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"Yes, we camp"

Occupy Wall Street hat bereits heute die USA verändert - Die Proteste brauchen aber theoretisches Wissen. Beiträge von Lotta Suter und Raul Zelik *


Politik findet doch nicht in den eigenen vier Wänden statt

Von Lotta Suter

Oberflächlich betrachtet ist die Occupy-Bewegung quasi über Nacht entstanden. Doch die Bewegung gründet auf einer langen Tradition des Protests und wird auch nicht so schnell wieder verschwinden. Es ist ihr bereits gelungen, die USA zu verändern.

Occupy Wall Street ist das andere Amerika, auf das ich sehr lange gewartet habe. Immer wieder hoffte ich auf robuste Lebenszeichen von Seiten der «ältesten Demokratie». Etwa als der neoliberal-demokratische Präsident Bill Clinton den «Sozialstaat, wie wir ihn kennen» abschaffte. Oder als dem rabiaten Republikaner George W. Bush zur Jahrtausendwende die Präsidentschaft zugesprochen wurde – und zwar nicht durch demokratische Volkswahl, sondern durch einen dubiosen Entscheid des Obersten Gerichts. Als die Anschläge vom 11. September 2001 den unheimlichen Patriotismus in den USA stärkten und den Rechtsrutsch im Land beschleunigten. Als das US-Militär 2003 im Irak einmarschierte. Als die Kriegsgurgeln Bush und Dick Cheney 2004 wiedergewählt wurden. Als Hurrikan Katrina im Herbst 2005 in New Orleans den Rassismus und die soziale Not blossfegte. Als in Bushs zweiter Amtsperiode die Korruption in Politik und Wirtschaft überhandnahm und die USA schliesslich in ein gigantisches Schneeballsystem verwan­delte, das die gutgläubige Bevölkerung nach Strich und Faden betrog.

Meine Hoffnung auf Rebellion war durchaus berechtigt. Denn es gibt in den USA von jeher auch eine äusserst lebendige und gut informierte gesellschaftspolitische Diskussion, die sich nicht auf die Frage der Wahl zwischen demokratischer und republikanischer Partei, also zwischen den beiden Flügeln der Macht, beschränkt. Allerdings hat diese Gegenöffentlichkeit selten in den grossen Medien Platz. Man findet eigenständige Stimmen eher etwas abseits: an den Universitäten, in den Alternativmedien, in Kirchen und Gewerkschaften. Auch auf der Strasse demonstrieren viele AktivistInnen jahrein, jahraus unbeirrt für ihre Sache. Seit 1976 trifft man etwa die TodesstrafengegnerInnen regelmässig bei ihren Mahnwachen. Seit 1985 kämpfen die Veterans for Peace für den Frieden. Seit 2002 treten die Friedensfrauen von Code Pink in grellem Rosa gegen die Camouflage der Kriege an.

Ob Umweltschutz oder Immigration, Bildung oder Gesundheitsvorsorge, Aussenpolitik oder Wirtschaftsfragen – auf allen wichtigen Gebieten hat ein Teil der US-amerikanischen Zivil­gesellschaft des 21. Jahrhunderts politische Alternativen diskutiert und gefordert. Und diese Zivilgesellschaft war es auch, die durch viel karitative Freiwilligenarbeit die katastrophale Sozial- und Wirtschaftspolitik der US-Regierung ein wenig abfederte. Doch selten wurde dabei die kritische Masse erreicht, die nötig gewesen wäre, um in der ganz breiten Öffentlichkeit Gehör zu finden.

Ich dachte, es gibt Kuchen

2008 war es dann so weit. Der Durchbruch schien geschafft. In den USA entschied die Mehrheit der Stimmenden, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wählten Barack Obama zum Präsidenten. Sie setzten auf den afroamerikanischen Aussenseiter. Den fast schon messianischen Hoffnungsträger. Den Mann, der ihnen versprach, dass ein anderes Amerika möglich ist.

