Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Frankreichs Vorstädte brennen wieder - Kommt die Bewegung nach Deutschland?

Ein Analyseversuch von Johannes M. Becker

1. Was ist passiert in Frankreich?

Ende Oktober 2005 begann in einigen Pariser Vorstädten eine Serie von Gewalttaten, zunächst in aller Regel gegen Autos gerichtet.

Der Auslöser dieser Ereignisse war der Tod zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois, die, als sie sich einer Polizeikontrolle zu entziehen versuchten, verfolgt und in ein Hochspannungsgebäude getrieben wurden. Kurz nach dem Beginn von Unruhen in Clichy schoss die Polizei mit Tränengas in eine Moschee. Die Aktionen der – zumeist - Jugendlichen weiteten sich rasch aus.

Als mittelfristiger Verursacher der sich rasch zu einem Flächenbrand entwickelnden Unruhen kann eine Verschärfung der Innenpolitik Frankreichs nach der Ernennung Nicolas Sarkozys zum Innenminister, als Nachfolger des zum Premier ernannten Dominique de Villepin, angesehen werden. Sarkozy erklärte zum einen am 5. Juli 2005 eine Kooperation mit Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien zur Intensivierung der Ausweisungspolitik gegenüber sog. „illegalen“ Immigranten, deren Zahl in der gesamten EU auf drei bis vier Millionen geschätzt wird. Zum zweiten unternahm er im Sommer 2005 eine Rundreise durch die Pariser Vorstädte („Banlieue“), auf der er ankündigte, diese „von kriminellen Jugendlichen säubern“ zu lassen.

In der Spitze der Gewaltbewegung wurden in einer Nacht über 1.400 Autos angezündet, dies in über 240 Städten Frankreichs. Anfang November 2005 kam ein 61jähriger Rentner beim Versuch, einen in Brand gesteckten Mülleimer zu löschen, zu Tode.

2. Ist das Geschehene neu?

In ihrer Intensität sind die Ereignisse des Oktober/November 2005 neu, Jugendunruhen hat es in Frankreichs Vorstädten jedoch bereits des Öfteren gegeben. Anfang der 80er Jahre, François Mitterrand war gerade zum Staatspräsident gewählt worden, „brannten“ die Vorstädte von Lyon und Paris. Nach der Pariser Vorstadt (im Nordosten, jenseits von St. Denis) Sarcelles wurde seinerzeit eine Zivilisationskrankheit benannt: die „Sarcellitis“. Hier leben Tausende von Menschen in anonymen und meist unansehnlich-unwirtlichen Hochhäusern.

Ein weiteres Indiz für eine latent angespannte Stimmung in Frankreichs Vorstädten: Bereits am 25. Oktober 2005 gab Innenminister Sarkozy bekannt, seit Jahresbeginn 2005 seien ca. 9.000 Polizeiwagen in Flammen aufgegangen oder sonst wie zerstört worden. (Diese Zahl beträgt in Deutschland vermutlich wenige Dutzend…)

3.Welchen Charakter hat das Gesehene?

Es handelte sich zu Beginn zumeist um spontan zusammengekommene Jugendliche, zumeist mit Migrationshintergrund, sei es maghrebinischen oder schwarzafrikanischen Ursprungs. Das Gros dieser Jugendlichen ist, dies gilt bis heute, im Besitz eines französischen Passes. Im Verlaufe der Aktionen erlangten diese in sich mehr Kontinuitäten, ohne jedoch je von einer übergreifenden Organisation geleitet zu werden. Kommunikation verlief häufig über kleinere e-mail-Netzwerke oder über Handys. Der Charakter des Symbolischen sticht bei der Betrachtung der Ziele der Gewalt hervor: Autos als Zeichen des (nicht erreichbaren) Wohlstands; Schulen, Kindergärten und Busse als Symbole des Staates, der die Protestierenden von der Teilhabe ausschließt. Außer dem erwähnten Todesfall gilt: „Keiner war gefährdet. Auch kein deutscher Fußballmillionär. Gefährdet waren die randalierenden Jugendlichen selbst, die Polizisten, die Kameramänner und ein paar Menschen, die zufällig in eine ausbrechende Randale gerieten.“ (Karl Heinz Götze im „Freitag“ v. 25.11.2005). Dass die Gewaltakte auch eine Eigendynamik annehmen, liegt auf der Hand.

