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Kein Frieden mit Atomwaffen - 45. Jahrestag der "Göttinger Erklärung"

Erklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative "Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit"

Mit ihren Plänen zur Atombewaffnung, Raketenabwehr und Weltraumrüstung gefährdet die US-Regierung das gesamte System internationaler Sicherheit

12. April 2002 - Erklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative "Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit" e. V. anläßlich des 45. Jahrestages der Göttinger Erklärung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr

Am 12. April 1957 sprachen sich 18 Atomwissenschaftler in der "Göttinger Erklärung" dafür aus, daß sich ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Sie erklärten, sie seien nicht bereit, sich "an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen".

45 Jahre später, 10 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Beendigung des Ost-West-Konflikts, bleibt die Erklärung aktuell. Es gibt weltweit mehr als 31.000 nukleare Sprengsätze, von denen etwa 95% von den USA und Russland betrieben werden. Während Frankreich und Großbritannien ihre Kernwaffenarsenale beibehalten, arbeiten China, Israel, India und Pakistan weiter am Aufbau eigener Potentiale. Die Welt droht aufs Neue in einer nuklearen Rüstungsspirale zu versinken, wenn die jüngsten Aufrüstungspläne der USA realisiert werden. Sie widersprechen eklatant den völkerrechtlichen Verpflichtungen.

Dies betrifft besonders den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV), in dem die USA wie alle Atomwaffenstaaten sich zur Verhinderung eines nuklearen Wettrüstens und zur umfassenden nuklearen Abrüstung verpflichtet haben. Dieser Vertrag, der von nahezu allen Staaten unterzeichnet wurde, wird derzeit in New York überprüft. Dabei wird offenkundig, daß die Bush-Regierung weit hinter die gemeinsame NVV-Erklärung vom vergangenen Jahr zurückgefallen ist, in der die Umsetzung der nuklearen Abrüstung in 13 praktischen Schritten ausdrücklich bekräftigt wird.

Die jüngst bekannt gewordenen Aufrüstungspläne der USA stehen dazu in direktem Gegensatz:
  1. Statt die "Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitspolitik zu vermindern und das Risiko ihres Einsatzes zu minimieren", (wie in Schritt 9 der gemeinsamen Erklärung vereinbart), spielen die USA im Rahmen ihrer erweiterten Nukleardoktrin verschiedene Szenarien durch, in denen Atomwaffen gegen eine weiten Bereich von Zielen zum Einsatz kommen.
  2. Zugleich betreiben die USA derzeit eine Reihe von Entwicklungsprogrammen, um ihre nukleare Streitmacht für die nächsten fünf Jahrzehnte aufrecht zu erhalten und zu modernisieren. Dazu gehören Atomwaffen mit "niedriger Sprengkraft" (mini nukes) gegen ein breites Spektrum potentieller Gegner ebenso wie die Entwicklung neuer Silo- und U-Boot-gestützter Atomraketen und die Schaffung einer neuen nuklearen Infrastruktur.
  3. Desweiteren soll im Haushaltsjahr 2006 nach langer Pause die Produktion des Kernwaffenstoffs Tritium wiederaufgenommen werden. Dies würde die Genfer Verhandlungen über einen Produktionstopp für Kernwaffenmaterialien, die ohnehin seit Jahren in der Sackgasse sind, noch weiter erschweren.
  4. Höchst bedenklich ist die ins Auge gefaßte nukleare Zielplanung der USA gegen andere Atomwaffenstaaten, besonders gegen Russland und China. Damit wird auch gegen die 1995 unterzeichnete Erklärung verstoßen, in denen die Atomwaffenstaaten entsprechende Sicherheits- und Nichtangriffs-Garantien aussprechen.
  5. Da die Atomkriegsplanung der USA in Widerspruch steht zu den Bedingungen, unter denen Russland den START-II-Abrüstungsvertrag ratifiziert hat, bleibt die Umsetzung dieses Vertrages ebenso in den Sternen wie weitere Verhandlungen über START-III.
  6. Da die USA auch noch den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen aufgekündigt haben, steht das gesamte System strategischer Abrüstung und Rüstungskontrolle mit Russland auf dem Spiel. Hinzu kommt, daß der START-I-Vertrag im Jahr 2009 ausläuft.
  7. Dadurch daß die USA einen großen Teil ihrer Atomwaffen nicht vollständig verschrotten, sondern tausende von Waffen lediglich außer Dienst stellen und in Reserve halten, bleibt ihre nukleare Abrüstung jederzeit umkehrbar, was bei anderen Staaten Unsicherheiten erzeugt und Gegenmaßnahmen provoziert.
  8. In der neuen Atomkriegsplanung wird die Wiederaufnahme von Atomwaffentests in weniger als einem Jahr empfohlen. Wenn auch andere Atomwaffen-Staaten oder -aspiranten diesem Beispiel folgen, könnte dies dem umfassenden Atomwaffen-Teststoppvertrag, der bislang nicht vom US-Senat ratifiziert wurde, den Todesstoß versetzen.
  9. Da ein Verbot von Atomwaffentests eine wichtige Vorbedingung für die Verlängerung des NVV im Jahr 1995 war, wird dadurch das nukleare Nichtverbreitungsregime erheblich geschwächt
  10. Zusammen mit den Versuchen der USA, eine Stärkung der Biowaffenkonvention zu verhindern, wird der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen Tür und Tor geöffnet und dem möglichen Zugriff von Terroristen darauf Vorschub geleistet.
  11. Eine erhebliche Destabilisierung ist auch von den Raketenabwehrplänen der USA zu erwarten sowie von den Aktivitäten und Planungen für den Krieg im Weltraum, mit denen die USA eine Dominanz im All anstreben. Um dies zu erreichen, scheuen Hardliner nicht davor zurück, Weltraumwaffen zu entwickeln oder gar zu stationieren und damit die im Weltraumvertrag von 1967 von der Staatengemeinschaft vereinbarte friedliche Nutzung zur Makulatur zu machen.
  12. Vollends widersinnig erscheint der am 11. April bekannt gewordene Vorschlag des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, die fragwürdige Wirksamkeit eines Raketenabwehrsystems möglichweise durch nuklearbestückte Abfangflugkörper zu steigern. Mit der Vorstellung, Atomraketen mit Atomraketen bekämpfen zu wollen, wird die Rhetorik von der defensiven Ausrichtung der US-Strategie ad-absurdum geführt.
Dieser Katalog der Grausamkeiten läßt die Idee der atomwaffenfreien Welt, die vor fünf Jahren noch ein international weithin akzeptiertes Ziel war, in weite Ferne rücken. Damals sprachen sich große Mehrheiten in den Vereinten Nationen und der Europäischen Union, dutzende hochrangiger Militärs und Politiker für die rasche und vollständige Beseitigung aller Atomwaffen aus. Heute klingt dies wie Musik aus einer fernen Zeit. Dies durch die Ereignisse des 11. September erklären zu wollen, wäre verfehlt, denn viele der derzeitigen Planungen waren von der Bush-Regierung bereits zuvor angelegt worden. Die Terroranschläge dienen als nachträgliches Argument zur Rechtfertigung und Verstärkung der Denk- und Handlungsweisen des Kalten Krieges.