Dann kam die grosse Ernüchterung. Zwar besserte sich das martialische Antiterrorklima in den USA ein wenig. Die Gesundheitsvorsorge wurde reformiert. Der Präsident der Vereinigten Staaten lieferte jetzt grammatikalisch korrekte, ja eloquente Reden. Doch führte Obama – ob gewollt oder gezwungenermassen – zu einem grossen Teil die alte imperialistische Politik weiter: Er schickte noch mehr Söldner und SoldatInnen in den Krieg. Er liess weiterhin Steuererleichterungen für die Reichsten zu. Und vor allem stützte er in der grossen Wirtschaftskrise bedingungslos die Banken – auf Kosten der Arbeitsplätze und Sozialleistungen. Der ehemalige Community-Organizer hatte glatt vergessen, dass die BürgerInnen am besten von unten nach oben politisch vernetzt und organisiert werden.

Rückblickend kann man natürlich die These aufstellen, dass Obamas Präsidentschaft die linke Opposition in den USA lediglich gezähmt und in das starre Flussbett der Zweiparteienpolitik zurückgedrängt habe. Doch ich bleibe dabei: Die Wahl des demokratischen Kandidaten war ein Sieg für das andere Amerika, für seinen jugendlichen Enthusiasmus, seine unverwüstliche Hoffnung, seine hochstehenden sozialen Ideale. Und sie war vor allem auch eine Absage an die «dunkle Seite» der USA, die reaktionäre Politik der Angst und des Hasses.

Hungrig? Iss die Reichen!

Nun stellt sich heraus, dass die Obama-Wahlkampagne von 2008 vielleicht auch ein ganz gutes Übungsfeld für Occupy 2011 gewesen ist. Denn sie war die erste grosse Politkampagne in den USA, die das Internet derart ausgiebig nutzte: um Geld zu sammeln, um Stimmen zu werben, um AktivistInnen anzuheuern und zu vernetzen, um Wahlveranstaltungen zu planen und zu organisieren – oft geschah das ziemlich spontan, fast schon chaotisch. Viele Menschen, besonders auch jüngere, wurden durch diese Art politischer Kommunikation zum ersten Mal direkt angesprochen und zum Mitmachen motiviert.

Eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung von demokratischen WählerInnen spielte bei dieser Wahl die politische Non-Profit-Organisation MoveOn. Diese Gruppierung war nicht bloss virtuell sehr aktiv, sie war auch präsent, wenn es darum ging, die Leute tatsächlich an die Urne zu bringen. Ihre sehr handfeste Stimmenwerbung habe ich selbst miterlebt, da meine Küche damals kurzfristig zum Hauptquartier der lokalen MoveOn-Gruppe aufgewertet wurde. Da stand ich nicht wahlberechtigte Schweizerin und schickte Aktivist­Innen mit genauen Routenbeschreibungen und Stimmmaterial versehen in alle Himmelsrichtungen aus. Die WahlhelferInnen gingen von Tür zu Tür, redeten mit den Leuten und versuchten sie von Obamas Qualitäten zu überzeugen – was ihnen in unserer Gemeinde zu knapp über fünfzig Prozent gelang.

Nach Obamas Wahl ist MoveOn keineswegs verstummt, sondern hat uns SympathisantInnen immer wieder aufgefordert, politisch aktiv zu bleiben. Meistens ging es darum, in der eigenen Wohnstube politisch relevante Dokumentarfilme vorzuführen, Diskussionen zu organisieren oder lokale Wahlen zu beeinflussen. Mich störte diese «Privatisierung» der gesellschaftlichen Debatte – Politik findet doch nicht in den eigenen vier Wänden statt, sondern am Stammtisch, im Gemeindesaal und auf der Strasse. In der Öffentlichkeit eben. Das hat die Occupy-Bewegung gleich begriffen.

Der zweite wichtige Unterschied zwischen MoveOn und Occupy, die gemäss nicht repräsentativer Umfrage in meinem Bekanntenkreis in etwa die gleichen Leute ansprechen, lässt sich an den Bezeichnungen der beiden Gruppierungen ablesen. «To move on» heisst «sich fortbewegen, weitergehen, vorrücken». «To occupy» bedeutet «besetzen, belegen, in Anspruch nehmen». Solche Bezeichnungen von politischen Bewegungen werden selten sorgfältig und unter Berücksichtigung aller Konnotationen ausgewählt, aber sie sind auch nicht rein zufällig.

