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Ein Ratschlag in finsteren Zeiten

Ein zusammenfassender Bericht über den Kasseler Friedensratschlag 2001

Von Peter Strutynski

Der 8. Friedenspolitische Ratschlag, der am 1. und 2. Dezember 2001 in der Universität Gesamthochschule Kassel durchgeführt wurde, stand am - vorläufigen - Ende einer sehr turbulenten und arbeitsreichen Periode deutscher und internationaler Friedensarbeit. Seit dem 11. September war der Friedensbewegung kein freies Wochenende und auch sonst keine Ruhe vergönnt. In den Sommermonaten noch damit beschäftigt, in einem letztlich vergeblichen Kleinkrieg mit Parlamentariern und Medien friedenspolitischen Widerstand gegen den Makedonieneinsatz von NATO und Bundeswehr argumentativ zu begründen und im außerparlamentarischen Raum zu organisieren, fielen der Friedensbewegung mit den monströsen Terroranschlägen von New York und Washington von einem Tag auf den anderen Aufgaben zu, die sie nach Lage der Dinge eigentlich gar nicht hätte bewältigen dürfen. Galt doch die Friedensbewegung bis dato als ein "toter Hund", für den es sich nicht einmal mehr lohnte mehr oder weniger hämische Nachrufe zu verfassen.

Das von interessierter Seite seit Mitte der 80er Jahre gebetsmühlenartig herbeigeredete Ableben der Friedensbewegung kann so endgültig doch nicht gewesen sein: Jedenfalls entfaltete sie nach dem 11. September Aktivitäten, die dem zweiten Bestandteil des Wortes "Friedensbewegung" wieder alle Ehre machten. Niemand wird die lokalen Aktionen, Veranstaltungen, Unterschriftensammlungen, Aufrufe, Mahnwachen, Demonstrationen und Kundgebungen zählen können, die seit dem 11. September fast ununterbrochen im ganzen Land statt fanden; und niemand weiß um die genaue Zahl der Menschen, denen die Bedrohung der Welt durch Terror und Krieg und durch die ihnen zugrunde liegenden Ursachen Anlass war, auf die Straße zu gehen und sich (wieder) politisch zu engagieren. Dass auch so viele junge Menschen, zumal Schüler und Studierende, darunter waren, hat den Friedens- und Antikriegsaktionen fast überall neue Impulse gegeben.

Das auf Aktionen gestützte Mammutprogramm, das sich Friedensaktivisten zumuteten, ließ lange Zeit auch die Vorbereitungen zum jährlichen Friedensratschlag in den Hintergrund treten. Galt es doch zunächst - auf Drängen vieler Basisinitiativen - einen "außerordentlichen" Ratschlag nach Kassel einzuberufen, auf dem sich die Friedensbewegung über die weltpolitische Bedeutung der Ereignisse des 11. September und die sich daraus ergebenden friedenspolitischen Dimensionen klar zu werden versuchen musste. Dass auf diesem innerhalb einer Woche am 22. September zustande gekommenen Treffen mit knapp 150 Teilnehmern aus über 60 Städten und Regionen die Grundlage und die ersten Vorbereitungen für zwei bundesweite Kundgebungen (Berlin und Stuttgart) geschaffen werden konnten, macht die Akzeptanz des Kasseler "Ratschlags" in großen Teilen der Friedensbewegung deutlich. Der "Friedensratschlag", ob er nun als zweitägiger Kongress am ersten Dezemberwochenende jedes Jahres oder als eintägige Ad-hoc-Aktionskonferenz zwischendurch stattfindet, hat sich im Lauf der letzten Jahre seinen Platz inmitten einer sehr vielgestaltigen Friedensbewegung erobert.

