Gerechtigkeit und Friede küssen sich
Ansprache beim Gottesdienst anlässlich des Friedensratschlags 2005 in der Luther-Kirche Kassel
Von Alois Reisenbichler*
"an die Hungrigen dein Brot auszuteilen,
die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen,
wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden ...
(Jes. 58,7)
Liebe Brüder und Schwestern!
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!
Frieden und Gerechtigkeit - ich bin in der ArbeiterInnenbewegung und in der
Friedensbewegung bewusst als Christ engagiert und ich habe immer gesagt:
"Frieden und Gerechtigkeit", aber die Bibel hat mich gelehrt die Reihenfolge
umzudrehen: "Gerechtigkeit und Friede küssen sich" (Ps 85,11), heißt es im
85. Psalm. Grundlage des Friedens ist die Gerechtigkeit.
Vor kurzem sagte mir ein Agnostiker, der österreichische Schriftsteller
Peter Turrini: "Immer wenn ich etwas wirklich Subversives lesen will, dann
lese ich in der Bibel". Oder Bertha von Suttner, leider nicht zuletzt auf
Grund ihrer großen Enttäuschung über die Kirche und ihrer Kumpanei mit dem
Militär und den Herrschenden zur damaligen Zeit eine Freidenkerin geworden,
sah gerade in der Bibel, im Tötungsverbot und in der Bergpredigt eine
wichtige ethische Leitlinie ihres Lebens.
So, liebe Freundinnen und Freunde, war es eine richtige Entscheidung, dass
ihr zum Kasseler Friedensratschlag, diesem großartigen Friedenskongress, zu
dem ich immer sehr gerne von Wien komme, weil hier sehr viel lebendiges
Engagement für eine gerechtere und friedlichere Welt erfahrbar ist, diesen
Ratschlag zum Thema "Neue Kriege in Sicht" mit dem 58. Kapitel des Propheten
Jesaja verbunden habt, wo sehr deutlich steht, dass Gerechtigkeit und das
Handeln für eine solidarische Welt im religiösen Sinne Frömmigkeit sind.
Und wir als Christinnen und Christen sind gefordert, nicht wie diese
berühmten drei Affen mit Nichts-Sehen, Nichts-Hören, Nichts-Reden, sondern
wir sind gefordert aus unserer jüdisch-christlichen Tradition, wir sind
gefordert durch die Nachfolge Jesu, der Partei ergriff für die Armen und der
die Händler aus dem Tempel vertrieben hat und der darüber zugrunde ging,
hingerichtet wurde und von dem wir als Christinnen und Christen glauben,
dass er auferstanden ist und wo wir in der Geschichte der Kirche auch einen
Strang haben, wo sein Werk auferstanden ist in den Millionen, die sich vor
uns für Gerechtigkeit, für Frieden und für die Bewahrung der Schöpfung
engagiert haben. Wir sind gefordert durch den Heiligen Geist, durch die
Ruach, die Heilige Geistin, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt, die uns
davor bewahrt, zufrieden mit dem Status quo zu sein und die uns zeigt, wie
es Joseph Cardijn, der große französische Kardinal und Begründer der
Katholischen ArbeiterInnen-Jugend und Katholischen ArbeitnehmerInnenbewegung
so gut formuliert in den drei Schritten: Sehen - Urteilen - Handeln
Sehen:
Was ist das für eine Welt, in der wir leben? Wir haben uns diese Welt sehr
gut anzuschauen und die beiden Vorredner haben sehr gute Beispiele genannt
für die Missstände in dieser Welt.
Ich möchte nur zwei Punkte hinzufügen: In der ausgezeichneten Erklärung der
Weltversammlung des Reformierten Weltbundes im August 2004 im Accra (Ghana),
wo sie einen "Bund für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit"
geschlossen haben, heißt es unter anderem über die Welt:
"Das Jahreseinkommen der reichsten ein Prozent ist genauso hoch wie das der
ärmsten 57%, und 24.000 Menschen sterben jeden Tag an den Folgen von Armut
und Unterernährung. Kriege, die um Ressourcen der Erde geführt werden,
fordern das Leben von Millionen, während weitere Millionen an vermeidbaren
Krankheiten sterben."
