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"So viel "Pazifismus" wie heute hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben"

Interview mit Peter Strutynski über den bevorstehenden Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel

Eine Woche vor der Eröffnung des "Friedenspolitischen Ratschlags" erschien in der Wochenzeitung "unsere zeit" (uz) ein Interview mit einem der Organisatoren, Peter Strutynski. Die Überschrift lautete: "Wir müssen die Moschee im Kiez lassen". Im Folgenden dokumentieren wir das Interview, das in der uz aus Platzgründen um die dritte Frage gekürzt wurde, im vollen Wortlaut.

Interview mit Peter Strutynski, AG Friedensforschung an der Uni Kassel und einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Der Friedenspolitische Ratschlag wird von der AG Friedensforschung der Uni Kassel organisiert. Mehrere Hundert Menschen aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Ausland werden über die Entwicklungen in der Welt, in Europa und hier zu Lande beraten. Die Referentinnen und Referenten aus der Friedens- und Konfliktforschung sowie aus der Praxis sind allesamt Experten auf ihrem Gebiet. Von den Kasseler "Ratschlägen" gingen immer schon wichtige Impulse für die deutsche und europäische Friedenspolitik aus.

Das Motto des diesjährigen Friedensratschlages am 4. und 5. Dezember in Kassel lautet "Frieden durch Krieg?" Wie rhetorisch bzw. aktuell ist diese Fragestellung?

Die Fragestellung ist aktuell, aber keineswegs rhetorisch. Seit einiger Zeit wird doch von interessierter Seite der Eindruck vermittelt, als sei die Herstellung friedlicher Zustände durch den Einsatz militärischer Mittel zu erreichen. Aggressionen ŕ la Jugoslawien 1999 oder Afghanistan 2001 gelten als gelungene Beispiele für die segensreiche Wirkung militärischer Gewaltanwendung. Dabei wird großzügig darüber hinweg gegangen, dass erstens die angezettelten Kriege selbst zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung sowie unermesslichen materiellen Schaden angerichtet haben und dass sich - zweitens - die Situation in den "befriedeten" Nachkriegsgesellschaften - kaum gebessert hat. Man sehe sich nur die Lage im Kosovo an, wo sich die humanitäre Situation - derentwegen seiner Zeit angeblich interveniert wurde - dramatisch zuungunsten der serbischen Minderheit verändert hat. Unter den Augen der UN-Truppen wurden mehr als 100.000 Serben aus dem Kosovo vertrieben, orthodoxe Kirchen abgefackelt und Menschen ermordet. In Afghanistan sind die Taliban aus ihren Machtpositionen vertrieben worden, die Herrschaft im Land gehört aber im wesentlichen denselben Kräften, Kriegs- und Stammesfürsten, die bereits vor dem Krieg in ihrem jeweiligen Sprengel das Sagen hatten. Die große Herausforderung für Friedensforschung und Friedensbewegung besteht heute darin, den herrschenden Diskurs, wonach Militär und Krieg wieder zum normalen Mittel der Politik gehören sollen, zu durchbrechen. Unsere Botschaft lautet: Weder Menschenrechte noch ein nachhaltiger Frieden lassen sich herbeibomben.

Colin Powell geht, Condoleezza Rice kommt. Haben wir mit einer weiteren Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik zu rechnen?