Dies zeigte sich auch beim "regulären" Ratschlag im Dezember. Trotz verständlicher Ermüdungserscheinungen der Friedensbewegung nach 11 Wochen Daueraktivität war der Kongress ähnlich gut besucht wie in den beiden Jahren zuvor. Es waren ca. 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 100 Städten Deutschlands sowie ein Dutzend Vertreterinnen und Vertreter von Friedensorganisationen aus der Schweiz, aus Österreich, Belgien, Frankreich, Schweden, Israel und Palästina anwesend. Die Liste der Referentinnen und Referenten liest sich fast wie ein kleines "Who is Who" der Friedens- und Konfliktforschung, obwohl gerade die gefragtesten von ihnen am Rande der Erschöpfung standen, da sie auch Wochen lang im Einsatz waren und bei unzähligen Veranstaltungen und Mediengesprächen viele Fragen zu beantworten hatten. Auch das ursprünglich vorgesehene Programm, das wieder den bewährten "Dreischritt" gewählt hatte ("Kriege verhindern - Rüstung vermindern - Den Frieden vorbereiten") und unsere friedenspolitischen Visionen und Alternativprogramme in den Mittelpunkt der Diskussion stellen wollte, musste den aktuellen Ereignissen Rechnung tragen und kurzfristig umgebaut werden. "Weder Terror noch Krieg" hieß dann das neue Motto, womit programmatisch angeknüpft wurde an die Hauptaussage der vielen lokalen, regionalen und bundesweiten Friedensaufrufe und -aktionen seit dem 11. September.

Großen Zuspruch hatten denn auch die Arbeitsgruppen und Foren, die sich mit dem sog. "Krieg gegen den Terror", sprich: dem anglo-amerikanischen Krieg gegen Afghanistan beschäftigten. Dabei wurde ein größerer thematischer Bogen gespannt: von der Geschichte und aktuellen Situation Afghanistans (Matin Baraki) über die Analyse der Großmachtinteressen, die sich in Afghanistan und den benachbarten zentralasiatischen Öl-Republiken zu einem brisanten Knäuel verdichten (Detlev Bimboes) bis zur Frage nach der explosiven und schier ausweglosen Lage im Nahen Osten, insbesondere im israelisch-palästinensischen Konflikt (Werner Ruf). Über den Weg Europas zu einer - wie es heute ausschaut - eigenständigen Militärmacht statt zu einer zivilen "Friedensmacht" wurde ebenso diskutiert (Michael Berndt und Tobias Pflüger) wie über die schon vor den Terroranschlägen sich abzeichnende Wende zu einer verstärkten weltweiten Aufrüstung, an der die hochentwickelten Staaten der NATO in besonderer Weise beteiligt sind, da sie sich sowohl als Technologieentwickler und Produzenten als auch als Händler der tödlichen Rüstungsgüter betätigen und obendrein ihr bedeutendes ökonomisches Gewicht in die Waagschale werfen, um gigantische neue Auf- und Umrüstungsprogramme zu realisieren (Andrea Kolling, Jürgen Grässlin, Wolf-Christian Paas). Wie forsch sich auch bei uns in der Bundesrepublik die Rüstungslobby und ihr verlängerter Arm in Person des Verteidigungsministers gegen wirtschaftliche und finanzpolitische Vernunft durchsetzen, zeigt zwei Wochen nach dem Ratschlag die einsame Entscheidung Scharpings zugunsten von 73 Transportflugzeugen A 400M, obwohl die vom Parlament dafür beschlossenen Verpflichtungsermächtigungen nur für maximal 40 Maschinen ausreichen.

Bearbeitet wurden auch die innenpolitischen Folgen des 11. September (Horst Bethge und Hans Christoph Stoodt). Vieles von dem, was heute als "Antiterror-Maßnahme" zum Schutz der "Inneren Sicherheit" angepriesen wird und bis Ende des Jahres in zahlreichen Gesetzesänderungen verankert wurde, gehört schon seit vielen Jahren auf die heimliche Agenda konservativer Law-and-Order-Politiker. Bernhard Nolz konnte in dem Arbeitskreis mit dem Titel "Die Freiheit stirbt mit Sicherheit" an seinem eigenen Fall schildern, wie sich im Schatten des Terrorismus auch hier zu Lande eine gefährliche Stimmung der Intoleranz und Repression breit machen kann. Dass Bernhard Nolz wegen einer kritischen Rede zur Solidarität mit den Opfern des 11. September vom Schuldienst suspendiert wurde, erinnert fatal an die dunkle Zeit der Berufsverbote in den 70er Jahren. Eine weitgehend selbst geschürte Anti-Terror-Hysterie nutzten und nutzen auch die Regierenden in Großbritannien und den USA zur Verschärfung ihrer Fremden- und Polizeigesetze. Es ist eine - allerdings erklärbare - Paradoxie, dass der fast globale Siegeszug des (ökonomischen) Neoliberalismus mit der Entliberalisierung und Entdemokratisierung von Staaten und Gesellschaften einhergeht. Aspekte dieses Zusammenhangs und des Zusammenhangs von Globalisierung und Barbarisierung (das letzte Heft der "Marxistischen Blätter" trägt den Titel "Globalisierung der Barbarei") wurden in einem eigenen Arbeitskreis unter dem Motto "Kriegsursache ´Globalisierung`" behandelt (Kurt Haymann und Ellen Diederich). Den Blick von den Kriegsursachen auf die Friedensursachen lenkte ein kleinerer, aber sehr "feiner" Arbeitskreis unter dem Thema "Dem Militär den Boden entziehen: Militär und Biosphäre", in dem Knut Krusewitz von der Friedenswerkstatt Rhön sein theoretisches Modell einer ökologischen Friedenspolitik mit praktischen Beispielen untermauern konnte. - Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass von den vielen Arbeitsgruppen lediglich eine mangels Masse nicht stattgefunden hat: Es sollte dort um "Atomwaffen und Raketenabwehr" gehen (Roland Blach von der Kampagne "Atomwaffen abschaffen" war als Referent vorgesehen). Es wäre aber falsch, den Teilnehmern allgemein Desinteresse an dem Thema oder gar eine Verharmlosung der nach wie vor existierenden Gefährdungen der Menschheit durch Atomwaffen zu unterstellen. Eher war es so, dass die Themen der anderen Foren den Teilnehmern aktuell mehr "unter den Nägeln" brannten.

