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Krieg um Kaschmir

Zunächst sah es gut aus. Im Februar unterzeichneten die Regierungschefs Pakistans und Indiens eine Vereinbarung über vertrauensbildende Maßnahmen. Unter anderem war darin vorgesehen, sich über bevorstehende Manöver, Atomtests und neuer Raketenversuche gegenseitig zu informieren. Im Schatten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien brachen die traditionellen Spannungen zwischen Indien und Pakistan wieder offen aus und eskalierten zu einem regelrechten Krieg.

Es begann am 10. April mit dem - angekündigten - indischen Test einer neuen Mittelstreckenrakete (Agni II), die auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann und bis zu 2.300 Kilometer weit fliegt. Die Antwort Pakistans ließ nicht lange auf sich warten. Vier Tage später testete Islamabad eine Mittelstreckenrakete (Ghauri II), die eine Reichweite von 1.700 bis 2.000 km hat und sich ebenfalls atomar bestücken lässt. Im Mai 1999, ein Jahr nach den beiderseitigen Atomtests (siehe Friedens-Memorandum 1999), kam es an der indisch-pakistanischen Grenze zu heftigen Artilleriegefechten, nachdem pakistanische Freischärler - mit Wissen, wenn nicht sogar auf Befehl der Regierung in Islamabad - in der Nähe von Kargil auf die indische Seite Kaschmirs vorgedrungen waren. Indien reagierte mit massiven Luftangriffen auf vermutete Freischärler-Stellungen. In der Folge flüchteten Tausende von Kaschmiri aus der umkämpften Zone.

Der Krieg, es war der vierte Krieg zwischen Indien und Pakistan überhaupt und der dritte, der um Kaschmir geführt wurde, dauerte bis Mitte Juli und kostete nach indischen Angaben rund 1.250 Soldaten beider Seiten das Leben. Die besondere Brisanz dieses - vorerst - letzten Krieges ergibt sich aus der Atomwaffenfähigkeit beider Staaten, die sie mit ihren Tests 1998 unter Beweis gestellt hatten. Außerdem verweist der innenpolitische Hintergrund des aktuellen Konflikts, insbesondere die innenpolitische Krise Indiens, auf den gefährlichen Mechanismus, wonach in Bedrängnis geratene Staatsführer sich im Inneren Luft und Anerkennung verschaffen, wenn sie außenpolitisch gegen den "Erzfeind" vorgehen. Die nationalistische Hindu-Partei in Indien ("Nationale demokratische Allianz") hat jedenfalls die Wahlen Anfang Oktober mit deutlichem Vorsprung gewonnen; Vajpayee wurde am 13. Oktober in seinem Amt als Ministerpräsident bestätigt.

Einen Tag davor putschte sich General Pervez Musharraf in Pakistan an die Macht. Dem gestürzten Regierungschef Nawaz Sharif warf er vor im Grenzkrieg mit Indien klein beigegeben zu haben. Tatsächlich hatte Sharif, nach diversen Vermittlungsversuchen von Seiten der USA, im Juli nicht nur zugegeben, die Demarkationslinie zu Indien überschritten zu haben, sondern er akzeptierte auch den Rückzug seiner Truppen und der pakistanischen Milizen aus den umkämpften Gebieten. In den Augen vieler Pakistanis eine außenpolitische Schmach. Dies hinderte indessen den selbsternannten Militärmachthaber Musharraf nicht, am 18. Oktober den Abzug weiterer pakistanischer Truppen von der Grenze anzukündigen. Er gab sich auch in der Frage der Atomwaffen konziliant. Pakistan steht - wie Indien - weiterhin zum vereinbarten Atomtest-Moratorium und wird die Test auf keinen Fall als erster wieder aufnehmen. Diese Gesten sollten vor allem das Ausland von den friedlichen Absichten des Militärs überzeugen. Dies ist bislang nur zum Teil gelungen.

Die EU reagierte mit Sanktionen und verlangte eine "Rückkehr" zur Demokratie - obwohl der gestürzte Zivilist Sharif nicht weniger autoritär regiert hatte als eine Militärjunta. Die Gleichgültigkeit, mit der die Bevölkerung den Putsch aufnahm, belegt dies. Umfragen, die drei Wochen nach dem Putsch gemacht wurden, behaupten sogar eine Unterstützung von rund 75 Prozent der Bevölkerung für die neuen Machthaber. Diese Zustimmung könnte sich noch festigen, wenn als Urheber einer Reihe von Bombenanschlägen, die im November in Islamabad verübt wurden, radikal-islamistische Gegner Musharrafs oder gar Anhänger des abgesetzten Staatschefs Sharif ausgemacht werden könnten. Sharif muss sich ohnehin vor einem Anti-Terror-Gericht verantworten, weil er des Mordversuchs an Musharraf (am 12. Oktober; der fehlgeschlagene Versuch war angeblich der Auslöser für den Putsch) beschuldigt wird. - Die EU-Sanktionen werden Islamabad genauso wenig treffen wie der Ausschluss Pakistans aus dem Commonwealth, jenem angestaubten Verbund ehemaliger britischer Kolonien.

Spürbare Wirkung könnten Sanktionen von Seiten der USA, des IWF und der Weltbank hinterlassen. Doch die USA sind wohl eher daran interessiert, die Mithilfe der pakistanischen Militärs bei ihrer Jagd nach dem in Afghanistan untergetauchten US-Staatsfeind Nr. 1 Osama bin Laden zu erhalten. Sollte Islamabad sich dazuhin geneigt zeigen, den Atomwaffenteststoppvertrag zu unterzeichnen, gibt es keinen Grund mehr für die USA, ihre traditionell guten Beziehungen zu dem Land in Frage zu stellen. Was IWF und Weltbank betrifft, so könnte der von Pakistan dringend erwartete Kredit von 1,8 Mrd. US-Dollar ein Druckmittel darstellen. Auf der anderen Seite haben die internationalen Bankhäuser allen Grund, auf die Vergabe dieses Kredits zu setzen, da er Pakistan in die Lage versetzt, seine Schulden bei den Privatbanken zu bezahlen.
Aus: Friedens-Memorandum 2000

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