Bemerkenswert scheint auch, und dies unterscheidet die Lage in Frankreich von bspw. den Aufständen in Großbritannien und in den USA vor kurzer Zeit, dass die ethnischen Gruppen, hier die Maghrebiner und Afrikaner (es befinden sich nahezu ausschließlich junge Männer auf der Straße) sich nicht gegeneinander erheben, sondern in aller Regel zusammen auf die Straße gehen.

Zum dritten ist bis heute keine Ideologie hinter der Bewegung erkennbar, sie trägt keine Banderolen, verteilt keine Flugblätter, versucht nicht um eine Verbreitung anzustehen. Einzig „Respekt“ wird gefordert. Hinter dieser Forderung steht das Einklagen des Versprechens der „égalité“, das von Seiten der Nation qua Einbürgerung in Frankreich gegeben wurde. „Das Gesehene hat Bewegungscharakter, ohne bereits eine soziale Bewegung zu sein“, so der Marburger Soziologe Mathias Bös am 10. November in einer Presskonferenz des Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) der Philipps-Universität.

4. Wo liegen die tieferen Ursachen der Unruhen?

Im Zentrum des Ursachengeflechts liegen die prekäre Wohnsituation der agierenden Jugendlichen sowie ihre Berufslage. Durch die Mietsteigerungen vor allem der vergangenen etwa drei Jahrzehnte in Frankreichs Innenstädten wurde, neben (und mit) den Manufakturen vielfältigster Art auch einschlägige Bevölkerungsgruppen aus den Innenstädten verdrängt:
  • eingebürgerte Immigrantinnen und Immigranten,
  • mittellose Französinnen und Franzosen, die teilweise mit der steigenden Massenarbeitslosigkeit in die Marginalität getrieben wurden,
  • schließlich ein Großteil der illegalen Einwanderer.
Das Zentrum von Paris bspw. hat in den letzten drei Jahrzehnten ein Drittel seiner Bevölkerung auf heute ca. zwei Millionen Einwohner verloren, die Banlieue hingegen ist auf ca. zehn Millionen angewachsen. Hinzu kam die laufende Ansiedlung neu hinzukommender Immigrantinnen und Immigranten in eben diesen Vierteln.

Zählte die Regierungs-Statistik 1982 für Frankreich noch 22 „zones sensibles“, so betrug deren Zahl im Jahre 2002 bereits 1.500 (FAZ vom 7.11.2005) – eine unglaubliche Steigerung, die – angesichts der auf die Vorstädte einprasselnden Problemlagen - auf eine Vernachlässigung durch die öffentliche Hand schließen lässt.

Die herrschende Rechtsregierung wandte den Vorstädten wenig Aufmerksamkeit zu: Zum einen wurde die staatliche Unterstützung lokaler Initiativen zurückgefahren, zum zweiten kürzte der Staat im Budget für 2006 den Haushaltsansatz zur Haussanierung um 15 Prozent, zum dritten wurde die lokale Polizei in vielen Orten durch die CRS (Compagnies Republicaines de Securité) ersetzt, die in Frankreich nicht den Ruf haben, sozial sonderlich einfühlsam zu agieren…

Die prekäre berufliche Lage der Jugendlichen mit Migrationshintergrund kommt als gravierender Faktor hinzu. An die 50 Prozent von ihnen sind ohne Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Der französische Durchschnitt beträgt offiziell „nur“ 22 Prozent… Eine wesentliche Ursache für diese Lage liegt in den schwach ausgebildeten beruflichen Ausbildungsstrukturen; anders als hierzulande kennt Frankreich kein duales Ausbildungssystem.

Wir finden – zusammengefasst – in vielen Vorstädten eine jugendliche Problemgruppe mit schlechten beruflichen Perspektiven in schlechter Wohnsituation vor dem Hintergrund einer ethnischen Konzentration von Menschen vor, die in der französischen Gesellschaft sich in einer ohnehin wenig günstigen Position befindet: Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass ein junger Mensch mit maghrebinischem oder schwarzafrikanischem Hintergrund nur ein Fünftel der Chancen eines „eingeborenen“ Franzosen hat, einen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Die prekäre Situation der Jugendlichen wird noch komplizierter, da auch ihre Elterngeneration überdurchschnittlich von Erwerbslosigkeit betroffen ist und als Projektionsfläche für eine bessere, zumindest planbare, Zukunft fortfällt.