Mit der gegenwärtigen politischen Situation, mit den Folgen der Terroranschläge, dem völkerrechtswidrigen Bombenkrieg in Afghanistan und mit dem kapitalismuskritischen Diskurs der Globalisierungskritiker befassten sich die einleitenden Plenumsvorträge (Peter Strutynski, Norman Paech und Herbert Schui). Deren Themen wurden am Sonntag (2. Dezember) unter anderem in vier größeren Foren und der abschließenden Podiumsdiskussion variiert. Es ging hier um eine nüchterne Bestandsaufnahme der vielfältigen Kooperationsbeziehungen zwischen Friedensbewegung, Politik, Gewerkschaften, Kirchen und Friedensforschung. Ein Fazit daraus lautet: Die von der Friedensbewegung als so schmerzlich empfundene friedenspolitische Enthaltsamkeit großer Teile der Kirchen und der Gewerkschaften - von der "Politik", soweit sie parlamentarisch verortet wird, soll hier erst gar nicht die Rede sein - ist nicht zuletzt auch ein Ergebnis der relativen Schwäche der Friedensbewegung selbst. Auch von ihr müssen neue Impulse kommen und Angebote zur konkreten Zusammenarbeit vor Ort gemacht werden. Die Initiative zur Gründung eines bundesweiten Netzes "Gewerkschafter/innen für den Frieden" (bzw. ".. gegen den Krieg") wurde allgemein für notwendig erachtet. Im kirchlichen Bereich gibt es schon heute sehr viel mehr Möglichkeiten der Zusammenarbeit, die allerdings längst nicht genügend genutzt werden.