In diesem Fall illustriert der begriffliche Übergang von «MoveOn» zu «Occupy» die wichtige Erkenntnis, dass es zurzeit der politische Gegner ist, der sich schnell und radikal bewegt, nach rechts natürlich, und dass es deshalb auf der US-Linken vor allem auch dar­um geht, Erreichtes (wie die Sozialversicherungen) zu verteidigen und wichtige Stellungen (zum Beispiel im Umweltschutz) zu halten. Diese «umgekehrte» politische Dynamik hat Barack Obama schwer unterschätzt. Denn er verstand sich selbst als Mann der Veränderung und Bewegung, der eine stagnierende konservative Regierung ablöst. Doch die Bush-Jahre waren gerade kein Stillstand, sondern eine Fortsetzung der von Ronald Reagan begonnenen konservativen respektive neoliberalen Offensive: Ausbau der Exekutiv­macht, Plünderung der Staatskasse zugunsten der Reichen, Deregulierung der Wirtschaft, des Arbeitsmarkts und der Sozial­leistungen sowie des Umweltschutzes.

Wo so offensichtlich das öffentliche Wohl gefährdet und die Grundlagen der Demokratie angegriffen sind, kann man keine Einigkeit suchen und keine Kompromisse eingehen, wie das Präsident Obama immer noch will. In dieser Situation müssen die Linken einfach zu Bürgern, zu Citoyennes werden und an die Verantwortung der Politik für die ganze Gesellschaft erinnern. Die Linke muss muss die lebenswichtigen Bereiche der Gesellschaft mit den Grundwerten der Aufklärung (wieder)besetzen: Freiheit, Gleichberechtigung, Solidarität. Dieser Prozess hat in den USA gerade begonnen.

Meine Mama kriegt kein Geld, deine Bank schon

«Wir sind die 99 Prozent». Diesen einfachen Gedanken – wir wollen eine Welt für alle statt für wenige – hat Occupy Wall Street (OWS) ins Zentrum ihrer Aktionen gestellt und damit weit über die USA hinaus ein beachtliches Echo erzeugt. Zwar haben die grossen Medien in den USA sich in den ersten Wochen ständig über die «Zirkus­atmosphäre» und die vagen politischen Forderungen der neuen Opposition mokiert. Die Mainstream-Berichterstattung bleibt bis heute unzuverlässig und legt das Schwergewicht auf die Konfrontationen mit der Polizei. Trotz publizistischer Vernachlässigung stösst die Bewegung in der breiten Bevölkerung auf erstaunlich viel Verständnis. Ein Blogger hat ausgerechnet, dass OWS heute in den USA besser akzeptiert ist als es vor 63 Jahren Frauen waren, die Hosen trugen. Relevanter ist vielleicht, dass die neue soziale Bewegung auch mehr Zustimmung findet als die Bürgerrechtsbewegung gegen rassistische Diskriminierung Anfang der sechziger Jahre oder der Feminismus Anfang der siebziger.

Nach kurzer Zeit schon hat Occupy Wall Street die konservative Tea Party in der Popularität überflügelt. Und das, obwohl die Tea-Party-Leute von Milliardären, Fox News und einer ganzen Reihe konservativer Radioshows gestützt und begleitet werden. Während die Tea Party vor allem unter älteren und konservativen Menschen Zuspruch findet, sind die SympathisantInnen von OWS altersmässig und sogar politisch ziemlich gemischt. Warum überrascht es mich als Altachtundsechzigerin und mehrfache Mutter überhaupt nicht, dass meine Generation (47–65 Jahre alt) und unsere Kinder (18–34) die meisten Occupy-EnthusiastInnen stellen?

