Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Was bleibt von den Protesten gegen den Irak-Krieg?

Martin Singe, Peter Strutynski und Carl Waßmuth diskutieren über die Aufgaben der Friedensbewegung

Am 26. September 2003 veröffentlichte die Tageszeitung "Neues Deutschland" auf einer Sonderseite drei Stellungnahmen zum Zustand der friedensbewegung nach den großen Protesten gegen den Irakkrieg. Wir dokumentieren im Folgenden die drei Artikel.


Es geht nicht um Konkurrenz

Martin Singe*

Die weltweiten Demonstrationen, Proteste und Aktionen gegen den Irak-Krieg haben eine neue Qualität der Friedensbewegung bewiesen. Der große Aktionstag am 15. Februar dieses Jahres mit millionenhafter Beteiligung vor allem in den Hauptstädten Europas hat gezeigt, dass die Friedensbewegung ein politisch ernstzunehmender Faktor ist, an dem die Regierungen nicht einfach vorbei kalkulieren können.

Der Krieg, der von den USA lange und unabhängig vom 11. September 2001 geplant war, hat dennoch stattgefunden. Hoffnungen, den Krieg – vielleicht noch in letzter Sekunde – verhindern zu können, waren natürlich bei allen Protesten gegenwärtig. Sie sind von der realen Machtpolitik der Krieg führenden und Krieg wollenden Staaten zunichte gemacht worden. Dass die Proteste aber auch nach Kriegsbeginn weitergingen, wenn auch mit geringerer Beteiligung, zeigt, dass viele Menschen verstanden haben, dass die Demonstrationen nicht vergeblich waren, trotz des Krieges. Zumindest in etlichen europäischen Ländern wird es Regierungen nach diesen Erfahrungen von Massenprotesten in Zukunft schwerer fallen, sich aktiv an künftigen Kriegen zu beteiligen.

Es ist klar, dass Schröder & seine in Jugoslawien kriegserfahrenen Genossen diesen Krieg nicht aus pazifistischen Erwägungen heraus abgelehnt haben. Im Irak hatten wir schlicht und einfach keine

(Öl-)Karten im Spiel. Aber nicht zuletzt die neu erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien machen einmal mehr deutlich, dass die Bundesregierung bereit ist, künftig für eigene Interessen gegebenenfalls auch Kriege zu führen. Das Engagement der Bundesregierung für die Beschleunigung der Militarisierung der EU macht deutlich, dass man selbst bei einem Interessenkonflikt mit den USA die eigene Entscheidungskompetenz und eine eigenständige Fähigkeit zur Kriegsführung aufbauen will. Gegen diesen Kurs vor allem müssen sich die künftigen Aktivitäten der Friedensbewegung richten. Die Proteste gegen den Irak-Krieg, die ja auch ein breiteres Bündnis von Bewegungen zum Ausdruck gebracht haben, waren sicherlich ein erstes Warnsignal gegen solche Bestrebungen.

Neu im Protest gegen den Irak-Krieg war auch eine Wiederbelebung des Zivilen Ungehorsams auf breiter Basis. Seit Mutlangen und Hasselbach hat es keine so breit getragenen Blockadeaktionen mehr gegeben, bei denen sich alle Beteiligten bewusst auf (straf-) rechtliche Konsequenzen eingelassen haben. Tausende haben sich an den Aktionen der »resist-Kampagne« beteiligt.

Die neu gegründete »Kooperation für den Frieden«, ein Zusammenschluss von rund 30 bundesweit arbeitenden Friedensorganisationen, kann dazu beitragen, künftige Aktionen zu koordinieren und inhaltliche Zuspitzungen gemeinsam zu vereinbaren. Dem soll eine erste Strategiekonferenz am kommenden Wochenende in Dortmund dienen.

Es geht dabei nicht um Konkurrenzen zu anderen bestehenden Bündnissen und Kooperationsberatungen. Jedoch hat das Bündnis in gewisser Weise eine neue Qualität, weil sich verschiedenste bundesweit aktive Organisationen zur Zusammenarbeit verabredet haben, die mit ihrem jeweiligen basispolitischen Rückhalt eine größere politische Gesamtwirkung erzeugen können. Wenn die wichtigsten friedenspolitischen Fragen und Aktionsvorschläge jeweils gleichzeitig in allen bedeutenden Friedensorganisationen von unten her beraten und dann wieder auf Bundesebene koordiniert werden, besteht die Aussicht auf breitere Beteiligung bei künftigen Kampagnen und Aktionen.