Neben dem Wechsel von Powell zu Rice gab es ja noch mehr Veränderungen im Kabinett. Die wichtigste: Der erzkonservative Justizminister Ashcroft wurde vom Folterbefürworter Gonzales ersetzt. Daneben wurden der Energie-, der Landwirtschafts- und der Familienminister ausgewechselt. Ich sehe in dem Personalkarussell keine grundlegende Neubestimmung der Politik. Insbesondere die Außenpolitik kann ich mir militarisierter gar nicht vorstellen. Übrigens ist die hier zu Lande üblich gewordene Stilisierung Colin Powells zu einem "gemäßigten" Außenpolitiker eine amnesieverdächtige Übertreibung. Ist denn sein militärischer Anteil am Golfkrieg 1991 und an den damaligen Kriegsverbrechen vergessen? Ist denn vergessen, dass Powell an der Verbreitung der Lüge von den irakischen Massenvernichtungswaffen aktiv beteiligt war, so als er in der denkwürdigen Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 5. Februar 2003 seine "Beweise" ablieferte? Und noch vor wenigen Tagen, als sein (erzwungener?) Rücktritt bereits verkündet war, beschuldigte er den Iran des Besitzes von waffenfähigem Atommaterial - eine Steilvorlage an jene Kräfte im Pentagon, die den Iran schon längst als das nächste Kriegsziel ins Visier genommen haben. Nein, ich glaube, dass es sich bei der Kabinettsumbildung nicht um eine Neujustierung der amerikanischen Außenpolitik handelt, sondern um interne Rivalitäten unter Gleichgesinnten. Bestimmte Vordenker der neokonservativen Wende, enge Berater des Bush-Cheney-Clans wollen aus dem Schatten heraustreten und ins erste Glied der Administration aufrücken. Das Gefährliche an der neuen Situation hat eher etwas mit der Wiederwahl Bushs zu tun: Für seine neoimperialistische Hegemonial- und aggressive Militärpolitik haben er und seine Freunde den Rückenwind erhalten, der sie zu weiteren Kriegsabenteuern anstacheln könnte.

Viele Politiker und Medien gefallen sich seit einiger Zeit in der Pose des US-Kritikers. Wie viel davon ist echte Sorge um den Frieden, wie viel deutscher Nationalismus?

Es gab nach der Präsidentenwahl nicht nur warnende und kritische Stimmen. Viele Kommentatoren in den meinungsbildenden Zeitungen sind sogar in einen Schmusekurs verfallen: Bush werde in seiner zweiten Amtszeit etwas für seinen guten Ruf in den Geschichtsbüchern tun und mehr Zeit auf seiner Ranch als im Weißen Haus verbringen (als ob das allein schon friedensfördernd sei). Gleichzeitig wurde der deutschen Regierung und der Europäischen Union geraten, ihre "Blockadehaltung" gegenüber den USA aufzugeben und sich den Prämissen der US-Politik anzunähern. Im Klartext heißt das, EU-Europa solle seine eigenen militärischen Kapazitäten ausbauen und sich - zusammen mit den USA, aber auch ohne sie - verstärkt in internationalen Krisen "engagieren" - auch mit Truppen, versteht sich. Diese "atlantische" Haltung verschränkt sich auf eigenartige Weise mit gaullistischen und euronationalistischen Träumen, die EU und mit ihr die führenden Staaten Kerneuropas als ökonomisches, politisches, kulturelles und eben auch militärisches Gegengewicht zu den USA etablieren zu können. Die Bundesregierung versucht traditionell zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln. Einerseits Juniorpartner der "amerikanischen Freunde", andererseits zunehmend selbstbewusster auftretende "Mittelmacht" mit globalen Interessen. Auf politisch-diplomatischer Ebene drückt sich das in dem peinlichen Bemühen um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat aus. Auf militärischem Gebiet vollzieht sich die vollständige "Transformation" der Bundeswehr in eine weltweit einsetzbare Interventionsarmee. Auch wenn diese nur im NATO- oder im EU-Rahmen operieren soll, lassen sich damit "nationale Interessen" verfolgen. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass der neudeutsche Nationalismus fast ausschließlich im europäischen und transatlantischen Gewand daherkommt.

In den Niederlanden, aber auch in Deutschland entsteht ein militanter Anti-Islamismus, der viele Migranten immer weiter in die (Selbst)isolation treibt. Ist der innere Friede in Europa nachhaltig bedroht?