Schliesslich erzählen wir unserem Nachwuchs ganz gerne von den guten alten Zeiten, etwa vom rebellischen Aufbruch der sechziger Jahre, von Flower Power und Martin Luther King. Aber nur wenige meiner AltersgenossInnen wissen noch, dass es damals in den USA bereits einmal eine grosse Kampagne gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit gab, die Poor People’s Campaign, in deren Verlauf der Bürgerrechtsführer King ermordet wurde. Oder dass Washington DC schon einmal mit einer grossen Zeltstadt besetzt wurde, der sogenannten Resurrection City. Dass diese «Stadt der Auferstehung» im Juni 1968 von Panzern überrollt wurde. Und dass die damals angestrebten wirtschaftlichen Grundrechte noch immer ausstehen.

Armut ist die allergrösste Gewalt

Als ich diesen Herbst die Camps von Occupy DC besuchte, erinnerten mich die BesetzerInnen, darunter viele ältere AfroamerikanerInnen, an diese Wurzeln des heutigen Protestes. Mein Sohn akzeptierte die gleiche Geschichtslektion vom «coolen» Cornel West. Der kämpferische Professor der Princeton University und Hip-Hop-Texter war mit ein paar glamourösen Musikkollegen in die Zeltstadt von Washington DC gereist und liess sich später am Tag vor dem Obers­ten Gerichtshof verhaften, in der Hand das Protestschild «Armut ist die allergrösste Gewalt».

2008 noch war Cornel West ein grosser und rühriger Fan von Barack Obama und dessen vergleichsweise linken politischen Idealen. Heute nennt der wohl prominenteste afroamerikanische Intellektuelle den ersten schwarzen Präsidenten der USA ein «Wall-Street-Maskottchen». Und ebenso unermüdlich wie damals für Obama wirbt Cornel West heute im ganzen Land um Unterstützung für die neuen Hoffnungsträger, nämlich die Occupy-Bewegung. Im Gespräch mit dem linken Radiosender «Democracy Now!» führte er aus: «Man kann die Habgier von Wall Street nicht mit ein, zwei Gegen­forderungen bekämpfen. Es geht um ein demokratisches Erwachen. Und letztlich um das, was Martin Luther King eine Revolution genannt hätte: den Transfer der Macht von den Oligarchen zu den gewöhnlichen Menschen aller Hautfarben. Das geschieht Schritt für Schritt. Es ist ein demokratischer Prozess. Ein gewaltfreier Prozess. Aber es ist nichtsdestotrotz eine Revolution.»

Der erfahrene Aktivist West hatte in Washington aber auch gesagt, dass der Gesellschaftsumbau, den Occupy Wall Street anstrebe, kein Kinderspiel sei. Er warnte vor Repression, vor Rückschlägen, vor Entmutigung.

In den nächsten Wochen wird OWS entscheiden müssen, wie die Bewegung am besten überwintert. Wie sie von den Zeltstädten zu neuen, flexibleren, aber symbolisch ebenso wirksamen Besetzungen fortschreitet. Wie sie die Basisdemokratie innerhalb der eigenen Reihen erhalten und weiterentwickeln kann. Ob, wo und wie sie Allianzen mit starr und hierarchisch organisierten Organisationen wie den Gewerkschaften oder der Demokratischen Partei eingehen kann und will. Wie sie mit der parlamentarischen Politik und insbesondere mit den Präsidentschaftswahlen 2012 umgeht.

Yes, we camp

Ich selbst bleibe vorsichtig optimistisch, dass das Feuer der Occupy-Bewegung nicht so bald wieder ausgehen wird. Soziale Bewegungen haben in den USA eine stolze Geschichte: von den SklavereigegnerInnen des 19. über die Volksfront (Popular Front) des frühen 20. Jahrhunderts bis zur Bürgerrechtsbewegung, den Anti-Vietnam-Protesten, der Frauen- und der Umweltbewegung der jüngeren Gegenwart. Occupy kann an dieser politischen Tradition anknüpfen. Auch kann die Bewegung von der vielen und vielfältigen Freiwilligenarbeit profitieren, die in den USA von jeher geleistet wird; Hunderttausende US-AmerikanerInnen haben sich beim gemeinnützigen Einsatz soziale und kommunikative Fähigkeiten angeeignet, die ihnen beim Besetzen wichtiger gesellschaftlicher Bereiche zugutekommen. Das Suppeschöpfen, Plakatemalen, Erste-Hilfe-Leisten in den Zeltstädten sieht gar nicht so anders aus als das Suppeschöpfen, Plakatemalen, Erste-Hilfe-Leisten an einem Kirchenbasar oder einem Grossanlass zur Geldbeschaffung für die Brustkrebsforschung.