Dabei gilt es natürlich aufzupassen, dass sich nicht ein Funktionärsgremium verselbstständigt. Aber die beteiligten Organisationen und Gruppierungen wissen selbst, dass sinnvolle Orientierungen und Umsetzungen von Aktionsideen nur dann Erfolg versprechend sind, wenn sie von unten her geboren werden bzw. zuvor mit den jeweiligen Basisgruppen diskutiert und abgestimmt wurden. So verstanden kann das neue Bündnis sowohl zu einer effektiveren als auch demokratisch breiter und tiefer verwurzelten Friedensarbeit beitragen.

* Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie


Alles in einen Topf?

Peter Strutynski*

Die Friedensbewegung sei eine neue »Supermacht« geworden, hieß es in ersten Reaktionen auf die großartigen weltweiten Manifestationen gegen den drohenden Irak-Krieg am 15. Februar 2003. Die Zahl der Demonstranten, die in über 60 Ländern an einem Tag auf die Straße gegangen ist, war so überwältigend, dass bei dem einen oder der anderen sogar Hoffnung aufkeimte, die US-Regierung beeindrucken und sie von ihren Kriegsabsichten abbringen zu können. Der Aufmarsch der USA konnte indessen nicht gestoppt, der Krieg nicht verhindert werden, und die größte Massenbewegung der letzten Jahrzehnte schrumpfte in wenigen Wochen wieder auf ihr »Normalmaß«.

Soweit die Zustandsbeschreibung. Der Vorgang war für manchen so deprimierend, dass er oder sie sein/ihr Heil in schnellen Antworten suchte. Die eine lautete: Die Friedensbewegung müsse sich mit anderen sozialen Bewegungen (z.B. Sozialforen, Attac) zusammenschließen, damit die unterschiedlichen Kräfte gebündelt und verstärkt werden. Die andere, mehr technisch-organisatorische Antwort legte der Friedensbewegung nahe, sich in einem Verein neu zu organisieren, um der Bewegung Kontinuität zu verleihen. Beide Antworten ignorieren indessen den Charakter außerparlamentarischer Bewegungen und enthalten einen ungesunden Schuss Voluntarismus.

Erfahrungsgemäß lässt der Widerstand einer Bewegung immer dann nach, wenn ihr unmittelbares Ziel nicht erreicht wurde. Dies war der Fall nach der Stationierung der Atomraketen im November 1983, nach dem Beginn des Golfkrieg 1991 und nach dem Beginn des Afghanistan-Kriegs im Oktober 2001. Es ist generell schwer, einem solchen »Abschlaffen« der Bewegung vorzubeugen. Soweit der Grund dafür aber darin zu suchen war, dass die Bewegung gegen den drohenden Irak-Krieg in erster Linie eine reine Anti-Bewegung war, könnte einem allzu tiefen Fall dadurch teilweise vorgebeugt werden, dass die Friedensbewegung ihre Alternativen zum Krieg deutlicher zum Ausdruck bringt, ihre Anti-Haltung (die muss natürlich bleiben!) also durch ein »Pro« ergänzt. Dieses »Pro« sollte über noch relativ allgemeine Formulierungen wie etwa »Eine andere, friedlichere Welt ist möglich« hinausgehen und konkrete Ziele formulieren. Dabei kann an dem andauernden Irak-Krieg angeknüpft werden: Das Ziel einer Beseitigung von Massenvernichtungswaffen sollte nicht nur für den Irak, sondern für alle Staaten geltend gemacht werden. Der Demilitarisierung des Irak muss die Abrüstung anderer Länder der Region folgen. Regionale Sicherheit im Nahen Osten wird langfristig nur auf der Basis gleichberechtigter Beziehungen zwischen strukturell angriffsunfähigen Staaten (einschließlich eines palästinensischen) herzustellen sein. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung, dem internationalen Recht mehr Geltung zu verschaffen. Das strikte Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen, die universellen Menschenrechte und das Prinzip der territorialen Integrität und Souveränität der Staaten müssen von allen Staaten respektiert werden. Schließlich sollten die von Bush & Co. unfreiwillig geförderten Einsichten der Bevölkerung in globale ökonomische und ökologische Zusammenhänge genutzt werden, um praktikable Alternativen zum verschwenderischen und zerstörerischen Kapitalismus zu diskutieren.