5. Was ist (noch) nicht passiert?

Bis heute ist noch keine erfolgreiche Vereinnahmung der Bewegung durch radikale Parteien zu erkennen, das gleiche gilt für religiöse Gruppierungen. Im Gegenteil: Die am ehesten dafür in Frage kommenden islamischen Gemeinschaften rufen bislang zur „Kalmierung“, d.h. Beruhigung der Bewegung auf. Hierzu hat nicht unwesentlich die Einbindungsstrategie Innenminister Sarkozys gegenüber den islamischen Verbänden beigetragen (FAZ v. 24.11.05): „Seine Gespräche mit den führenden Mitgliedern des fundamentalistischen Verbandes UOIF hatten zur Folge, dass die UOIF eine ´Fatwa` gegen die Krawallmacher und Unruhestifter verhängte.“

Dem rechtsradikalen „Front National“ (FN) dürfte die gesamte Bewegung sowieso à priori unsympathisch sein.

Zu diskutieren ist die Rolle der Medien: In US-Medien findet sich eine fast systematische Überzeichnung des Geschehens bis hin zu einem Vergleich mit Tschetschenien. In einzelnen Print-Medien findet sich Schadenfreude gegenüber Europa – in Erwartung einer eventuellen Schwächung des Konkurrenten.

6. Was tut die Regierung, was fordert die Opposition?

Während Staatspräsident Chirac sich zehn Tage Zeit ließ, zum französischen Volk zu sprechen, reagierte seine Rechtsregierung unter de Villepin nach wenigen Tagen mit Repression. Hierbei ist eine Arbeitsteilung zwischen dem Regierungschef und seinem Innenminister zu erkennen.

Während de Villepin die Rolle des besonnenen Planers übernimmt, der Programme ankündigt und „Frankreichs Jugend“ zur Ruhe aufruft, sind die Aktionen Sarkozys von anderer Qualität. Der Innenminister, der übrigens zu Beginn der Rebellion die beiden ums Leben gekommenen Jugendlichen leichtfertig des Diebstahls bezichtigte, bezeichnet die marodierenden Jugendlichen wiederholt als „Voyous“, „Gauner“, als „Racaille“, „Pack“. Er forderte u.a. die Vorstädte „mit dem Kärcher-Schlauch“ zu reinigen, bestreitet keine Rede ohne Ankündigung kompromissloser Bestrafung der Übeltäter. Sarkozy nimmt eindeutig die Rolle des Chefs von „law and order“ ein. Nicht ohne Brisanz ist in diesem Zusammenhang die Konkurrenz de Villepins und Sarkozys bei der konservativen Kandidatenaufstellung für die für 2007 anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Hier stellt sich der Innenminister offenbar als Integrationsfigur auch für die auf immer noch ca. 15 Prozent geschätzte Wählerklientel des Neofaschisten LePen (FN) dar.

Der renommierte Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd (FAZ v. 12.11.05) spricht übrigens vom bevorstehenden Ende der Karriere Sarkozys. Ich glaube dies nicht. In Frankreich herrscht eine völlig andere individuelle Befindlichkeit in der Bevölkerung vor: Die individuelle Unsicherheit, Sorge um das Leben und um körperliche Unversehrtheit dominiert das Massenbewusstsein anders als hierzulande, wo eher materielle Zukunfts-Ängste vorherrschen (Angst vor Erwerbslosigkeit, vor einer schwierigen Zukunft der Kinder). Hiervon wird Sarkozy profitieren. (Eine Umfrage, sh. „junge Welt“ v. 22.11.05, hat Mitte November ergeben, dass 68 % der Franzosen/innen den von 15 Tagen um zwei Montage verlängerten Notstand befürworten und dass 55 % die Abschiebung von „ausländischen Randalierern“ befürworten, selbst wenn diese über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung verfügen; 48 % beträgt die Zustimmung hierfür unter sozialistischen Sympathisanten/innen, bei der Präsidenten-Partei UMP 75 %, beim rechtsradikalen Front National 82 %.)

