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"Lieber Genosse Müntefering, ist dies der Respekt vor abweichenden Meinungen?"

Ein Brief gegen die Angriffe des SPD-Generalsekretärs auf die "Abweichler"

Die unverhüllten Angriffe der SPD-Führung, insbesondere des SPD-Generalsekretärs Müntefering, auf die Abgeordneten, die am 29. August im Bundestag gegen einen Bundeswehreinsatz in Makedonien gestimmt haben, hat Mathias Kohler vom Mannheimer Friedensplenum veranlasst, seinem "Genossen" einen inhaltsreichen Brief zu schreiben, den wir im Folgenden dokumentieren. Dabei nimmt Mathias Kohler konkret auf ein Interview, das am 2. September 2001 in der Sonntagsausgabe der FAZ veröffentlicht wurde.

Mannheim, 02. September 2001

Herrn
Franz Müntefering, SPD-Generalsekretär
10911 Berlin

Lieber Genosse Müntefering,

ich bin seit 28 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und immer an der Parteibasis aktiv. Seit über sieben Jahren arbeite ich im Vorstand des Ortsvereins Mannheim-Neckarau mit, dessen Vorsitzender ich seit fast zwei Jahren bin. Ich gehöre zu den Menschen in der Partei, die nach Feierabend losziehen, um Plakate aufzuhängen, ungezählte Stunden ehrenamtlich für unsere Partei aufbringen und etwas mit geholfen haben, dass im Oktober 1998 die rot-grüne Regierung die Kohlära beendet hat.

Der am 24. März 1999 mit deutscher Beteiligung begonnene Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien, der gegen unsere Verfassung, gegen geltendes Völkerrecht, gegen unser Regierungsprogramm und selbst gegen die Koalitionsvereinbarung verstieß, hat mich, der unter dem Eindruck sozialdemokratischer Entspannungs- und Friedenspolitik der Ära Willy Brandts in die SPD eingetreten war, in Widerspruch zur Mehrheit unserer Partei und den Beschlüssen des Bundestages gebracht. Leider hat bis zum heutigen Tag noch keine gründliche und kritische Aufarbeitung des Kosovo-Krieges in unserer Partei stattgefunden.

Da es sich auch beim Mazedonieneinsatz Deiner Meinung nach "um einen quasi-militärischen Einsatz handelt, spielt die Tradition der SPD schon eine gewichtige Rolle". Soll nach dem Willen unserer Parteiführung diese Tradition nicht mehr diese "gewichtige Rolle" spielen? Es hat den Anschein des Bedauerns, wenn Du feststellst, dass "wir über Jahrzehnte gelernt hatten, dass Deutschland sich militärisch zurückzuhalten habe".

Das Mißtrauen gegenüber militärischen Interventionen ist in der Öffentlichkeit und auch in unserer Partei geblieben und hat sich in der Ablehnung des Mazedonieneinsatzes durch 24 Koalitionsabgeordnete, zu denen erfreulicherweise auch unsere Mannheimer Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner gehört, auch erneut gezeigt.

Lieber Genosse Müntefering, sind denn die Argumente für den dritten Balkaneinsatz der Bundeswehr so schlecht, dass Du heute - auch noch ausgerechnet in der FAZ - zum großen Schlag gegen die "Abweichler" ausholen mußt? Auf welchen außen- bzw. militärpolitischen Weg will die Führung der SPD die Partei bringen, die sich bisher in Fragen von Krieg und Frieden immer deutlich von den konservativen und reaktionären Kräften unterschieden hat?

Du sprichst in der FAZ davon, dass "wir" aufgrund der Mehrheitsentscheidung des Bundestages unsere Verantwortung und "unser Recht" als Bündnispartner der NATO wahrnehmen können. Wollen wir "unser Recht" wahrnehmen, künftig bei jeder militärischen Intervention der NATO mitmachen zu wollen, gleichgültig wie sinnvoll oder wie völkerrechtlich sie (nicht) legitimiert ist?

Du sprichst "vom Erfolg für den Bundeskanzler und Deutschland, das im Gegensatz zu früher eingeladen ist, bei einem solchen Einsatz mitzumachen". Das klingt ja so, als ob Du bedauerst, dass Deutschland in früheren Jahren zu solchen Einsätzen nicht eingeladen worden ist. Vielleicht sollte man an dieser Stelle einmal die Frage stellen, was die Menschen der Regionen und der Länder empfinden, in denen deutsche Soldaten den faschistischen Angriffskrieg geführt und zum Teil furchtbar gewütet haben, wenn Jahre später wieder deutsche Soldaten dort ihre Aufgaben verrichten.