Gerade mit letzterem ist die Friedensbewegung nicht weit von den Anliegen der weltweiten globalisierungskritischen Bewegung entfernt. Und es ist richtig und erforderlich, diese Gemeinsamkeit in lokalen, nationalen und internationalen Bündnissen bei großen Anlässen zum Ausdruck zu bringen. Ich halte aber wenig davon, die Agenda der Friedensbewegung grundsätzlich so zu erweitern, dass sie von den anderen sozialen und politischen Bewegungen nicht mehr unterscheidbar ist. In den achtziger Jahre riet man der Friedensbewegung, sich mit der Ökologiebewegung zusammenzutun. Daraus wurde nichts, konnte nichts werden, weil beide Bewegungen – gerade in Phasen schwacher Bewegungs-»Konjunktur« – ihre jeweils spezifischen Anliegen unabhängig voneinander vertreten müssen, um sich überhaupt noch Gehör zu verschaffen.

Etwas anderes kommt hinzu: Die Friedensbewegung mag in ihrem aktiven Kernen weit reichende gesellschaftspolitische Alternativen auf ihre diversen Fahnen geschrieben haben. In ihrer Breite aber lässt sie sich nicht auf eine einzige Vision und einen einzigen Weg dorthin reduzieren; sie passt eben nicht in einen einzigen Topf. Genau darin liegt auch der Unterschied zu den Parteien und deren universellen Politikangeboten. Daher macht es wenig Sinn, unterschiedliche friedenspolitische Traditionen, Kulturen und Milieus, welche die attraktive Vielgestaltigkeit der Friedensbewegung ausmachen, in einem zentralisierten Verein zusammenzufassen. Bei Bedarf stellt sich »Kooperation« zwischen den Teilen der Friedensbewegung mittels moderner Kommunikationstechnologien relativ reibungslos und fast von selbst her. Statt also seine Energien in Vereinsgründungen und neue Strukturen zu verschwenden – was sich mit dem »Bewegungscharakter« der Friedensbewegung beißt –, sollte man sich schleunigst den brennendsten friedenspolitischen Aufgaben zuwenden.

* Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


Neue Akteure, neue Kooperation

Von Carl Waßmuth*

September 2002: Die USA und ihre Alliierten bringen ihre Truppen um den Irak in Stellung. Die Stimmung weltweit brodelt angesichts dieses Vorgehens: In Spanien, Großbritannien, Italien und Frankreich liefern Umfragen Ergebnisse, in denen sich zwischen 70 und 90 Prozent der jeweiligen Bevölkerungen gegen den Irak-Krieg und für eine Fortsetzung der Waffeninspektionen aussprechen. Der Populist Schröder befindet sich im Wahlkampf: Er setzt auf die Anti-Kriegsstimmung, formuliert sein »Nein zum Irak-Krieg« und wird damit zum zweiten Mal Kanzler. Ein Jahr später: Der Irak-Krieg wurde nicht verhindert. Schröder fährt zu Bush, um sich dessen »persönlichen Dank für den Einsatz der deutschen Soldaten in Afghanistan« abzuholen – und Fragen der Besatzung des Irak zu besprechen. War die Friedensbewegung nur ein kurzes Aufflackern, ein Zufall der Geschichte?

Zunächst verfälscht es den Blick, wenn man die Bilanz zieht von der Bundestagswahl 2002 bis zum Schröder-Bush-Treffen des Jahres 2003 in New York. Das Erstarken und die neue Qualität der Friedensbewegung zeichnete sich schon auf der Demonstration gegen den Bush-Besuch in Berlin im Mai 2002 zum ersten Mal ab. Bündnisse, die dort geschlossen wurden, trugen bis zum internationalen Aktionstag gegen den Krieg am 15. Februar 2003, der mit 500000 Demonstranten in Berlin und geschätzten 12 Millionen in über 600 Städten weltweit ein nie da gewesenes Ereignis darstellte. Erst nach dem Mediencoup vom Fall der Statue Saddam Husseins nahm die Demonstrationswelle ein Ende.