Ohne dass ich etwas schönreden möchte: Wir müssen die Kirche im Dorf und die Moschee im Kiez lassen! Was sich in den Niederlanden abgespielt hat, ist nicht ohne weiteres auf andere Länder der EU zu übertragen. Eine Bedrohung des "inneren Friedens" in Europa sehe ich zur Zeit deshalb nicht, weil die holländischen Ereignisse nicht als eine Art Fanal gewirkt haben. Es ist in den sozialen Brennpunkten der französischen Metropolen mit ihren hohen Anteilen an Zuwanderern aus Nordafrika weitgehend bei den "normalen" Diskriminierungen und Übergriffen geblieben (die schlimm genug sind); in Deutschland ist ein friedliches Nebeneinander (nicht Miteinander) noch nicht ernsthaft in Gefahr. Auf der anderen Seite müssen wir aber sehen, dass sich die sozialen Probleme in Deutschland und anderen europäischen Ländern künftig eher noch verschärfen werden - wofür bei uns Hartz IV nur ein Beispiel ist. Mit der weiteren sozialen Ausgrenzung von Minderheiten - Türken und andere Ausländer, Russlanddeutsche, Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger -, die sich mit ihren Mitteln gegen die Zustände zu wehren beginnen, entsteht der Boden für rassistische und fremdenfeindliche Ressentiments. Die um ihren sozialen Status fürchtenden Mittelschichten einschließlich der Angehörigen der besser situierten Arbeiterklasse lassen sich in Krisenzeiten leicht gegen die ganz Armen dieser Gesellschaft mobilisieren. Die Hauptverantwortung dafür tragen aber die Politiker mit ihrem neoliberalen Umbau des Staates in einen Selbstbedienungsladen der Reichen und Superreichen und mit ihren auf soziale Spaltungen zielenden Populismen. Der hessische CDU-Ministerpräsident hat seine erste Wahl vor sechs Jahren mit einer ausländerfeindlichen und antiintegrationistischen Kampagne gewonnen. Und wenn ich es recht sehe, leisten Schröder mit seiner "Parallelgesellschaft" und Stoiber mit der Reanimierung der "Leitkultur" einer wachsenden Islamophobie Vorschub.

Die gegenwärtige Aktion der "Koalition der Willigen" in Falludschah markiert eine weitere Brutalisierung des Irak-Konfliktes. Gleichzeitig beteiligt sich die Bundeswehr immer offener - etwa als Ausbilder - am Irakkrieg. Was muss geschehen, damit der Irak wirklich zum Frieden kommt?

Wenn ich das wüsste, würde ich mich um einen Termin bei Kofi Annan bemühen. Ich habe kein Rezept für einen Friedensprozess im Irak, ich kann aber ziemlich genau sagen, wie es nicht geht. Vielleicht lassen sich aus der Kritik der herrschenden Besatzungspolitik weiter gehenden positive Gestaltungsansätze entwickeln. Meine Kritik an der Besatzungspolitik resultiert zuallererst aus der grundsätzlichen Ablehnung des Krieges selbst, gegen den noch vor 20 Monaten Millionen und Abermillionen Menschen in der ganzen Welt auf die Straße gegangen sind. Der Krieg war völkerrechtswidrig und ganz und gar auf Lügen aufgebaut, die ich hier nicht wiederholen muss. Die Besatzungssoldaten einer Interventionsarmee können im besetzten Land wohl nur als Fremdherrschaft eingestuft werden und dürfen sich nicht wunder, wenn ihnen statt Sympathie nur Hass und Ablehnung entgegenschlägt. Hinzu kommt, dass die US-Administration mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit alles falsch gemacht hat, was man nur falsch machen konnte. Ich möchte nur ein paar Beispiele nennen: - die Zulassung von Plünderungen großen Stils (viele Iraker ahmten anfänglich nur nach, was GIs mit der Zerstörung und Plünderung der Präsidentenpaläste vorgemacht hat); - die Ethnisierung bzw. Konfessionalisierung der irakischen Gesellschaft (Sunniten/Schiiten); - der offenbar von oben gebilligte, wenn nicht sogar angeordnete Einsatz von Foltermethoden in US-Gefangenenlagern; die systematische Demütigung und Entwürdigung irakischer Gefangener mochte vielleicht deren Willen brechen, brachte aber die ganze arabische Welt gegen die Peiniger auf; - der Einsatz unverhältnismäßiger Kampfmittel in der sog. Nachkriegszeit (z.B. Luftangriffe auf Falludscha, Nadschaf, Mosul, Ramadi und andere Städte); - die weitere Inanspruchnahme der obersten militärischen Gewalt, auch nachdem die Macht an eine - allerdings wieder handverlesene - irakische Übergangsregierung übertragen wurde. Das seit Monaten herrschende Chaos und Blutvergießen kann - wenn überhaupt - nur durch eine völlig neue Haltung gegenüber dem Irak beendet werden. Dazu gehören neben dem raschen Abzug aller Besatzungstruppen die vollständige Rückgabe der Souveränität an den Irak, die baldige Durchführung freier, allgemeiner und gleicher Wahlen (unter Aufsicht der UN) und der Beginn von Reparationszahlungen der Kriegsallianz (in erster Linie der USA und Großbritanniens) an den Irak. Ich weiß: Das alles ist noch keine Garantie für einen baldigen Frieden. Es könnte aber ein Schritt dahin sein. Alles weitere hängt natürlich von den politischen, religiösen und sozialen Kräften im Irak selbst ab, deren wahre Absichten aber nur sehr schwer zu beurteilen sind.