In einem vielbeachteten und zur Kontroverse herausfordernden Plenumsvortrag warf der Friedens- und Konfliktforscher Wolfgang Vogt eine Reihe wichtiger Fragen auf, die nicht nur das schwierige Verhältnis der Friedenswissenschaft zur Politik berührten, sondern auch der fundamental-pazifistischen Friedensbewegung eine paar neue Denkanstöße geben sollten. Auf Widerspruch stieß insbesondere Vogts positiver Bezug auf das Militär als "ultima ratio" im Kampf gegen den Terrorismus, falls alle anderen zivilen Formen der strafrechtlichen Verfolgung ausgeschöpft seien und ein internationales Vorgehen strikt an die Regeln des Völkerrechts gebunden wäre und die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren würde. Unmittelbare praktische Konsequenzen, welche die antimilitärischen Grundüberzeugungen der Friedensbewegung auch nur ansatzweise in Frage stellen könnten, dürften sich aus dieser Position derzeit kaum ergeben. Eine genaue Prüfung der Formen terroristischer Aktionen und der angepassten staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen würde nämlich zweifelsfrei ergeben, dass dem Terror, wie er sich bislang zeigte, in keinem Fall mit Krieg (der selbst eine Form von Terror darstellt), sondern nur mit rechtstaatlichen, nicht-militärischen Mitteln zu begegnen ist. Vor allem in langfristiger Perspektive gilt es dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen - und aller Erfahrung nach ist der Krieg selbst Bestandteil dieses Nährbodens.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion konnten die Vertreter verschiedener "Bewegungen" noch einmal herausarbeiten, worin die Defizite der Friedensbewegung liegen und welche gemeinsamen Anstrengungen unternommen werden sollten, um der großen Kriegskoalition in Berlin, London Brüssel und Washington eine wirkungsvollere "Allianz für den Frieden" entgegenzusetzen. Reinhard Voss von pax christi erinnerte an die vielen positiven Beiträge für den Frieden, die in den vergangenen Jahren aus den Reihen der Kirchen gekommen sind. Horst Schmitthenner wies noch einmal auf die Position der IG Metall hin, die sich gegen den Afghanistan-Krieg ausgesprochen hatte, wofür ihr Bundeskanzler Schröder am liebsten einen Maulkorb verpasst hätte. Wolfgang Gehrcke, der als einziger Bundestagsabgeordneter auf dem Ratschlag zugegen war, schilderte die Schwierigkeiten der kleinen PDS-Fraktion, allen Ausgrenzungsversuchen zum Trotz der Friedensbewegung auch im Parlament eine Stimme zu verleihen. Peter Wahl, der als Vertreter von ATTAC-Deutschland gekommen war, sprach von der fast unheimlichen Welle des Zuspruchs, den seine Organisation zur Zeit erfahren würde. Lokale Gruppen würden zur Zeit überall im Land gegründet, und zwar - die Friedensbewegung vernahm´s mit Wehmut - vor allem von jungen Leuten. Schließlich ließ Lühr Henken (Hamburger Forum und Bundesausschuss Friedensratschlag) keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Friedensbewegung - dies gilt zumindest für das Spektrum, das sich in Kassel traf - ihre Kritik am herrschenden Kriegskurs weiter entwickeln wird. Wichtig sei vor allem der Blick auf die deutsche (Sonder-)Rolle im europäischen und NATO-Konzert. Die Auf- und Umrüstungsprogramme des Verteidigungsministeriums, die sich in den nächsten Jahren auf über 200 Mrd. DM belaufen würden, sollen Deutschland weltweit kriegseinsatzbereit machen. Insofern mache auch der vor einem knappen Jahr geborene Appell "Kriege verhindern - Einsatzkräfte auflösen!" weiter Sinn. Die wichtigsten Positionen der Friedensbewegung sind in einer Erklärung zusammengetragen worden, die der Bundesausschuss Friedensratschlag im Anschluss an den Kongress herausgegeben hat.

Eine sehr subjektive Einschätzung am Schluss: Die Qualität der Friedensratschläge kann man nicht zuletzt daran messen, wie die Teilnehmer/innen miteinander umgehen. Die großen politischen Kontroversen um friedenspolitische Grundsatzfragen gab es nicht mehr. Im Mittelpunkt stand der Meinungsaustausch darüber, wie die Informationen und Positionen der Friedensbewegung in breitere Bevölkerungskreise getragen werden können. Es gibt keine eindeutige Mehrheit in der Bevölkerung für den Afghanistan-Krieg. Es ist zur Zeit aber auch nicht möglich, die Breite der kriegsunwilligen Bevölkerung im öffentlichen Raum zum Ausdruck zu bringen. Die Demonstrationen in Berlin und Stuttgart, so gut sie auch waren, haben dies letztlich auch nicht geschafft. In Kassel drehte sich daher alles um die Frage, wie man auf den positiven Erfahrungen der Arbeit der letzten Monate aufbauen könnte. Entsprechend lebhaft und solidarisch waren die Gespräche während des Kongresses und beim "gemütlichen" Small Talk, der am Samstagabend in toller Atmosphäre in den Räumen des Gewerkschaftshauses stattfand. Auch hier war man sich einig: Gäbe es den Kasseler Friedensratschlag nicht, man müsste ihn erfinden. Das fanden übrigens auch die ausländischen Gäste, die in ihren eigenen Ländern kaum etwas Vergleichbare haben. Alois Reisenbichler aus Wien legte im Abschlussplenum ein sehr persönliches Bekenntnis ab: Immer wenn in Wien die Weihnachtsbeleuchtung beginnt, freue er sich doppelt: Auf Weihnachten natürlich, aber mindestens ebenso auf den unmittelbar bevorstehenden Ratschlag in Kassel. Alois ist ein notorischer Wiederholungstäter.


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