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Selbstermächtigung

Ein Gespräch über Medien als Protestverstärker, neue und alte Aktivisten – und den Funken im Winter *


Simon Teune,35, beschäftigt sich am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung mit sozialen Bewegungen. Er studierte in Marburg und Berlin Soziologie und schreibt zurzeit an seiner Doktorarbeit zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Die ersten Massendemonstrationen erlebte er als Kind, als er von seinen Eltern zu den Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss mitgenommen wurde. Wie schwer es ist, wirkungsvolle Demonstrationen zu organisieren hat er am eigenen Leib erfahren: Zu der einzigen Demo, die er angemeldet hat, kamen sechs Teilnehmer.


ND: Selbst die Aufrufer zum Aktionstag am 15. Oktober waren überrascht von der großen Resonanz in Deutschland. Hätten Sie erwartet, dass 40 000 Menschen auf die Straße gehen?

Teune: Das war unberechenbar, weil die Mobilisierung untypisch abgelaufen ist. Wenn Gewerkschaften, die Linkspartei oder Umweltverbände zu einer Demonstration aufrufen, dann weiß man im Vorfeld, da kommen soundsoviel Busse zusammen, vielleicht der eine oder andere Sonderzug. Und dann kann man abschätzen, welche Größenordnung eine Demonstration haben wird. Das war hier nicht der Fall.

ND: Die Protestaufrufe von Attac oder linken Organisationen in den vergangenen Jahren haben nicht verfangen bzw. sind verpufft. Auch die Spanier mit ihren Protestcamps wurden hier nicht zum direkten Vorbild. Wie kommt es, dass sich die Menschen jetzt von den Wall-Street-Protesten inspirieren lassen?

Die Medien haben sehr getrommelt. Das hat eine große Rolle gespielt.

Die Medien haben die deutschen Occupy-Proteste produziert?

Die Mobilisierung über soziale Netzwerke, die in Spanien oder Israel entscheidend war, hat in Deutschland zwar auch stattgefunden, aber bei weitem nicht so stark. Das wurde aber durch die Medienberichterstattung kompensiert. Es kommt selten vor, dass Protestorganisatoren in den Nachrichten zu Wort kommen, die bis dahin ein paar dutzend Leute auf die Straße gebracht haben. Eine so massive Berichterstattung erzeugt das Gefühl, dass man durch Proteste etwas bewegen kann.

Die große Frage ist nun, ob das ganze eine Eintagsfliege bleibt oder ob der Funke übergesprungen ist.

Es ist zu früh, etwas dazu zu sagen. Man hat gesehen, dass es viele Leute gibt, die unzufrieden sind mit der Art, wie Politik gemacht wird. Ob sich das längerfristig in eine Massenbewegung übersetzt, wie sie sich in den USA oder in Israel und Spanien entwickelt hat, ist auch davon abhängig, was die aktiven Leute jetzt für Angebote machen.

Was wäre denn hilfreich?

Auf jeden Fall muss irgendeine Form gefunden werden, wie man den Protest verstetigt.

Sind die Zeltcamps an symbolisch aufgeladenen Orten ein gutes Angebot?

Da muss man schauen, wie lange das bei diesen Temperaturen noch funktioniert. Aber auf das Übernachten im Freien kommt es gar nicht so sehr an. Man braucht Protestcamps für den Austausch. Und das müsste sich mit regelmäßigen Veranstaltungen und Demonstrationen verbinden. Im Grunde reicht schon das Montagsdemo-Modell mit dem offenen Mikrofon.

Der Sozialprotest ist in vielen Ländern ein Jugendprotest. Die Jugendarbeitslosigkeit ist bei uns zwar nicht so hoch wie anderswo, aber auch in Deutschland fehlt die Sicherheit, die frühere Generationen hatten. Jobs und Verträge werden immer prekärer, soziale Sicherungssysteme schwächer. Dennoch ergeben Umfragen immer wieder, dass Jugendliche trotz Finanzkrise optimistisch in die Zukunft schauen. Wie kommt das?

Ich glaube, in Deutschland gibt es eher individuelle Bewältigungsstrategien. Junge Menschen in prekären Jobs und unbezahlten Praktika glauben, dass sie durch diese Phase durch müssen und dann auch die Möglichkeit bekommen, vernünftig Geld zu verdienen. Alle Versuche, die Generation Praktikum in größerem Maße zu mobilisieren, sind ja auch gescheitert.

Die Milliarden, die jetzt zur Bankenrettung ausgegeben werden, werden später fehlen. Sind Jugendliche vielleicht nur schlecht informiert und deshalb optimistisch?

Unter den gigantischen Zahlen kann sich niemand etwas vorstellen. Die Jugendlichen müssten sich ja auch noch überlegen, was das für die Gestaltungsspielräume in der Zukunft bedeutet. Das ist wirklich zu abstrakt.

Die Bewegung hat nur wenige konkrete Forderungen. Braucht sie die überhaupt?