Ich war in dem jetzt zu Ende gehenden Jahr in der Betriebsseelsorge tätig
und da ist mir bewusst geworden, dass nicht nur Rio de Janeiro, in Maputo
oder in New Dehli die Menschen nicht mehr wissen, wovon sie leben, sondern
es in St. Pölten, der Hauptstadt Niederösterreichs, es Leute gibt, die ohne
Schwarzarbeit und ohne Stehlen im Supermarkt nicht mehr zu den Lebensmittel
und den dringendsten Gütern des täglichen Bedarfs, um zu überleben, kommen.
Während auf der anderen Seite in Österreich nach dem offiziellen
Sozialbericht - und es wird in Deutschland nicht anders sein - das oberste
Prozent der Bevölkerung ein Drittel des Vermögens und die nächsten neun
Prozent das weitere Drittel besitzen, das heißt zwei Drittel gehören den
obersten zehn Prozent
Und man könnte noch sehr viele Daten bringen und wir haben heute ja in der
sehr guten Rede von Herrn Dr. Peter Strutynski viele Daten und Fakten über
die aktuelle Friedensbedrohung und Rüstung erfahren. Liebe Freundinnen und
Freunde, lesen wir einmal diese Worte von Peter gegen im Lichte des
Propheten Jesaja und wir kommen zum
Urteilen:
die Fesseln des Unrechts zu lösen;
die Stricke des Jochs zu entfernen;
Brot für die Hungernden;
Häuser für die Obdachlosen;
ein Ende der Unterdrückung.
Das ist der Maßstab der Prophetinnen und Propheten. Das ist der Maßstab Jesu
Christi. Das ist der Maßstab, der angelegt wird, aus der Perspektive des
Gottesreiches, das hier auf Erden anbricht und das uns zum
Handeln
aufruft.
Wir in unseren Kirchen, in den christlichen Organisationen, in den Pfarren
und in vielen Initiativen haben eine große Tradition an Diakonie, an
Caritas, an tätiger Nächstenliebe. Und das ist gut so. Das ist richtig und
wichtig.
Aber es gibt auch noch andere Felder des Handelns, wo wir als Christinnen
und Christen dazu lernen müssen, zum Beispiel den Mund aufzumachen, sich in
der Politik einzumischen, Politikerinnen und Politiker beim Wort zu nehmen,
wenn notwendig, ihnen zu widersprechen, oder ihre Reden zu hinterfragen.
Wenn diese Woche die neue Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland,
Frau Dra. Merkel gesagt hat, wir sollen "mehr Freiheit wagen", dann müssen
wir aus der Perspektive Jesu, nicht nur aus der Perspektive der
Friedensbewegung, nicht nur aus der Perspektive der ArbeiterInnenbewegung,
nicht nur aus der Perspektive der Linken, sondern vor allem aus der
Perspektive Jesu Christi fragen: Wessen Freiheit und wessen Unfreiheit?
Hat sie gemeint, die Freiheit derer, die schon genug haben oder schon viel
zu viel haben. Ich erinnere mich noch - und das gerade eine wichtige Zeit
unserer christlichen Tradition - an die Revolution in Nicaragua Ende der
70er Jahre und in den 80er Jahren. Ich erinnere an "Die Vision" von Ernesto
Cardenal, der formuliert hat: "Es gibt keine Freiheit, so lange es die
Freiheit gibt, andere auszubeuten."
Freiheit ist wichtig. Oder meint Frau Dra. Merkel jene Freiheit, die in
diesem großartigen Text einer wirklichen Kirchenlehrerin, in diesem Text von
Dorothee Sölle formuliert ist:
"Frei werden wir erst,
wenn wir uns mit dem Leben verbünden,
gegen die Todesproduktion
und die permanente Tötungsvorbereitung.
Frei werden wir
weder durch den Rückzug ins Private, ins "Ohne mich",
noch durch Anpassung an die Gesellschaft,
in der Generäle und Millionäre besonders hoch geachtet werden.
Frei werden wir,
wenn wir aktiv, bewusst und militant für den Frieden arbeiten."
Und wir sollten die Frau Bundeskanzlerin fragen:
-
Meinen Sie die Freiheit einer gerechteren Verteilung?