Gerade Jugoslawien hatte unter Hitlers Krieg und Bomben sehr zu leiden und hatte gemessen am Anteil der Bevölkerung die meisten Opfer des Zweiten Weltkrieges zu beklagen. In den Bombennächten des Frühjahres 1999 saßen in den Bunkern von Belgrad und anderer jugoslawischer Städte Frauen und Männer, die die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges am eigenen Leib erfahren mußten.

Du willst den "Abweichlern" (was für ein diskriminierendes Wort!) in der SPD-Fraktion "klipp und klar sagen, welche Verpflichtungen Deutschland hat". Davon abgesehen, dass ich in dieser Frage den Abgeordneten offenbar mehr an Kenntnissen zutraue, als Du dies für die Abgeordneten formulierst, verschiebst Du doch die für diese militärische Intervention genannten Gründe immer mehr. In den letzten Tagen ist fast nur noch von den "Verpflichtungen Deutschlands", von der "Verpflichtung gegenüber dem eigenen Land und der eigenen Regierung", von der neuen "europäischen Außen- und Sicherheitspolitik", von der "außenpolitischen Handlungsfähigkeit des Landes " oder gar von der "Staatsräson" die Rede. Das erinnert mich fatal an die letzten Wochen des Bombenkrieges gegen Jugoslawien: damals rückten auch die ursprünglichen Kriegsziele in den Hintergrund und man sprach fast nur noch vom Zusammenhalt und der Existenzberechtigung der NATO.

Die Menschen - auch die Bundestagsabgeordnete - sind nicht dümmer, wie man sie manchmal behandelt. Sie stellen sich die Frage, ob es beim Mazedonieneinsatz nicht noch um andere Ziele geht:
  • Warum braucht man 5.000 hoch bewaffnete Elitesoldaten, um 3.000 Gewehre einzusammeln, die freiwillig abgegeben werden?
  • Warum akzeptiert man, dass die UCK den Hauptteil ihrer Waffen behält und damit ihre Kriegsfähigkeit erhalten bleibt? Warum spricht man nicht deutlich davon, dass die Waffenabgabe der UCK nur ein "symbolischer Akt" ist (so ein NATO-Vertreter in Skopje)?
  • Warum will man erst jetzt, nach dem die UCK die bewaffneten Konflikte in Mazedonien ausgelöst hatte, dort den drohenden Bürgerkrieg verhindern und hat dies nicht schon viel früher getan als die UCK noch keine Stellungen in Mazedonien bezogen hatte?
  • Warum konnte die UCK aus dem NATO-Protektorat Kosovo (und insbesondere aus dem deutschen Sektor) fast ungehindert Waffen und Truppen nach Mazedonien schaffen, obwohl man heutzutage technisch und militärisch in der Lage ist, Grenzen sehr genau zu überwachen (zum Beispiel bei der Abwehr von Flüchtlingen)?
  • Warum hat die UCK als militärische Berater ehemalige US-Offiziere zur Verfügung? Woher stammen die Waffen und das Geld der UCK? Sammelt man jetzt die Waffen ein, die man (insbesondere die USA) zuvor selbst geliefert hatte?
  • Warum wird über die unterschiedlichen Interessen und offenbar auch bestehende Konflikte zwischen den USA und der Europäischen Gemeinschaft nicht im Bundestag und in der Öffentlichkeit informiert? Gibt es handfeste ökonomische Interessen der EU und den USA in der Balkanregion?
  • Was geschieht, wenn der Vertrag zwischen den Konfliktparteien in Mazedonien nicht eingehalten wird (das wäre nicht das erste mal im Balkan)? Zieht dann die NATO und die Bundeswehr nach 30 Tagen trotzdem ab oder ist dann mit Kampfeinsätze zu rechnen?
  • Warum setzt man die etwa 1 Mrd. DM, die von der NATO für den Mazedonieneinsatz aufgebracht wird, nicht für zivile Projekte in dieser Region ein (das Einsammeln eines UCK-Gewehres "kostet" die NATO etwa 300.000 DM)?
  • Wie ist es möglich, offenbar 120 bzw. auf Drängen der CDU 148 Mio. DM für den Mazedonieneinsatz zusätzlich aufzubringen, während dessen sich unsere Regierung nicht zu Unrecht rühmt, Schulden abzubauen und den Staatshaushalt zu sanieren (dazu passen übrigens Scharpings Vorschläge zum Thema Sozialhilfe wie die Faust aufs Auge)?
  • Warum hat man am letzten Mittwoch bei der Bundestagsdebatte zum Mazedonieneinsatz keinen der sogenannten Abweichler, sondern nur die Sprecher der jeweiligen Fraktionen zu Wort kommen lassen? Ist es demokratisch, wenn zur Rede die Gegenrede fehlt?
  • Warum hat man das nach dem Kosovokrieg gegebene Versprechung gebrochen, dass die Selbstmandatierung der NATO ein einmaliger Vorgang bleiben würde? Warum wird auf Beschlüsse der UN bzw. des Sicherheitsrates verzichtet? Wird die Selbstmandatierung zum Regel- und nicht zum Ausnahmefall?
  • Welche Aufgaben und welche Rolle soll in Zukunft die Bundeswehr erfüllen? Dient sie entsprechend unseres Grundgesetzes nur der Verteidigung oder der "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und den ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen" (verteidigungspolitische Richtlinien von 1992)?
Ich bin erschrocken über die Absolutheit Deiner Behauptung, es gäbe "keinen sachlichen Grund mehr, gegen die deutsche Beteiligung an dem Einsatz zu stimmen". Wer dies dennoch getan hat, handelt nach Deiner Diktion unsachlich. Ist dies der Respekt vor abweichenden Meinungen? "Bleibt die tatsächliche oder angebliche Gewissensentscheidung von Abgeordneten" fährst Du in Deiner Philippika fort, "wäre denn wirklich Gewissen durch Argumente nicht erreichbar.