Zurück zur herrschenden Politik: Das Handeln der Regierung umfasste neben der Ausrufung des Notstandes in 30 (von 96) Départements am 9. November 2005 die Ankündigung der Schaffung von 2.000 neuen Planstellen bei der Polizei für 2006 sowie von 6.000 Sicherheitskräften für Frankreichs Schulhöfe in den Brennpunkten. An konstruktiven kurz-, mittel- wie langfristigen Plänen zur Behebung der oben aufgezeigten Missstände ist bislang (22. November) nichts zu erkennen. Am 17.11. erinnerte die Regierung an die Ende August 2005 eingerichteten 45.000 staatlich geförderten Stellen (contrats empoi solidarité) an Grund- und weiterführenden Schulen für qualifizierte (contrat d´avenir) und weniger qualifizierte Arbeitslose (contrat d´accompagnement dans l´emploi). Nicht vergessen sei in diesem Zusammenhang, dass Jacques Chirac im Wahlkampf 1995 einen „Marshallplan für die Banlieue“ angekündigt hatte; seinerzeit besuchte der Wahlkämpfer (gegen den Sozialdemokraten Lionel Jospin) zusammen mit dem renommierten Abbé Pierre gar Hausbesetzer und versprach ihnen eine soziale Wohnungspolitik. Die hinter der Regierung stehenden konservativen Parteien fordern eine Verschärfung der Repressionsmaßnahmen, in einigen Fällen gar den Einsatz der Armee im Inneren.

Die Opposition aus Sozialdemokraten (PS) Kommunisten (PCF) und Grünen (Verts) fordert eine „Rückkehr zum Dialog“ sowie „Botschaften und Akte der Solidarität“. So sollen in den sozialen Brennpunkten die Schülerzahlen auf 15 pro Klasse gesenkt werden, soll der soziale Wohnungsbau gerade in den „zones sensibles“ intensiviert werden. Einer der möglichen Präsidentschaftskandidaten des PS, Dominique Strauss-Kahn, forderte die sofortige Schaffung von 50.000 Arbeitsstellen für Jugendliche, darüber hinaus einen12monatigen „Zivildienst“; beides sollte durch einen Verzicht auf die von der Rechtsregierung geplanten Reduzierung der Einkommens- und Vermögenssteuer finanziert werden.

7. Gesamtbeurteilung und: Was kann und muss in Frankreich getan werden?

Emmanuel Todd hält die Bewegung nicht, wie viele Beobachter, für einen Beweis des Scheiterns des französischen Integrationsmodells, eher für den Beweis seines Funktionierens. Die Polizei hat in der Tat nicht auf die Randalierer geschossen, die Bewegung ihrerseits hat recht besonnen auf die „normale“ Ruppigkeit der Sicherheitskräfte reagiert. Todds Einschätzung ist, die Revolte werde zur Integration beitragen. „Denn so funktioniert die Assimilierung auf französisch.“ Der US-Publizist Doug Ireland erinnert in „The Nation“ (11/2005) an Martin Luther King jr., der sich ähnlich äußerte: „Ein Aufstand ist im Grunde die Sprache der Ungehörten.“ Karl Heinz Götzes Perspektive des Geschehens ist skeptischer: „Das Triste an dieser Revolte sind nicht die verbrannten Autos. Das Triste ist, dass diese Revolte zu nichts führen wird als zu 3.000 oder mehr neuen Insassen ohnehin katastrophal überbelegter französischer Gefängnisse, bestenfalls begleitet von ein paar Millionen (Euro, JMB) zusätzlich für die Banlieues. Die (…) Kinder, die da Randale machten, ahnten es gewiss schon, dass sie am Ende wieder die Dummen sein würden. Der Glücksmoment, für einmal Macht zu haben, sich für einmal zu wehren, einmal die eigenen Kraft zeigen zu können, einmal dem Verhängnis ein Gesicht geben zu können und dreinzuschlagen, dieser Glücksmoment war es ihnen wert.“

Es sei hier nur kurz erinnert an das umfassende Beschäftigungsprogramm der Linksregierung (PS/PCF/Verts) von Mitte der 90er Jahre, als diese für 350.000 Jugendliche im öffentlichen Sektor und für weitere 350.000 in der Privatwirtschaft Ausbildungs- und Arbeitsplätze schuf. Die Regierung subventionierte diese Stellen damals für 5 (!) Jahre mit 80 Prozent des französischen Mindestlohnes SMIC (ca. 1.000 Euro). Diese Politik wurde seinerzeit durch eine Erhöhung der Vermögenssteuer finanziert. Eine derartige Dimension sozialpolitischer Intervention würde vermutlich auch im Jahre 2005 mehr tragen als Repression und das fortwährende verbale Gießen von Öl ins lodernde Feuer durch Frankreichs Innenminister.