- Meinen Sie die Freiheit von größeren Lebenschancen für möglichst
vielen Menschen, für möglichst alle Menschen in einer Gesellschaft bei uns
und in Perspektive für möglichst alle Menschen auf der Welt?
- Meinen Sie diese Freiheit zum Engagement für Gerechtigkeit,
Frieden und Bewahrung der Schöpfung?
Oder wenn Sie uns versuchen einzureden - und sie waren zumindest in
Frankreich und in den Niederlanden nicht erfolgreich, dass wir eine
EU-Verfassung brauchen, in der die Aufrüstungsverpflichtung und in der die
Freiheit der Bank, der Europäischen Zentralbank, die die Unfreiheit für
viele Leute bedeutet, festgeschrieben ist, dann sagen wir:
"Bei dieser EU-Verfassung steht nicht der Mensch im Mittelpunkt, sondern nur
das Geld. Diese Verfassung betet nicht Gott an, sondern den Mammon."
Diese Worte stammen von Kaplan Franz Sieder, Betriebsseelsorger in Amstetten
in Niederösterreich, Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Christinnen und
Christen für die Friedensbewegung und Geistlicher Assistent von Pax Christi
Österreich.
Und wenn Sie uns jetzt wieder einreden und sei es im Zusammenhang mit dem
Iran, mit dem Kaukasus oder sonst wo, dass nur durch Krieg Humanität und
Menschenrechte gesichert, nur durch Krieg Massenvernichtungsmittel
vernichtet werden können, dass es nur mit Krieg eine bessere Welt gibt, dann
sagen wir mit dem verstorbenen Papst Johannes Paul II.: "Krieg ist immer
eine Niederlage der Menschheit." Ohne Zusatz, ohne Wenn und Aber, ohne
irgendwelche Ausflüchte.
Und gerade an seiner Person sehen wir einen Lernprozess eines Christen, der
je älter er wurde, immer kritischer geworden ist, gegenüber der
kapitalistischen Globalisierung, immer klarere Worte gefunden hat, gegen
Krieg und Neoliberalismus. Und das sei vor allem auch jenen ins Stammbuch
geschrieben, die immer nur die Individualmoral der Kirche sehen und die
hochhalten - sie ist wichtig -, die aber immer dann auf die Sozialmoral
vergessen.
Es gibt weltweit viele wertvolle und wichtige Beispiele des Handelns, sei es
die Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Überwindung der Gewalt,
seien es die Beiträge von Christinnen und Christen zur Dekade der Vereinten
Nationen für eine Kultur des Friedens und Gewaltfreiheit für die Kinder
dieser Welt, seien es die Beiträge der Christinnen und Christen, ja
eigentlich aus allen Weltreligionen und auch nichtreligiösen
Weltanschauungen im Rahmen der Anti-Globalisierungs-, ja eigentlich der
globalisierungskritischen Bewegung, dieser Globalisierung der Solidarität,
sei es die Vorbereitung jetzt auf die in zwei Jahren stattfindende
Europäische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung...
Ich möchte zum Schluss auf drei kleine Beispiele aus Österreich hinweisen,
wie wohl ich weiß gerade durch die vielen engagierten Menschen beim Kasseler
Friedensratschlag, dass wir von Freundinnen und Freunden aus Deutschland
sehr viel lernen können und die Friedensbewegung in Deutschland viel stärker
als in Österreich ist.