Ich sehe das nicht als so großes Problem. Die Menschen drücken auf der Straße erstmal aus, welche Probleme in der repräsentativen Demokratie gerade nicht ankommen. Zentrale Aussage ist, dass die Wirtschaft nicht bestimmen soll, was die Politik macht. Alles andere ist in diesem Stadium notwendigerweise ziemlich vage. Im Moment geht es vor allem um Selbstermächtigung. Darum, sich Politik wieder anzueignen und darauf zu pochen, dass es Gestaltungsspielräume gibt.

Politiker bis in die CDU hinein, die die Krise mit verursacht haben, finden die Bankenproteste verständlich. Spricht das verbreitete Wohlwollen für die Macht der Proteste oder ist es eine fiese Umarmungsstrategie, um sie einzulullen?

Das könnte man beantworten, wenn einigermaßen klar umrissen wäre, was das Profil der Protestierenden ist. Es ist ja offen, wie tiefgehend die Kritik ist. Ich kann mir vorstellen, dass nicht wenige Protestierer damit zufrieden sind, wenn die Politik sagt, wir übernehmen das jetzt.

Aber Ausgangspunkt ist doch auch ein tiefes Misstrauen in etablierte politische Akteure.

Das stimmt. Aber viele fordern im Grunde das sozialdemokratische Versprechen ein: die Regulierung der Märkte und die Berücksichtigung der Benachteiligten. Die repräsentative Demokratie wird ja nicht an sich in Frage gestellt.

An den Protesten beteiligen sich auch politische Kräfte wie Attac, die durchaus konkrete Forderungen haben. Warum werden die nicht einfach übernommen?

Es laufen mehrere Prozesse parallel. Längjährige politische Akteure wie Attac oder die Linkspartei haben eine klare Agenda und wollen die Proteste nutzen, um ihre Forderungen stärker zu machen. Die sind an einem anderen Punkt als die Camper, die sich erstmal einen politischen Raum schaffen wollen.

Was folgt daraus?

Man muss sich bewusst machen, dass diese Proteste anders als die herkömmlichen funktionieren. Klassischerweise rufen Parteien, Gewerkschaften, politische Initiativen zu einer Demonstration auf und unterfüttern das mit Argumenten. Das ist bei dieser Form von Protesten anders. Diese funktionieren eher wie die Hartz-IV-Proteste 2004.

Inwiefern?

Am Anfang steht nicht eine Organisation, sondern ein Modell, das kopiert wird. Das war 2004 auch so. In Magdeburg fingen Demonstrationen gegen Hartz IV an und dieses Konzept wurde dann schnell an vielen Orten übernommen, ohne dass Gewerkschaften, Parteien oder Erwerbsloseninitiativen eine Rolle gespielt hätten. Bei den aktuellen Protesten ist das Modell, Plätze zu besetzen. Es ist spannend, wie es sich zeitversetzt überträgt - zuerst nach Spanien, dann nach Griechenland und Israel, dann in die USA. Der Versuch, dieses Modell auf Deutschland zu übertragen, ist wegen dieser Verzögerung total verkopft ...

...nicht authentisch, nur aufgesetzt?

Hier haben die Massenmedien geradezu einen deutschen Ableger der Protestbewegung eingefordert und Gruppen wie Attac haben sich die Proteste angeeignet. Sogar wie die Leute bezeichnet werden, war schon vorher klar. Es gab in Deutschland nicht die Möglichkeit, dass sich die Krisenproteste unabhängig entwickeln, sondern sie waren von vornherein überformt durch die Proteste in Spanien und den USA.

Ist das so schlecht? Erstmal übernimmt man ja nur eine Form.

Es ist nur eben kein spontaner Ausdruck von Protest. Und es heißt, dass sich die Zahlen an den Vorgängern messen lassen müssen.

Das Grundthema der Proteste wird auch in der Bundesrepublik breit geteilt. Im Vergleich zu den anderen Ländern sind es aber in der Tat immer noch recht wenige, die deshalb auf die Straße gehen.

Deutschland ist wirklich ein Sonderfall, weil es mit der Kurzarbeitsregelung sehr gut gelungen ist, die offensichtlichsten Krisensymptome gering zu halten.

Über einen Mangel an sozialen Problemen kann man aber auch in Deutschland nicht klagen.

Reallohnverluste und prekäre Arbeitsverhältnisse sind aber das Ergebnis eines langfristigen Prozesses, der durch die Krise noch verstärkt worden ist. Das ist etwas anderes als die Lohnkürzungen in Griechenland oder der Verlust der eigenen Immobilie in den USA. Zudem wird Armut in Deutschland sehr viel stärker als ein individuelles Problem wahrgenommen. Es gibt einen starken Druck, dass sich Arbeitslose gefälligst anzustrengen haben und den anderen nicht auf der Tasche liegen sollen.

Ist also die Masse der Deutschen für den Protest nicht reif?

Im Allgemeinen herrscht das Gefühl, dass die Wirtschaft brummt und die Deutschen gut weggekommen sind. Dass es zu Beginn der Krise die Ankündigung gab, den Finanzsektor zu regulieren, aber de facto nichts passiert ist, könnte mit den Protesten aber noch einmal neue Sprengkraft bekommen und die Menschen auf die Straße bringen.

Fragen: Ines Wallrodt

* Aus: neues deutschland, 22. Oktober 2011


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