Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Friedensbewegung entsetzt über neuerliche Gewaltwelle in der Türkei

Alle deutschen Rüstungsexporte in die Türkei sofort stoppen

Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag

Mit Entsetzen reagierte die Friedensbewegung auf die militär-polizeilichen Aktionen gegen Häftlinge in türkischen Gefängnissen, in deren Verlauf 17 Häftlinge und zwei Polizeibeamte ums Leben kamen und Dutzende von Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Die Häftlinge befanden sich in einem seit zwei Monaten andauernden Hungerstreik, der sich gegen eine Verschärfung der Haftbedingungen für politische Häftlinge richtet. Das türkische Innenministerium plant, politische Gefangene - die im amtlichen Sprachgebrauch durchgängig als Linksextremisten" oder "Terroristen" bezeichnet werden - künftig in Einzelzellen (mit bis zu drei Häftlingen) unterzubringen statt der heute üblichen Schlafsäle mit jeweils rund 100 Häftlingen. Befürchtet wird, dass die Häftlinge damit der in türkischen Gefängnissen grassierenden Willkür noch ungeschützter ausgeliefert sind als bisher.

Gefängnisse sind ein rechtsfreier Raum

Gefängnisse gehören in der Türkei schon seit langem zu einem bevorzugten Aufmarschbereich für bewaffnete Einsatzkräfte. Sie sind ein vollkommen rechtsfreier Raum. Das Massaker des 19. Dezember steht nicht allein. Am 5. Juli 2000 wurden bei einem Angriff auf das Burdur-Gefängnis 62 Gefangene verletzt. Am 26. September wurden im Zentralgefängnis von Ankara 10 Häftlinge getötet und 85 verletzt. Vier Jahre zuvor, am 24. September 1996, wurden im Gefängnis von Diyarbakir 10 Gefangene, die der PKK angehörten, mit Eisenstangen zu Tode geprügelt; 23 Häftlinge wurden schwer verletzt. In einem Bericht über die Menschenrechtssituation kam im September 2000 die türkische Menschenrechts-Vereinigung IHD zum Ergebnis, dass immer noch zahlreiche Fälle unaufgeklärter politischer Morde, außergerichtlicher "Hinrichtungen" und von "Verschwindenlassen" unliebsamer Personen an der Tagesordnung sind. In der ersten Hälfte des Jahres 2000 wurden 263 Fälle bekannt, in denen Häftlinge gefoltert wurden. Im Jahr zuvor hatte die Menschenrechts-Stiftung TIHV 686 Folteropfer gemeldet; 90 Prozent von ihnen waren aus politischen Gründen verhaftet worden.

Am 16. August 2000 unterzeichnete die türkische Regierung die beiden wichtigsten internationalen Menschenrechts-Konventionen: den Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Beide UN-Abkommen schützen in besonderer Weise ethnische und religiöse Minderheiten. Viele politische Häftlinge sitzen in türkischen Gefängnissen, weil sie sich für die Interessen von Minderheiten, insbesondere der größten kulturellen Minderheit in der Türkei, der Kurden, einsetzen. Anstatt die UN-Konventionen umzusetzen und eine Liberalisierung im Umgang mit der kurdischen Opposition einzuleiten, kehrt die Regierung in Ankara zu den brutalsten Formen der Unterdrückung zurück.

Der landesweit koordinierte bewaffnete Überfall auf die politischen Hungerstreikenden in 20 türkischen Gefängnissen zeigt einmal mehr, dass das Regime in Ankara keinen Frieden mit den Kurden sucht, sondern weiter auf deren Diskriminierung, Isolierung und Kriminalisierung setzt. Dabei wird auch die physische Vernichtung führender Vertreter der kurdischen Volksgruppe in Kauf genommen. Dazu dürfen wir nicht schweigen. Dazu müssen auch die Regierungen der Europäischen Union, die in Nizza die Türkei auf die Liste der Beitrittskandidaten gesetzt haben, eindeutig Stellung beziehen und sagen: Wer nach Europa will, muss zumindest die elementaren Menschenrechte einhalten und den inneren Krieg gegen ein ganzes Volk sofort beenden.

Bundesregierung muss alle Rüstungslieferungen stoppen und Exportzusagen widerrufen

Von der Bundesregierung fordern wir darüber hinaus einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen an die Türkei. Es ist ein Skandal, dass die Türkei unter den Empfängerländern deutscher Rüstungsgüter auf dem ersten Platz rangiert. Eine Unterscheidung zwischen Rüstungsgütern, die direkt gegen Minderheiten eingesetzt werden, und Rüstungsgütern, die anderen militärischen Zwecken dienen, ist nicht sinnvoll. Jede Waffenlieferung in die Türkei stärkt das militärische Potential ihres unmenschlichen Regimes und legitimiert indirekt auch die Handlungsweise ihrer Regierung. Berlin muss unverzüglich die Genehmigung des Exports einer Fertigungsanlage für Gewehrmunition widerrufen und endgültig auf die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern verzichten.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag wird seine vor einem Jahr begonnene Kampagne gegen die Rüstungsexporte in die Türkei unvermindert fortsetzen. Die lokalen und regionalen Friedensinitiativen im Land sind aufgerufen, mit Protesterklärungen, Briefen und anderen Aktionen auf das himmelschreiende Unrecht in der Türkei aufmerksam zu machen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Dr. Peter Strutynski (Sprecher)
Kassel, den 21. Dezember 2000

Zurück zur Presseseite

Zur "Türkei-Seite"

Zurück zur Homepage