Und falls diese USA-typischen kommunitären Erfahrungen als politische Perspektive doch nicht ausreichen sollten: Über­raschenderweise tauschen sich die sonst so ausschliesslich auf die Überlegenheit des «Amerikanischen Traums» fixierten US-Linken diesmal mit der Welt aus. Sie nehmen wahr, was an sozialem Aufbruch im arabischen Raum oder in Europa geschieht, und vor allem sind sie stolz auf die globale Dimension ihres Protestes. Das allein schon klingt nach einem ganz anderen Amerika.

Alle Zwischentitel sind Slogans der Occupy-Bewegung.

Occupy Paradeplatz: Nur noch ein Adventskalender

Rund einen Monat nachdem in New York mehrere Hundert Menschen durch die Wall Street gezogen waren und anschliessend den Zuccotti-Park besetzt hatten, schwappte der Protest auch nach Europa über. Am Samstag, dem 15. Oktober, demonstrierten rund tausend Menschen auf dem Zürcher Paradeplatz, dem Herzen des Schweizer Finanzplatzes. Auch in Basel und in Genf fanden verschiedentlich Aktionen und Besetzungen statt.

In Zürich baute eine Kerngruppe einen «Watchtower» auf und besetzte den Platz zwei Tage lang. Pünktlich zum Arbeitsbeginn der Banker am Paradeplatz drohte die Polizei mit der Räumung, worauf die BesetzerInnen den Platz am Montag in der Früh verliessen und auf den Lindenhof zogen. Dort standen einen Monat lang knapp fünfzig Zelte, zwischenzeitlich wohnten bis zu hundert Personen im Occupy-Camp. Bei den täglichen Vollversammlungen planten die BesetzerInnen verschiedene Aktionen, vor allem eine wöchentliche Kundgebung auf dem Paradeplatz. Erschienen bei den ersten zwei Besetzungen jeweils rund 1000 Menschen, verringerte sich die Zahl der DemonstrantInnen bei den Samstagskundgebungen zusehends. Bei den jüngsten Demos auf dem Paradeplatz erschienen nur noch knapp fünfzig Personen, die Kerngruppe der Besetzer­Innen.

Nachdem die Polizei Mitte November das Occupy-Camp auf dem Lindenhof geräumt hatte, fanden die BesetzerInnen einen neuen Platz vor der Offenen Kirche St. Jakob am Stauffacher. Die Kirche stellte der Bewegung ihren Platz bis Ende Jahr zur Verfügung. Ende letzter Woche lösten die AktivistInnen das Camp aber vorzeitig auf. Die Bedingungen im Zürcher Kreis 4 seien nicht geeignet. Stattdessen will man nun mit einem «antikapitalistischen Adventskalender» auf die Anliegen der Bewegung aufmerksam machen. Jeden Tag sollen Aktionen stattfinden. Der Informationsstand am Stauffacher soll aufrechterhalten werden.



Ohne Wissen und Debatten gehts nicht

Von Raul Zelik

Der Occupy-Bewegung wird immer wieder der Vorwurf gemacht, sie agiere naiv und unpolitisch. Tatsächlich scheint das theoretische Wissen früherer Bewegungen verschüttet zu sein – was die Entwicklung von Alternativen zum System erschwert.

Die Plätze bleiben gefüllt: In Ägypten kehren die Unzufriedenen auf den Tahrir-Platz zurück, in Spanien sorgen Zwangs­räumungen von Eigentumswohnungen fast täglich für Proteste, und während die Demonstrationswelle in Griechenland weitergeht, fängt sie in Italien gerade erst an. Parallel dazu drängen StudentInnenbewegungen in den öffentlichen Raum. Nachdem der landesweite Hochschulstreik in Chile dem dortigen Präsidenten Sebastián Piñera einen dramatischen Popularitätsverfall bescherte, knickte Mitte November sein kolumbianischer Amtskollege Juan Manuel Santos überraschend schnell ein. Nach sechs Wochen Streik an den öffentlichen Universitäten Kolumbiens zog die Santos-Regierung die geplante Bildungsreform zurück, die die Kommerzialisierung der Hochschulen weiter vorangetrieben hätte.

