Aufstand der Ausgeschlossenen
Über Jugendproteste und Sozialrevolten
Von Michael Klundt *
In diesen Tagen erscheint die Nr. 88 von Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Neben dem Schwerpunktthema »Kapitalismusanalyse – methodische Aspekte« enthält die Ausgabe auch Texte zur aktuellen Krise des Kapitalismus und zu den Formen der Opposition und des Widerstands gegen selbige. Unter anderem schreiben Ingar Solty (zur »Occupy«-Bewegung in den USA), Harald Werner (zum neuen Programm der Partei Die Linke), Mohssen Massarrat (»Mißverständnisse über Kapitalismus«), Karl Hermann Tjaden (über Barrieren und Chancen einer marxistischen Mensch-Umwelt-Theorie), Andreas Wehr (über Imperialismus) und Helge Buttkereit (zur Klassenfrage in Lateinamerika). jW veröffentlichte aus dem Heft vorab eine Einschätzung der jüngsten Jugendrevolten (insbesondere in Großbritannien) von Michael Klundt – stark gekürzt und ohne den umfänglichen Fußnotenapparat. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Auszug.
Die Krise des Kasinokapitalismus und deren politische Regulation trifft die Jugend der Welt besonders hart und beschneidet viele ihrer Zukunftsperspektiven. Daß die Hälfte aller Minderjährigen weltweit in bitterer Armut lebt, ist keine Neuigkeit. Daß einige von ihnen sich dagegen wehren, auch nicht. Doch seit einiger Zeit – und wahrscheinlich verbessert durch technologische Möglichkeiten – scheint die Welle der Empörung der Jugendlichen auf praktisch allen Kontinenten nicht abzureißen. Die Bedingungen und Praxen der Jugendproteste weltweit sind nicht einfach auf einen Nenner zu bringen. Neben der vielleicht gemeinsamen Perspektivlosigkeit und Empörung über Ungerechtigkeiten des Finanzkapitalismus auf seiten vieler junger Menschen in Europa, den USA, Nordafrika, Chile, dem Nahen Osten usw. hängen die Erscheinungsformen und Inhalte der Auseinandersetzungen auch von den unterschiedlichen Formen neoliberaler Formierung der jeweiligen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten ab. (…)
Rebellion mit Ansage
Im Nachhinein betrachtet, kommen einem die Sozialrevolten des August 2011 in Englands Industriestädten fast wie ein Aufstand mit Ansage vor. Eine gestiegene Jugendarbeitslosigkeit (von 12,2 Prozent im Jahre 2000 auf offiziell über 20 Prozent 2010) und die niedrigste soziale Mobilitätsrate aller Industriestaaten der OECD machten vielen jungen Menschen deutlich, wohin sie gehören und was sie in ihrer Gesellschaft noch zählen. Mit dem härtesten »Sparprogramm« der gesamten britischen Geschichte von umgerechnet 95 Milliarden Euro bis 2015 versetzte die Regierung von James Cameron der Gesellschaft den nächsten schweren Schlag. Die damit verbundenen Kürzungen beim Kindergeld, der Jugendförderung, den Wohnzuschüssen, den Jugendclubs und Jugendhilfeprojekten führten dazu, daß bereits im Juli in der Zeitung Guardian ein Jugendlicher mit den Worten »Es wird Unruhen geben« zitiert wurde. Derweil sah auch der Vorsitzende des britischen Nationalen Kinderbüros, Sir Paul Ennals, den sozialen Sprengstoff sich in Form von Arbeitslosigkeit, Sozialkürzungen, sich lösenden Bindungen marginalisierter Jugendlicher an ihre Stadtviertel sowie vertiefter Entfremdungsprozesse anhäufen. Und schon viele Monate vor dem Ausbruch der Revolte hatte der Londoner Labour-Abgeordnete David Lammy dem Kürzungspaket der regierenden Liberaldemokraten und Konservativen vorgeworfen, »uns in die 80er zurückzuwerfen, als Frustration und Ärger, die sich aus vergeudeten Talenten und bitterer Armut speisten, zu sozialen Unruhen führten«. (…)
Das häufig als »Neoliberalismus« bezeichnete kapitalistische Bereicherungs- und Umverteilungsprojekt zugunsten der wohlhabendsten Vermögensbesitzer führt dazu, daß alle Werte des Zusammenhalts erodieren. (…) Nicht zu übersehen ist bei den Unruhen in Großbritannien vom August 2011 der Reflex auf die herrschende Amoral der finanzkapitalistischen Eliten in der Londoner City einerseits sowie verbrecherischer Murdoch-Medien und korrupter Polit- und Polizeianhängsel andererseits. Polizeikorruption und -brutalität provozierten so (sinnlose?) Gegengewalt. Die Sozialkürzungen der letzten Jahre und z.B. die Schließung von Jugendclubs (wie in Tottenham) taten wohl bereits im Vorfeld ihr übriges.