Dem vorausgegangen war das Erringen von drei wichtigen Erfolgen für die Friedensbewegung: Wichtigster Erfolg ist, dass der Versuch der Legitimierung des Irak-Kriegs verhindert werden konnte. Bush und Blair stehen als Lügner da, an der verlustreichen Besatzung will sich keiner beteiligen. Langfristiger ist der Erfolg der gelungenen Internationalisierung der Proteste, ein Umstand, der die »New York Times« dazu verleitete, die öffentliche Meinung als die »zweite Weltmacht« zu bezeichnen. Innerhalb der Bewegung ist die Aktions-Vernetzung der dritte große Erfolg: Klassische Friedensgruppen haben direkte Kontakte zu den Gewerkschaften, völlig neue Akteure arbeiten mit bisher schwach organisierten Gruppen zusammen, Globalisierungskritiker demonstrieren gemeinsam mit Menschenrechts- und Umweltorganisationen. Attac sieht sich selbst als einen dieser neuen Akteure. In der Frankfurter Erklärung vom Mai 2002 hat das globalisierungskritische Netzwerk dies deutlich gemacht, auf dem Attac-Ratschlag in Göttingen im Januar 2003 wurde dann das Thema Krieg als einer von zwei Kampagnen-Schwerpunkten gewählt. Inhaltlich übernimmt Attac das Herausarbeiten der Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Krieg. Bünd- nispolitisch arbeitet Attac in lokalen und bundesweiten Aktionsbündnissen mit, ohne sich in der noch aus den Achtzigern herrührenden Bipolarität der deutschen Friedensbewegung zwischen Kasseler Friedensratschlag und Bonner Netzwerk Friedenskooperative einer Seite zuzuschlagen. Organisatorisch übernimmt Attac auch Sonderaufgaben: Etwa Bindeglied zu Gewerkschaften zu sein oder als Nothelfer wie im Fall des »Samstag nach dem Tag X«. Damals hatte Attac die Verantwortung für eine Demonstration mit 50000 Teilnehmern übernommen, als sich zeigte, dass die lokalen Bündnisse mit dem »Tag X« selbst und den folgenden Demonstrationen ausgelastet waren.

Mit den Protesten am kommenden Samstag gegen Besatzung in Irak und Palästina findet der nächste internationale Aktionstag statt – mit Teilnehmern in über 40 Ländern ein weiteres Ergebnis der gelungenen internationalen Vernetzung. Zwar liegt mit der Differenzierung der Probleme auch eine Ausdifferenzierung der aufrufenden Gruppen vor. Attac zum Beispiel debattiert Fragen um den Israel-Palästina-Konflikt im Moment intern, so dass vorerst nur lokale Gruppen zu dem Termin aufrufen. Es zeichnet sich jedoch ab, dass gerade dieser Prozess der themenbezogenen Bündnisse zum vierten großen Erfolg der Friedensbewegung werden könnte: Das erworbene Potenzial, sich grenzübergreifend mit den jeweils am stärksten involvierten Gruppen zu weltweit wahrnehmbaren Protesten zusammenzufinden.

Die herausragende Erfahrung des 15. Februar 2003 für engagierte Menschen wird die Proteste auch jenseits der Frage von Krieg und Frieden prägen. Das der Agenda 2010 zu Grunde liegende Thema zum Beispiel ist längst nicht mehr auf Deutschland beschränkt: Die Politik des radikalen Sozialabbaus führte in Frankreich zur größten Streikwelle seit 1995, in Italien und Griechenland steht der Sozialabbau aktuell auf der politischen Tagesordnung. Es ist daher anzunehmen, dass auf dem 2. europäischen Sozialforum, das vom 12. bis zum 16. Dezember 2003 in Paris stattfindet, wieder ein internationaler Aktionstag verabredet wird: Diesmal gegen den Krieg der neoliberalen Regierungen in Europa gegen die Schwachen in ihren eigenen Gesellschaften.

* Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Berlin


Zurück zur Seite "Friedensbewegung"

Zur Seite "Stimmen gegen den Krieg"

Zurück zur Homepage