Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Algerien auf dem Weg zum Frieden?

Zum ersten Mal seit dem Putsch 1992, als die Regierung einen sich abzeichnenden Wahlsieg der islamischen Heilsfront annullierte und damit Teilen der Oppo-sition den bewaffneten Kampf geradezu aufzwang, keimt wieder etwas Hoffnung auf ein Ende des Terrors und Blutvergießens. Der Bürgerkrieg, an dem islamistische Milizen, Armeeangehörige und zuletzt rund 200.000 "Patrioten" beteiligt waren, die zum größten Teil auf eigene Rechnung gekämpft und gemordet haben, hat über 100.000 Menschen das Leben gekostet, die Zahl der Verschwundenen wird auf über 20.000 geschätzt (laut "Vereinigung der Familien der Verschwundenen" in Algerien). Dass die Menschen genug hatten von Terror, Willkür und Angst, war ein wesentliches Motiv für den Kurswechsel, den die Regierung des im April 1999 - unter fragwürdigen Umständen - gewählten Präsidenten Abdelaziz Bouteflika einleitete.

Ein anderes, vielleicht sogar das wichtigere Motiv war der zunehmende Druck aus dem Ausland auf Algier. Der Westen, der seine Beziehungen zu Algier nur zu gern "normalisieren" möchte, ist natürlich an einer Beruhigung der innenpolitischen Situation interessiert. Dies wurde deutlich bei den ersten Begegnungen zwischen Bouteflika und dem französischen Staatspräsidenten Chirac sowie mit US-Präsident Clinton anlässlich der Trauerfeiern für den verstorbenen marokkanischen König Hassan im Juli d.J., es zeigte sich auch beim zweitägigen Staatsbesuch des französischen Außenministeres Védrine Ende Juli in Algier. Im Hintergrund stehen ökonomische Interessen: Unter dem Druck des IWF muss die algerische Wirtschaft liberalisiert werden. Auf der Tagesordnung stehen vor allem die Aufspaltung und Zergliederung der vormals staatlichen Erdöl- und Erdgasgesellschaft SONATRACH. Zahlreiche Teilbereiche wurden bereits und werden noch in joint ventures umgewandelt, an denen die führenden internationalen petrochemischen und Erdölkonzerne beteiligt sind. Eine Vielzahl neuer Prospektions- und Förderkonzessionen wurde an solche neu gebildeten joint ventures vergeben, während die (Rest-)SONATRACH ihrerseits ins internationale Erdölgeschäft einsteigt. Profitieren würden davon jene Kreise der algerischen Regierung und der Armee, die die Entscheidungen über diese Entstaatlichungen und die Vergabe der Filet-Stücke der algerischen Wirtschaft treffen und im Tausch von den Konzernen diese oder jene Beteiligung zu erwarten hätten.

Bouteflikas Versöhnungskurs bestand aus mehreren politischen Gesten und Zugeständnissen an die Opposition. Hierzu zählte das erstmalige öffentliche Eingeständnis des Präsidenten, der Wahlbetrug von 1992 sei ein staatlicher "Gewaltakt" gewesen. Hierzu zählte der Friedensschluss zwischen Staatsmacht und der Armee des Islamischen Heils (AIS), dem sich im Juni auch rund 750 Mitglieder der Terrororganisation Bewaffnete Islamische Gruppen (GIA) anschlossen. Hierzu zählte auch der Gnadenerlass des Präsidenten, der im Juli rund 5.000 politischen Gefangenen - je nach Schwere der zur Last gelegten Tat - die Entlassung aus den algerischen Staatsgefängnissen bzw. eine Strafverkürzung in Aussicht stellte.

Im August überraschte Bouteflika mit der Absetzung von 20 (von insgesamt 47) Provinzgouverneuren ("Wali") wegen Misswirtschaft und Schlamperei. 16 von ihnen wurden auf Lebenszeit aus dem Staatsdienst entfernt. Die Krönung des neuen Kurses sollte ein Referendum sein, das am 16. September stattfand und die Friedens- und Versöhnungspolitik Bouteflikas zur Abstimmung stellte. Kern des Referendums war das im Juli erlassene Amnestiegesetz. Worum geht es dabei? Dieses Gesetz liegt ganz auf der Linie des schon seit Jahren geltenden "rahma"-Gesetzes, das "reuigen" Terroristen Straffreiheit oder Strafreduzierung gewährt, wenn sie sich ergeben und bereuen bzw. wenn sie mit den Ermittlungsbehörden kooperieren. Wer schwere Straftaten begangen hat, soll zwischen drei und zehn Jahren unter Aufsicht der Sicherheitsbehörden "Besserung zeigen", was immer darunter auch zu verstehen ist. Sicher scheint zu sein, dass diejenigen "reumütigen Terroristen", die den staatlichen "Sicherheitskräften" nützliche Informationen liefern können, milder behandelt werden dürften. Insoweit handelt es sich bei der "Amnestie" um ein Instrument polizeilicher und sicherheitsdienstlicher Ermittlungen. Zudem, so wird in der kritischen algerischen Presse spekuliert, könnte auch all jenen Terroristen ein strafloser Weg in die Gesellschaft geebnet werden, die im Auftrag der Staatssicherheit die islamistischen Terrorgruppen unterwandert und gesteuert hatten.

Der Ausgang des Referendums lässt an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig. Selbst wenn dem Abstimmungsergebnis behördlicherseits etwas nachgeholfen worden sein sollte (98,6 % Ja-Stimmen!), so signalisiert es zumindest zweierlei: Erstens die Absicht des Präsidenten, den Mechanismus der blutigen Gewalt im Inneren zu stoppen und damit das Land aus der außenpolitischen Islolierung herauszuführen, und zweitens den Wunsch des größten Teils der Bevölkerung, dass der Alptraum der letzten sieben Jahre endgültig der Vergangenheit angehöre. Ob sich diese Hoffnungen erfüllen, ob sich Bouteflika mit seinem neuen Kurs tatsächlich von den Hardlinern im Militär absetzen und ein Regime der "nationalen Eintracht" etablieren kann, muss die Zukunft zeigen. Vorläufig jedenfalls hören die Berichte über Massaker nicht auf.
Auszug aus: Friedens-Memorandum 2000

Weitere Beiträge zu Algerien

Zurück zur "Memorandums"-Seite

Zurück zur Homepage