Aus dieser Perspektive erscheint die US-amerikanische Occupy-Bewegung nur als Verlängerung einer breiteren internationalen Protestwelle. Man darf wohl von einer Bewegung sprechen: Auch wenn sich die Proteste an verschiedenen Fragen entzündet haben und in völlig unterschiedlichen Kontexten stattfinden, sind Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen. Überall geht es um die Verteilung des Reichtums, spielen horizontale Organisationsformen und digitale Medien eine wichtige Rolle, wirken Parteien und Gewerkschaften eher als Bremsklötze denn als Katalysatoren. Und überall scheinen Massendemonstra­tionen und militante Proteste hinter – mehr oder weniger – originellen Performances im öffentlichen Raum zurückzutreten.

In Kolumbien kippte die Protestbewegung die öffentliche Meinung mit «Kiss-ins» und einer dezentralen Blockade der Hauptstadt. In Madrid verwandelte die Bewegung 15M die Puerta del Sol in einen grossen Versammlungsraum und hielt der «Demokratie geringer Intensität», wie der portugiesische Intellektuelle Boaventura de Sousa Santos die bürgerlichen Verhältnisse spöttisch beschreibt, den Spiegel vor. Und auch die US-amerikanische Occupy-Bewegung schliesslich kommt uneindeutig daher. Ihre Zusammenkünfte wirken wie ein naives Theaterstück, allerdings mit hochpolitischem Inhalt, denn das unbefangene Reden über Politik führt vor, dass in der bürgerlichen Demokratie nur noch über Verwaltung und ihr Personal, nicht aber über Inhalte der Politik gesprochen wird.

Zum zweiten Mal erfunden

Intellektuelle und JournalistInnen haben den Protestierenden in den vergangenen Wochen immer wieder den Vorwurf gemacht, sie argumentierten unpolitisch und naiv. Und tatsächlich bleibt die Kritik oft erstaunlich oberflächlich. Man stimmt ein in das allgemeine Klagen über die «Gier» (wahlweise von Bankern, Spekulantinnen oder Politikern), ohne zu reflektieren, dass diese eher Ausdruck als Ursache der Verhältnisse sein könnte – denn wie soll sich der Einzelne schon verhalten, wenn man den Markt, wie Michel Foucault geschrieben hat, «Wahrheit sprechen» lässt und die Konkurrenz systemisch entregelt? Man ruft nach einer staatlichen Re-Regulierung der Finanzmärkte, ohne dar­über nachzudenken, dass der Kapitalismus – wie der Fall China beweist – auch trotz einer Finanzregulation extreme soziale Gegensätze hervorbringt. Man will den wahnsinnigen Wachstumswettlauf durch Konsumverzicht stoppen und tut so, als hätten Wachstumszwänge und Ressourcenverbrauch gar nichts mit Kapitalakkumulation zu tun.

Es ist, als seien die neuen Protestbewegungen geschichtslos zur Welt gekommen. Das theoretische Wissen früherer Bewegungen scheint verschüttet, alte Aktionsformen werden zum zweiten Mal neu erfunden. Denn auch wenn Facebook und Twitter als Mittel, sich auszutauschen und zu verabreden, neu sind, so haben Performances im öffentlichen Raum doch eine lange Tradition. Vom Situationismus beeinflusst versuchten schon die StudentInnen- und Jugendbewegungen der sechziger Jahre, mit Teach-ins, Die-ins oder Puddingbomben die Alltagsordnung zu unterlaufen. Und schon damals zeigte sich – was von vielen ProtagonistInnen allerdings erst später erkannt wurde –, dass derartige Aktionen die herrschende Meinungshegemonie wirkungsvoller und bleibender unterminieren können als «machtvolle Demonstrationen» oder der Aufbau revolutionärer Parteien.

