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Gegängeltes Grundrecht

Bürgerrechtler fordern von Politik und Polizei die Achtung des Versammlungsrechts

Von Ines Wallrodt *

Bürgerrechtler und Rechtsanwälte warnen vor der weiteren Aushöhlung der Versammlungsfreiheit und ermuntern Betroffene zu Klagen. Sie erinnern daran: Freie Versammlungen sind keine staatlich gewährte Gnade, sondern ein Grundrecht. Das wird von Politik und Polizei allerdings regelmäßig vergessen.

Es steht nicht gut um die Demonstrationsfreiheit. Ausufernde Vorschriften zum Ablauf, europaweiter Datenaustausch und das Agieren der Polizei schränken das Grundrecht immer weiter ein, kritisierten Bürgerrechtler, Rechtsanwälte und Aktivisten bei einer Tagung des Komitee für Grundrechte und Demokratie am Wochenende in Berlin. Aus der Kann-Bestimmung im Grundgesetz sei die Regel geworden: Versammlungen werden beschränkt. »Das ist ein schleichender Prozess«, sagt Elke Steven vom Grundrechtekomitee. Die Folge: Dass Artikel 8 Versammlungen eigentlich ohne Anmeldung und Erlaubnis garantiert, ist fast vergessen. Inzwischen bestimmt der Staat in großem Umfang, wer, wann, wie protestieren darf. Die Liste der Vorschriften zu Route, Transparenten, Kleidung, die Demonstrationsanmelder von Versammlungsbehörden bekommen, wird immer länger.

Eine neue Herausforderung für die Bürgerrechtler sind Versammlungsgesetze auf Länderebene, die seit der Föderalismusreform 2006 eingeführt werden können. »Schwammige, unklare Begriffe überlassen der Polizei die Definitionsmacht«, kritisiert Steven die Gesetze etwa in Sachsen, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Sie verbieten Demonstrationen an bestimmten Tagen und Orten, nehmen die Anmelder noch stärker in die Haftung und greifen selbst in Versammlungen in geschlossenen Räumen ein. Die Kritiker haben starke Zweifel, dass das mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dieses lässt Einschränkungen nur für Versammlungen unter freiem Himmel zu.

Die Bestandsaufnahme sähe noch dunkler aus, wenn es nicht Gerichte gäbe. Ihnen ist zu verdanken, dass manche Demonstration doch wie gewünscht stattfinden konnte. Zuletzt haben die obersten Richter in Karlsruhe den Streit um Proteste auf Flughafengeländen zu Gunsten der Demonstrationsfreiheit entschieden. Oft stellen Gerichte zudem nachträglich die Rechtswidrigkeit von Polizeimaßnahmen fest. Das hat allerdings kaum Wirkung auf das Tun der Polizei: »Die Polizei macht, was sie will«, kritisiert Steven. Erfolge sind selten, aber es gibt sie. Wurden früher vor Castortransporten ins Wendland regelmäßig potenzielle Demonstranten in Gewahrsam genommen, findet das nach einer Reihe von Gerichtsurteilen kaum noch statt.

Das Grundrechtekomitee verweist auf Erfolge wie diese, um einem weiteren Problem zu begegnen: Protestgruppen gewöhnen sich oder resignieren und »schlucken« die Auflagen. Auch wenn es mühsam ist: Martin Singe wirbt dafür, in jedem Fall gegen die staatliche Gängelung zu klagen. »Die Auseinandersetzung wirkt immer über die einzelne Demo hinaus.« Nur dadurch könne die Frage strittig gehalten werden. Die Bürgerrechtsorganisation will zum Einspruch ermutigen und erwägt deshalb einen Rechtshilfefonds für die juristische Auseinandersetzung im Vorfeld. Die bislang existierenden Töpfe unterstützten vor allem Strafverfahren im Nachhinein. Ein neuer Fonds könnte das Versammlungsrecht an sich gegen staatliche Eingriffe verteidigen, so die Überlegung.

Versammlungen werden gegängelt und kontrolliert, demonstriert wird trotzdem, und zwar, so scheint es, mehr denn je. »Die Leute holen sich das Recht auf der Straße zurück«, betont Elke Steven. So seien beispielsweise beim G8-Gipfel in Heiligendamm die Klagen gegen Verbotszonen erfolglos gewesen, aber die Menschen hätten sich trotzdem den Weg dorthin gebahnt. »Demonstrierende haben das Demorecht schon immer weiterentwickelt«, verweist sie auf die breite Akzeptanz von zivilem Ungehorsam, die es vor ein paar Jahren noch nicht gegeben hat. Und auch ganz ohne Anmeldung fanden und finden Demonstrationen statt. Wer die Definitionsmacht hat und wer sich durchsetzt, hängt von den Kräfteverhältnissen vor Ort ab. Steven ist überzeugt: »Manchmal muss man seine Route einfach gehen.«

* Aus: Neues Deutschland, 28. September 2011


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