Unsere Mannheimer Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner, die für den Kosovoeinsatz gestimmt hatte, hat sich mit ihrer Ablehnung des Mazedonieneinsatzes sehr schwer getan. Sie und auch die anderen Abgeordneten der Koalition haben eine nicht leichte Gewissensentscheidung getroffen, die sicherlich nicht ohne Druck aus der Partei und Fraktion erfolgt ist. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Angesichts dieses Verfassungsauftrages von "angeblichen Gewissensentscheidungen" zu sprechen finde ich eine ungeheuerliche Unterstellung.

Im letzten Teil Deines FAZ-Interviews triffst Du den Punkt, auf den die Kritiker der Auslandseinsätze der Bundeswehr immer wieder hinweisen: "Deutschland ist hier an einem historischen Punkt. Wir gehen auf eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu. Es wird unvermeidlich sein, dass sich Abstimmungen über Einsätze dieser Art wiederholen, auch wenn wir sie nicht suchen." Das heißt doch nur, dass der Kosovo- oder der Mazedonieneinsatz nicht die letzten militärischen Einsätze der Bundeswehr out-of-area waren. Wir sollen wohl alle darauf eingestimmt werden, dass Auslandseinsätze sich immer wieder wiederholen und künftig immer weniger auf nationaler Ebene entschieden werden. Ich bin sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis der Schäuble-Vorschlag, dass nicht das zähe Parlament, sondern die Regierung über Auslandseinsätze entscheiden soll, auch in unserer Partei ernsthaft diskutiert wird.

Du hast den sogenannten Abweichlern in der SPD-Fraktion damit gedroht, dass sie möglicherweise nicht mehr von der Partei für die nächste Bundestagswahl aufgestellt werden. Dies und die einverlangte Loyalität zur Regierung haben sicherlich dazu beigetragen, dass nicht alle in der Fraktion, die gegen militärische Einsätze dieser Art sind, im Bundestag auch dagegen gestimmt haben. Ich denke jedoch, dass Dir noch viel deutlicher als mir klar ist, dass die Kritiker des Mazedonieneinsatzes in der Partei und in der Fraktion mehr sind als die sechs Prozent der Abgeordnete der Koalition.

Sich offen und öffentlich in Widerspruch zur Mehrheit und zur Führung zu setzen ist nicht Sache aller Menschen und auch in unserer Partei nicht immer leicht. Aber eines ist klar: diese sechs Prozent der Koalitionsabgeordneten repräsentieren die Hälfte unserer Bevölkerung, die dem Mazedonieneinsatz ablehnend gegenüber steht.

Lieber Genosse Müntefering, gestatte mir am Schluss meines Briefes noch einen Hinweis:
Am 1. September jährte sich zum 62. Mal der Tag, an dem mit dem Überfall HitlerDeutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg begann. Mit diesem Krieg brachte Deutschland zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert ungeheures Leid über Millionen von Menschen, besonders in Osteuropa: 55 Millionen Menschen wurden getötet, davon allein 20 Millionen Sowjetmenschen, unzählige wurden verletzt und verstümmelt, Hunderttausende zu Zwangsarbeit verschleppt, Tausende von Dörfern und Städten wurden zerstört. Den Höhepunkt fand die faschistische Barbarei in der systematischen und industriellen Ermordung von sechs Millionen Juden in den Vernichtungslagern. Der 1. September wird seit vielen Jahren von den Gewerkschaften und der Friedensbewegung als "Antikriegstag begangen. In unserer Partei scheint jedoch dieser "Antikriegstag inzwischen keine Rolle mehr zu spielen. Weder in Presseerklärungen noch auf der Website der Partei taucht dieser Mahn- und Gedenktag auf - übrigens genauso wenig wie der 8. Mai. Ist das Zufall oder Ausdruck einer Entwicklung in unserer Partei?

Mit freundlichen Grüßen
Mathias Kohler

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