Postdemokratische Zustände
Während es Ende 2005 zu Aufständen in verschiedenen französischen Vororten kam, führten die Schüler- und Studierendenproteste gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes bei Neueinstellungen (CPE) im Frühjahr 2006 in Frankreich dazu, daß der Präsident Jacques Chirac ein bereits unterschriebenes Gesetz wieder zurücknehmen mußte.
In Großbritannien schien nun der Ablauf eher umgekehrt zu sein. Im Jahre 2010 gab es massive Streiks und Demonstrationen der britischen Studierenden u.a. gegen eine Anhebung der Studiengebühren auf jährlich umgerechnet etwa 10000 Euro. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, doch bis 2011 ebbte das Ganze anscheinend (zumindest was die mediale Aufmerksamkeit betrifft) wieder ab, und die Jugendunruhen in den Vorstädten folgten fast unabhängig davon im Sommer 2011.
Für den Berliner Protestforscher Simon Teune sind die englischen Aufstände als »Sozialrevolte« zu verstehen, während es sich bei den jungen Demonstranten in Südeuropa um »eine massive politische Protestbewegung« handelt. Der gemeinsame gesellschaftliche Hintergrund bestehe auch in der Finanzkrise und der jeweiligen staatlichen Sparpolitik, die »zu einer Wahrnehmung beitragen, daß die Menschen nicht mehr im Mittelpunkt stehen. In Deutschland hat man das an den Protesten gegen ›Stuttgart 21‹ gesehen. Es gibt einfach ein starkes Gefühl, daß die repräsentative Demokratie nicht mehr richtig funktioniert.«
Dabei lassen sich die Rahmenbedingungen des bürgerlichen Parlamentarismus mit Colin Crouch immer mehr als Tendenzen zu einer »Postdemokratie« beschreiben. »Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (…), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluß privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.« Dadurch besteht die Gefahr der »Refeudalisierung«, also des direkten Zugriffs auf politische Macht durch Wirtschaftseliten, Lobbyisten, Anwälte, Werbeagenturen, bezahlte Journalisten, käufliche Wissenschaftler etc. Die Resultate dieses Prozesses der Entdemokratisierung bekommen die Bevölkerungen nicht nur in Europa in verschiedensten Bereichen der Energie-, Gesundheits-, Renten-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zu spüren. Regierungen, die Pharma-, Energie-, Rüstungs-, Finanz-, Hotelier- und andere Konzernlobbys hofieren, die von Vermögenssteuern nichts wissen wollen und die Anhebung des Spitzensteuersatzes sowie der Erbschaftssteuer ablehnen, bedienen sich zur Schuldenreduktion beim übrigen Teil der Bevölkerung.
Der Unterschied in den Ausdrucksformen des Unmuts zwischen vorwiegend gewalttätigen Ausschreitungen in Großbritannien ohne explizite Forderungen und den weitgehend friedlichen Demonstrationen Jugendlicher in Griechenland, Spanien, Portugal usw. hat viel mit den unterschiedlichen Bedingungen und Bedeutungen für die Aufbegehrenden zu tun. »Im Süden Europas verhalte es sich anders mit dem Protest«, so Teune. Zwar hätten auch die Menschen in Spanien, Portugal oder Griechenland unter einer hohen (Jugend-)Erwerbslosigkeit zu leiden und dadurch das Gefühl, von der Politik um ihre Zukunftschancen betrogen zu werden. Aber die Demonstranten in den südlichen Ländern Europas seien gut ausgebildet und hätten oftmals einen anderen sozialen Hintergrund und bessere Ausgangsbedingungen als die in England. Die englischen »Ausgeschlossenen« seien auch mit grundsätzlichen Verwerfungen und alltäglichem Rassismus konfrontiert. Solche Ausnahmesituationen wie die Ausschreitungen Anfang August 2011 böten zudem für ihre Akteure eine Möglichkeit, aus der scheinbar schicksalhaften Abhängigkeit, Entmachtung und Benachteiligung auszubrechen und »den Takt anzugeben und sich selbst als Handelnde zu erleben«.
