirkliche Pazifisten, auch wenn sie sich als solche ausgegeben haben. Aber das sind alles Gründe, einen solchen Kongress durchzuführen. Wie lebt man Pazifismus? Wie weit kann und muss diese Haltung gehen - auch psychologisch? Muss ich Dir wirklich auch die rechte Wange noch hinhalten, wenn Du mir auf die linke eine drauf gibst? Das möchte ich alles erfahren. Ich möchte erfahren, wie gehen wir um mit den Gräueln im Sudan. Ich bin mir darüber im Klaren, wie hoffentlich jeder Pazifist, dass wir die Welt unmöglich von heute auf morgen von Waffen und vom Militär befreien können. Und selbstverständlich müssen wir auch die wirtschaftlichen und politischen Interessen und Rahmenbedingungen analysieren, die Kriege überhaupt erst möglich machen. Bert Brecht hat einmal gesagt. Solange noch ein Mensch Geld verdient am Krieg, wird es Krieg geben. Das ist ein sehr pragmatischer, klarer, guter Satz. Hier müssen wir ansetzen: Lässt sich eine Welt schaffen, in der ausschließlich mit friedlichen Projekten Geld verdient wird? Oder noch besser: eine Welt, in der das Geld verdienen nicht an erster Stelle steht?
21. Mai 2005
Interview: A. B.
Quelle: Website der Initiative "globale Gleichheit": www.globale-gleichheit.de
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