Die Idee, mit kleinen Atomwaffen präzise und ohne nennenswerte Nebenschäden Ziele zu zerstören, selbst wenn diese tief unter der Erde verborgen sind, erinnert an Vorstellungen der fünfziger Jahre, Kernwaffen seien ganz normale Waffen zur Kriegführung, so etwas wie eine "Weiterentwicklung der Artillerie" (Konrad Adenauer). Schon die deutschen Atomphysiker traten damals in der Göttinger Erklärung der Verharmlosung vermeintlich kleiner "taktischer" Atomwaffen entgegen.

Die Spirale der Gewalt kann nur durchbrochen werden, wenn der hemmungslose Ausbau der Gewaltmittel, besonders von Atom- und Raketenwaffen, von Raketenabwehrsystemen und Weltraumwaffen, umgehend gestoppt und umgekehrt wird. Dazu fordern wir die rasche Umsetzung der folgenden Schritte:
  • Den Abzug und die Verschrottung aller Atomwaffen aus Deutschland.
  • Eine Erklärung der Atomwaffenstaaten, nicht als erste Atomwaffen einzusetzen (No-First Use) und eine Verpflichtungserklärung gegenüber Nicht-Atomwaffenstaaten, niemals Atomwaffen gegen sie einzusetzen.
  • Ratifizierung des umfassenden Teststopp-Vertrages, Beibehaltung und Stärkung des ABM-Vertrages und Abschluß eines START III-Abkommens.
  • Den drastischen und irreversiblen Abbau der Atomwaffen, bis hin zu ihrer vollständigen und kontrollierten Beseitigung durch eine Nuklearwaffenkonvention. Dies betrifft auch die sogenannten taktischen Atomwaffen, die umgehend beseitigt werden müssen.
  • Die Erklärung eines Teststopps und die Aushandlung eines internationalen Verbots von ballistischen Raketen, Raketenabwehrsystemen und Weltraumwaffen.
Dortmund, 12. April 2002


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