Wir sammeln jedes Jahr zum 6. August, dem Jahrestag des Atombombenabwurfes
auf Hiroshima, Grußadressen für die Unterstützung unserer Forderung nach
Vernichtung aller Atomwaffen und für eine atomwaffenfreie Welt. Wir wenden
uns alle Menschen - an Prominente und BasisaktivistInnen, an Menschen
unterschiedlicher politischer Überzeugungen und Religionen. Und gerade da
haben sehr viele Menschen aus den Kirchenleitungen und aus der Kirchenbasis
Grußadressen geschickt: Kardinal Franz König, Fulbert Steffensky und
Dorothee Sölle, Bischof Jacques Gaillot und Bischof Erwin Kräutler und und
und - das ist eine lange Liste, und selbstverständlich auch viele Leute von
der Basis, aus den Pfarren. Die Grußadressen finden Sie unter
www.hiroshima.at
Das zweite Beispiel ist das Ökumenische Sozialwort, das alle christlichen
Kirchen nach einem langen Diskussionsprozess an der Basis der Kirchen und
unzähligen Gesprächen mit vielen Menschen in den Initiativen, in den
Gewerkschaften, in den verschiedenen Hilfseinrichtungen, in den
verschiedenen Bewegungen, auch mit der Friedensbewegung veröffentlicht wurde
und an dem jetzt weiter gearbeitet wird. Es wird jedes Jahr evaluiert, was
haben wir in den Kirchen umgesetzt, was haben wir in der Gesellschaft
durchgesetzt, wo müssen dran bleiben, wo müssen wir uns engagieren. Das
Sozialwort finden Sie unter www.sozialwort.at
Und zum Schluss eine Erfahrung, ich bin leider kein Theologe, aber ich
durfte eine Karenzvertretung machen in der Betriebsseelsorge. Die
Betriebsseelsorge ist eine Einrichtung der Kirchen, die einerseits in den
Kirchen für die soziale Frage sensibilisieren will, die jene politische und
ökonomische Alphabetisierung macht - von der das Sozialwort nach einem Zitat
von Dorothee Sölle spricht, und die ihr Christsein, ihr Christinsein gerade
in der Intention des Propheten Jesaja leben will. Die Betriebsseelsorge ist
eine Einrichtung, die zu den Arbeiterinnen und Arbeitern geht. Ihr kennt
vielleicht die französischen ArbeiterInnen-Priester, die in den Fabriken
arbeiten, und es gibt auch viele Betriebsseelsorger und
auch -seelsorgerinnen, die in Fabriken arbeiten, ja sie müssen sogar
zeitweise in Betrieben als HilfsarbeiterInnen arbeiten. Es gibt auch
Beispiele wie die Christliche Basisgemeinde der VÖEST Linz, einem großen
Stahlbetrieb in Oberösterreich, wo der Pfarrer im Betrieb arbeitet und die
Gemeinde von einer Pastoralassistentin geleitet wird. Hier geht es konkret
um Parteinahme mit den Arbeiterinnen und Arbeitern, mit den
Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Kirche in der Arbeitswelt - das
Leben, sagt Kardinal Cardijn, ist das fünfte Evangelium.
Und so ist die Betriebsseelsorge auch ein Beispiel, dass wir eine Kirche
brauchen, die eine befreiende Kirche, eine jesuanische Kirche, eine Kirche
im Sinne des Propheten Jesaja.
Obwohl wir wissen, dass das alles sehr schwierig und Konstantin Wecker hat
gestern beim Konzert gesagt und das ist ein sehr schwerer Satz: "Es kommt
nicht auf das Siegen an, sondern auf das Tun." Martin Buber sagte: "Erfolg
ist kein Name Gottes".
Und daher möchte ich zum Schluss aus einer Weihnachtspredigt von Dorothee
Sölle uns allen, auch mir, Mut zusprechen, an einer gerechteren, an einer
friedlicheren, an einer schöpfungsgerechteren, an menschlicheren Welt
mitzuarbeiten, Mut zuzusprechen, an einer Kirche mitzuarbeiten, die in eine
Befreiungskirche verwandelt wird, Mut zuzusprechen, nicht aufzugeben:
Dorothee Sölle hat am Schluss dieser Weihnachtspredigt gesagt:
"die herrschenden können die schrift an der wand nicht mehr übersehen
die beherrschten kehren sich ab vom kopfnicken
die Waffenhändler wagen nicht mehr über die am boden liegenden zu steigen
die bischöfe geben die schlüpfrigen reden auf und sagen nein
die freunde und freundinnen jesu blockieren die Straßen des overkill
die schulkinder erfahren die Wahrheit
woran sollen wir einen engel erkennen
außer dass er und sie mut macht wo angst war
freude wo nicht mal mehr trauer wuchs
einspruch wo sachzwang herrschte
abrüstung wo terror glaubwürdig drohte
fürchte dich nicht der widerstand wächst
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, fürchtet euch nicht, der
Widerstand wächst.
* Alois Reisenbichler, Wien, Arbeitsgemeinschaft Christentum und Sozialdemokratie (ACUS)
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