Gegen die mangelnde Repräsentation findet gleichsam eine nur scheinbar sprachlose Demonstration des eigenen Vorhandenseins in aller Öffentlichkeit statt. In diesem Sinne ermöglicht Randale den ins gesellschaftliche Abseits gestellten Akteuren, sich »ins Rampenlicht zu katapultieren«.
Dabei findet es Hendrik Ankenbrand in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung völlig logisch, daß die »Abgehängten« aus Großbritannien keine politischen Parolen rufen und keine Transparente tragen: »Was sollten sie darauf auch fordern? Zum bestehenden System, das ist seit 20 Jahren klar, gibt es keine Alternative, die eine Chance hat, verwirklicht zu werden. Auch die Finanzkrise hat daran nichts geändert, das hat mittlerweile auch der Dümmste begriffen – und reißt im Laden den Plasmafernseher von der Wand. Sich holen, was zu kriegen ist. Das ist die Logik des Krawalls.« Ankenbrand übersieht, daß die auch von ihm regelrecht verordnete Alternativlosigkeit eine zentrale Ursache der Wut und Verzweiflung vieler benachteiligter Jugendlicher darstellen könnte. Somit wird die bürgerliche Ideologie der Alternativlosigkeit abermals vorausgesetzt, damit niemand auf die Idee komme, daß das nicht die »Logik des Krawalls« sei, sondern der »Logik des Kapitals« entspreche, der selbstverständlich auch andere Logiken entgegengesetzt werden können. (…)
Und in Deutschland?
Besorgt fragten sich schon 2006 Sozialwissenschaftlerinnen wie Jutta Allmendinger und Christine Wimbauer, ob die hiesige Klassengesellschaft auch bald »französische Verhältnisse« erwarten läßt. »Kann die verfestigte Ungleichheit in Deutschland über die individuelle Betroffenheit hinaus eine kollektiv wahrgenommene Unterprivilegierung erzeugen – und damit einen Ausgangspunkt für so etwas wie Klassenbewußtsein? Werden auch in Deutschland Banlieues entstehen, brennende Vorstadtviertel wie in Paris?« Trotz der doch recht deterministischen Vorstellung von Klassenbewußtsein scheint gerade die Furcht vor solchen Umständen eine Triebkraft der deutschen »Unterschicht«-Debatte 2006 gewesen zu sein. Bis in die bürgerlich-konservativen Eliten hinein wird spätestens seitdem nicht mehr ausschließlich abwehrend auf die bislang als »dogmatisch-ideologisch« diffamierte Terminologie von »Klassen« und »Klassengesellschaft« reagiert.
