Nordirland: Trippelschritte zum Frieden
Das historische Karfreitags-Abkommen 1998 zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, das wir in unserem letzten Friedens-Memorandum noch als einen der wenigen friedenspolitischen "Lichtblicke" des Jahres 1998 gewürdigt hatten, konnte 1999 nur mit Verspätung und nicht vollständig umgesetzt werden. Am 15. Juli lief die Frist ab, innerhalb derer eine paritätisch zusammengesetzte Provinzregierung gebildet werden sollte. Der designierte nordirische Regierungschef, Friedensnobelpreisträger 1998 David Trimble und seine Ulster Unionist Party (UUP) lehnten es ab, zwei Minister der katholischen Partei Sinn Fein zu akzeptieren, solange die Untergrundarmee IRA nicht begonnen hätte ihre Waffen abzugeben. Damit stellte Trimble eine Bedingung auf, die vom Karfreitags-Abkommen nicht gedeckt ist. Dort hatten sich die Konfliktparteien zwar darauf verständigt, dass alle paramilitärischen Gruppen ihre Waffen innerhalb von zwei Jahren, d.h. bis Mai 2000 abzugeben hätten; ein konkreter Zeitplan, wann mit der Demilitarisierung ("decommissioning") zu beginnen sei, war aber nicht vereinbart worden. Alle Zugeständnisse an die Adresse der Unionisten von Seiten des britischen Premierministers Tony Blair, alle Vermittlungsversuche des irischen Regierungschefs Bertie Ahern und des kanadischen Abrüstungsbeauftragten John de Chastelain scheiterten an der Forderung Trimbles, erst müsse die IRA mit der Entwaffnung beginnen, dann könne die Regierung gebildet werden. Auch das Angebot des Repräsentanten von Sinn Fein, Gerry Adams, die IRA sofort nach der Regierungsbildung zur Waffenabgabe zu überreden - und das Wort von Adams hat Gewicht im katholischen Lager -, wurde ausgeschlagen.
Der Streit um die zeitliche Abfolge von Regierungsbildung und Entwaffnung mutet fast kindisch an, würde es tatsächlich nur darum gehen. In Wirklichkeit scheitert die Umsetzung des Karfreitag-Abkommens an mangelndem gegenseitigen Vertrauen, das in den vergangenen 18 Monaten offenbar nicht genügend Zeit hatte sich zwischen den verfeindeten Parteien und Bevölkerungsgruppen zu bilden. 30 Jahre erbitterter Bürgerkrieg haben sich zu tief in das kollektive Gedächtnis der nordirischen Bevölkerung eingegraben. Davon zeugen auch die Provokationen und Ausschreitungen, die anlässlich des Jahrestags des Bombenanschlags von Omagh (am 15. August 1998 tötete eine Autobombe 25 Menschen; zu dem Attentat bekannte sich eine angebliche IRA-Abspaltung: "Real IRA") in fast allen Landesteilen stattfanden. Die Unnachgiebigkeit besonders der UUP dürfte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass in ihren Reihen am wenigsten Interesse an einer Veränderung der realen politischen und sozialen Situation in Nordirland besteht. Die Protestanten haben Privilegien und Machtpositionen zu verlieren. Entsprechend wütend waren denn auch die Reaktionen aus dem Lager der UUP, als der britische Regierungsbeauftragte Chris Patten im September einen Report zur Reform der nordirischen Polizei (RUC-Royal Ulster Constabulary) vorlegte. Darin ist z.B. vorgesehen, dass bei der Rekrutierung der Polizei künftig die katholische Bevölkerung gleichberechtigt beteiligt wird (bislang sind nur 8 % der Polizisten katholisch bei einem Bevölkerungsanteil von 42 %), dass die Polizei umbenannt und mit anderen Symbolen und Insignien ausgestattet wird oder dass die berüchtigten Verhörzentren geschlossen werden.
Wie wichtig solche Strukturreformen und noch weitreichendere Veränderungen in Nordirland sind, offenbarte im Übrigen der Bericht einer unabhängigen Kommission, in dem die Vorgänge des Massakers vom 30. Januar 1972 ("Bloody Sunday") neu aufgerollt und bewertet wurden. Damals waren 14 katholische Bürgerrechts-Demonstranten in Derry von britischen Elite-Einheiten erschossen worden, angeblich "aus Notwehr". Im September 1999, also 27 Jahre später, stellte die unabhängige Kommission zweifelsfrei fest, dass keiner der Erschossenen bewaffnet gewesen sei. Dieses späte Eingeständnis britischer Verantwortung für die Ingangsetzung der Gewaltspirale in Nordirland ist eine notwendige Voraussetzung für die noch ausstehende Versöhnungsarbeit.
Es gab im September erste Anzeichen dafür, dass die nordirischen Konfliktparteien ihre im Juli abgebrochenen Kontakte doch wieder aufnehmen würden. Zweifel sind angebracht, ob die Ablösung der britischen Nordirland-Ministerin Mo Mowlam und ihre Ersetzung durch Peter Mandelson dem Vermittlungs- und Friedensprozess förderlich sein wird. Die protestantische UUP, die seit Monaten die Ablösung Mowlams gefordert hatte, begrüßte den Personenwechsel. Peter Mandelson hatte im Dezember 1998 sein Amt als Industrie- und Handelsminister niederlegen müssen, nachdem bekannt geworden war, dass er beim Kauf eines Hauses von einem reichen Parteifreund begünstigt worden war. Er gilt als enger Vertrauter von Premierminister Blair und dürfte in der Nordirland-Politik dessen nachgiebige Haltung gegenüber protestantischen Forderungen teilen.
Dennoch kamen sich nach zehnwöchigen Geheimverhandlungen unter Vermittlung des ehemaligen US-Senators George Mitchell die verfeindeten Parteien wieder etwas näher. David Trimble und Gerry Adams versprachen Ende November, die ursprünglich vereinbarte gemeinsame Regierung zu bilden, falls die IRA sich einverstanden erklärt bis Ende Januar mit der Waffenübergabe zu beginnen. Die UUP billigte mehrheitlich diese Absprache, behielt sich aber vor, im Februar die Zusammenarbeit mit Sinn Fein zu widerrufen, falls bis dahin nicht mit der Entwaffung der IRA glaubhaft und nachprüfbar begonnen wurde. Damit war zunächst der Weg frei für die Bildung einer gemeinsamen Regierung in Nordirland Ende November/Anfang Dezember. Leider auch dies noch kein Anlass zur Euphorie. Der Friedensprozess hat einen Trippelschritt nach vorn gemacht.
Aus: Friedens-Memorandum 2000
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