Bundeswehr und deutsche Rüstungsfirmen sind in beinahe alle bewaffneten Konflikte rund um den Erdball verwickelt - mit immer noch steigender Tendenz. Das sehen viele. Warum bleiben Massenaktionen aus?

Mit der Friedensbewegung ist es wie mit der Konjunktur: Sie durchläuft Boomphasen - das sind leider immer weit fortgeschrittene Vorkriegssituationen und beginnende Kriege - und Abschwünge. Dies war so vor und nach der Raketenstationierung in den 80er Jahren, dies war so vor und während des zweiten Golfkriegs 1991 und dies erleben wir vor und während des Irakkriegs 2003 (und 2004, denn der Krieg ist noch nicht beendet). Ein weiteres Phänomen ist, dass der Protest um so stärker sich entfalten konnte, wenn der Hauptadressat die Militärmacht Nr. 1 in dieser Welt, die USA, ist. Das hat nichts mit Antiamerikanismus zu tun, sondern mit der nicht ganz von der Hand zu weisenden Überlegung, dass von den USA seit Jahren die gefährlichsten Aggressionen und Völkerrechtsverletzungen ausgingen. Der Bundesregierung muss man bescheinigen, dass sie ihre Militarisierungspolitik seit den 90er Jahren mit großem Geschick vor der Öffentlichkeit geheim hält oder als zivilisatorisches Projekt zu bemänteln versucht. Und wenn sie doch in die Offensive geht und den Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee begründet, tut sie so, als gäbe es hierzu keine Alternative. Dabei kommt ihr der Umstand zugute, dass es in der Außen- und Sicherheitspolitik zwischen den Parteien des Bundestags (die beiden tapferen PDS-Frauen ausgenommen) keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten gibt. Wenn wir uns die 99-prozentige Akklamation jeder militaristischen Sauerei im Bundestag vergegenwärtigen, dann bin ich mit der immer noch überwiegenden Ablehnung militärischer Abenteuer durch die Bevölkerung hoch zufrieden. So viel "Pazifismus" wie heute hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Eine ganz andere Frage ist, warum diese Mehrheit der Bevölkerung nicht zum Protest auf die Straße geht. Mir fallen hier nur zwei vorläufige Antworten ein: Erstens ist der "Leidensdruck" der Menschen infolge der Militarisierung nicht groß genug, will sagen: Nur wenige Menschen fühlen sich durch die Umrüstung der Bundeswehr unmittelbar betroffen oder bedroht. Zweitens sehen die meisten Menschen heute keine Möglichkeit, die außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen der Bundesregierung auch nur im entferntesten durch außerparlamentarische Aktionen zu beeinflussen. Die Friedensbewegung muss diesen Mobilisierungshemmnissen Rechnung tragen, indem sie wieder mehr auf Aufklärung und gute Argumente setzt. Die Mühlen des Friedens mahlen manchmal eben langsamer.

Dieses Interview erschien - gekürzt - in der Sozialistischen Wochenzeitung "unsere zeit" am 26. November 2004. Homepage: http://www.unsere-zeit.de/


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