8. Übertragbarkeit auf Deutschland

Diese Frage ist schwer zu behandeln. Der Marburger Sozialpsychologie Ulrich Wagner hielt auf der o.a. Pressekonferenz eine Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse für unrealistisch – zumindest für die Gegenwart und nähere Zukunft. Die soziale Problematik sei vergleichbar, in der Tat. Jedoch fehle für eine Massenbewegung ein Identifikationskern. Einen ethnischen, bzw. Migrationshintergrund habe die partielle Misere der deutschen Jugend bei weitem nicht wie im französischen Ausmaße. Des Weiteren müsse hinter einer Bewegung eine gewisse Masse, eine gewisse Zusammenballung an Konfliktpotential stehen; auch hier könne man sich Verhältnisse wie in den Pariser oder Lyoner Vororten in Deutschland derzeit nicht vorstellen.

„Migrantenkinder werden von unserem Bildungssystem frühzeitig aussortiert. Mehr denn je entscheidet die soziale Herkunft der Eltern über den Erfolg von Schülern“ schreibt der Kölner Erziehungswissenschaftler Georg Auernheimer („Freitag“ 45/05, 11.11.05). Und weiter: „Es ist unser Schulsystem, das für die Trennung von ethnisch unterschiedlichen Schülergruppen verantwortlich ist.“ Auch der Marburger Bildungs- und Protestforscher Lars Schmitt diagnostizierte auf der o.a. Pressekonferenz aufgrund dieser Bildungsunterschiede sowie der Tatsache, dass Migrantenkinder in Deutschland nicht über einen deutschen Pass verfügen, dass derartiger Protest in Deutschland kurz- und mittelfristig nicht zu erwarten sei. Dies spräche aber gerade nicht für die deutschen Integrationsverhältnisse, sondern offenbare lediglich die Tatsache, dass in Frankreich nicht zuletzt aufgrund dieser höheren Anspruchs-Wirklichkeits-Diskrepanz die Voraussetzungen dafür, dass Unmut empfunden wird und sich auf diese Art Luft macht, eher gegeben seien.

Daran anknüpfend gibt mir selber – mit einem Parallel-Blick nach Frankreich – insbesondere die Lage der jugendlichen Spätaussiedler (aus Russland) nach Deutschland zu denken. Diese unterliegen nämlich derselben Diskrepanz wie die um ihre Integrationschancen sich betrogen fühlenden Jugendlichen in Frankreich: Sie haben einen, hier: deutschen, Pass, aber finden sich segregiert wieder. Sie haben schlechte Berufchancen, sprechen nur wenig deutsch, leben häufig in russischen, eben: Aussiedler-Zusammenhängen.

Diese Einschätzung wird, betreffend vor allem die Neuen Bundesländer, vom Jugendforscher des ZfK, Benno Hafeneger, geteilt. Er sieht in den Spätaussiedlerkindern, die Russland häufig gegen ihren eigenen Willen verlassen haben, eine latente Nicht-Anerkennung und derzeit noch ungerichtete Aggression. Die Problematik könne virulent werden, wenn die gegenwärtig noch erfolgende recht stringente Anbindung an das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem sowie die Einwebung in das soziale Netz nachließe.

Zuweilen werden heute in größeren deutschen Agglomerationen bereits Bandenauseinandersetzungen zwischen Russen und Türken (zumeist jungen Männern) registriert. Träten diese intensiviert auf, in ihrer Gewaltbereitschaft bspw. katalysiert durch Großereignisse wie die in 2006 anstehende Fußballweltmeisterschaft, würde eine solche Bewegung einen anderen Charakter als den der aktuellen französischen haben: Hier würde weniger vom Staat „Respekt“ eingefordert, sondern vielmehr intergruppal Terrains abgesteckt.

Noch einmal Karl Heinz Götze zur Gesamt-Perspektive des Geschehens: „Das ist kein französisches Problem, das ist das Problem aller entwickelten kapitalistischen Länder. Und niemand weiß etwas dagegen außer Sozialismus, der sich im Weltmaßstab gerade nachhaltig historisch blamiert hat. So sind alle ratlos. Die einen rufen „dem Gesetz muss Geltung verschafft werden“, die anderen rufen „Sozialarbeit“, die dritten „Verantwortung“; es gibt viele gute Programme, selbst vom zuständigen Minister. Und alle, wenn sie nicht ganz dumm sind, wissen doch, dass es nicht reicht.“

* Johannes M. Becker ist Privatdozent für Politikwissenschaft und Koordinator des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg;
Dieses Manuskript beruht auf einem Vortrag beim 12. Friedenspolitischen Ratschlag, 2./3. Dezember 2005, in Kassel, Unversität.



Zurück zur Seite "Friedensratschlag 2005"

Zur Frankreich-Seite

Zurück zur Homepage