Trotzdem hat die massenmediale Schelte der Protestbewegungen einen zynischen Zug. Denn öffentlich wahrgenommen werden 15M, Occupy Wall Street oder die diversen Bildungsstreiks ja nur deshalb, weil sie sich historisch und inhaltlich nicht eindeutig verorten lassen. Es ist ihre Unbestimmtheit, die es ihnen erlaubt, Risse in den neoliberalen Meinungskonsens zu treiben. Dieselben Medien, die heute über die Naivität der Protestierenden spotten, würden einer politischeren, klarer positionierten Bewegung Radikalität vorwerfen und ihr jeden Raum verweigern.

Revolten allein reichen nicht

Wie kann es nun weitergehen? Der Arabische Frühling scheint die alte These zu bestätigen, dass Revolten allein keine Emanzipation nach sich ziehen. In Tunesien haben Islamisten die Wahl gewonnen, in Ägypten zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, und dank des Libyenkriegs hat «der Westen» auch die Deutungshoheit über die Aufstände zurückerlangt. Repräsentierten zuvor die Versammlungen der Vielen den Ruf nach Freiheit und Demokratie, so wird diese Rolle jetzt wieder von westlichen Staaten inklusive ihrer Militärapparate in Anspruch genommen. Was bleibt, sind Modernisierungen, die noch hinter den früheren Zustand zurückzufallen drohen.

Die uralte Frage, wie aus Rebellionen, die wissen, was sie nicht wollen, gesellschaftliche Emanzipationsprozesse werden können, die etwas Neues schaffen, stellt sich offensichtlich auch im 21. Jahrhundert. Vor hundert Jahren gab es in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung – die nicht den einzigen, aber einen äusserst wichtigen Emanzipations­ansatz des vergangenen Jahrhunderts darstellte – zu diesem Problem drei Positionen: Die Mehrheitssozialdemo­kratInnen wollten den Impuls des Widerstands nutzen, um einen Frieden mit den Herrschenden zu schliessen. Man assimilierte sich und gab umfassende Befreiungsvorstellungen zuguns­ten von beschränkten politischen und sozialen Reformen auf. Der Leninismus als zweite grosse Strömung des 20. Jahrhunderts erklärte sich zum alleinigen Repräsentanten des Emanzipationsanliegens. Befreiung wurde zum Herrschafts- und Erziehungsprojekt einer führenden Gruppe umgedichtet, die bereit war, die neue revolutionäre Ordnung auch mit Mitteln des Terrors zu installieren.

Autonomie der Bewegungen

Doch schon damals gab es noch eine dritte Position. Rosa Luxemburg bestand darauf, dass Emanzipation nie von Minderheiten gestaltet werden kann. Protestbewegungen und Widerstand mass sie grosse Bedeutung bei, weil sie der Ansicht war, dass nur in ihnen die kollektiven Lern- und Bildungs­prozesse möglich sind, die Menschen aus der Fremdherrschaft in die Selbstbestimmung führen können. Anders als der Leninismus, der die Wahrheit zu kennen und durchsetzen zu müssen glaubte, gestand Luxemburg der politisch organisierten Linken demzufolge auch keine Führungsrolle zu. Ihr zufolge sollten Linke in Bewegungen inhaltliche Vorschläge unterbreiten und Erfahrungen zur Verfügung stellen, aber den Bewegungen nicht Rhythmus und Ziele aufzwingen dürfen.

Heute gehen einem für Luxemburg zentrale Begriffe wie «Aufklärung» und «Bewusstseinsbildung» aus gutem Grund nicht mehr so leicht über die Lippen. Und doch könnte es in den aktuellen Bewegungen um etwas Ähnliches gehen. Die Proteste brauchen theoretisches Wissen, strategische Debatten, sie brauchen klarere Vorstellungen davon, was die globale kapitalistische Gesellschaft ausmacht und wie Alternativen aussehen könnten.

Am Neuanfang stehen alte Probleme.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 8. Dezember 2011


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