So sieht selbst eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung die BRD »auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft (…), wobei die Trennungslinie eben nicht nur über Einkommen und Vermögen, sondern auch über kulturelle Dimensionen wie etwa Bildungskapital und Bildungsaspirationen, aber auch Werte und Alltagsästhetik verläuft. Ebenso erweisen sich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medienumgang als Abgrenzungsfaktoren. (…)« Die ungleiche Verteilung der Vermögen wird zukünftig durch den Generationenzusammenhang sogar noch weiter verschärft, da sich mit der Zunahme der Erbschaften und der Abnahme ihrer Besteuerung auch die sozialen Gegensätze vergrößern werden. (…)
Der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm versucht, die englischen Verhältnisse mit der Situation in Deutschland bzw. Berlin zu vergleichen und hebt dabei auch die Unterschiede hervor: »Unter den Festgenommenen sind Kinder und Jugendliche aus den Londoner Sozialwohnungsghettos ebenso vertreten wie Mittelklassekids von elitären Privatschulen. Die Krawalle verschließen sich einer klassischen Ursache-Wirkungs-Erklärung, weil es ganz offensichtlich überlagernde Motivlagen gibt. Umverteilungsaspekte von Plünderungen haben andere Ursachen als die scheinbar ziellose Zerstörungswut, oder ein aufgestauter Haß auf die Polizei oder die abendliche Kompensation des schulischen oder beruflichen Leistungsdruckes. Aufstände wie in London sind gerade in ihrer scheinbaren Ziellosigkeit Ausdruck der wachsenden Desintegration in den westlichen Gesellschaften. Und eben darin liegt auch die Vergleichbarkeit zur Berliner Situation. Unsere Gesellschaft ist ja grundsätzlich nach ähnlichen Prinzipien organisiert, und Leistungsdruck, soziale Polarisierung und Diskriminierungserfahrungen sind keine britische Besonderheit, sondern prägen auch in unseren Städten den Standard des Alltags für Hunderttausende. Unterschiede gibt es im Ausmaß und der Ausprägung der sozialen und auch räumlichen Ausgrenzungsprozesse. Großbritannien hat einfach 15 Jahre Vorsprung beim Abbau des Sozialstaates – doch der Trend der Stadtpolitik weist in genau diese Richtung.«
Laut Renate Köcher vom konservativen Meinungsforschungsinstitut Allensbach bleiben in Deutschland »Unter- und Mittelschicht (…) abhängig vom Arbeitseinkommen. Die Oberschicht hat sich aus dieser Abhängigkeit gelöst. Aber auch sonst läuft vieles auseinander in der Gesellschaft.« Köcher verweist darauf, daß fast die gesamten letzten beiden Jahrzehnte wirklich nur für das oberste Fünftel der Gesellschaft zum Gewinngeschäft wurden, während die unteren 80 Prozent der Bevölkerung reale Einbußen zu verzeichnen hatten. »Aufgrund der konjunkturellen Schwächephasen und der Entwicklung der Lebenshaltungskosten stagnierte zwischen dem Beginn der neunziger Jahre und 2007 das frei disponible Einkommen, das nach Begleichen aller notwendigen Lebenshaltungskosten verbleibt, in den unteren Schichten nominal und ging entsprechend real zurück; die Mittelschicht verzeichnete im selben Zeitraum nominal Zuwächse, real leichte Verluste und lediglich die nach Bildung, beruflicher Position und Einkommen oberen 20 Prozent nominal und auch real deutliche Zuwächse ihrer finanziellen Spielräume.« Köcher fragt sich daher ernsthaft: »Produzieren wir eine Schicht sozialer Verlierer?«
Junges »Humankapital«
Derweil lassen sich verschiedene Formen der marktkonformen Instrumentalisierung von Jugendlichen beobachten, wenn in politischen Diskursen Kinder und Jugendliche für verschiedene Zwecke benutzt werden. So stellt die Mitteilung der EU-Kommission zu einer »EU-Strategie für die Jugend – Investitionen und Empowerment« fest, daß »angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise (…) das junge Humankapital gehegt und gepflegt werden« müsse. Junge Menschen stellten eine »Ressource für die Gesellschaft (dar), die genutzt werden kann, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele zu erreichen«. Somit wird offenbar, worauf die Kritik an einer »neoliberalen Hegemonie in der EU« zielt: Eine völlige Marktorientierung, die den Wert von Menschen nur an ihrer instrumentellen Vernutzbarkeit mißt. Wenn jedoch das alte »Finanzkapital« nicht mehr kann, wie es will, und das »junge Humankapital« nicht mehr will, wie es soll, kann es passieren, daß die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden, wie inzwischen in vielen Staaten z.B. anhand der sogenannten Occupy-Bewegung sichtbar wird.
Hinsichtlich der Lebenslage, Teilnahmedefizite und psychischen Belastungen junger Menschen beobachtete Andreas Klocke bereits vor über zehn Jahren eine »Kumulation und Verstetigung von einerseits negativen und andererseits positiven Lebenssituationen«. Er prognostizierte für Europa eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Kindes- bzw. Jugendalter und sprach von der Möglichkeit zur Ausbildung einer »sozialen Unterschicht« (underclass) junger Erwachsener, wie man sie bisher nur aus den USA kannte, mit ähnlichen Gefahren ihrer Entfremdung von den konsensualen Normen. Diese Befürchtung sollte jedoch genau hinsichtlich ihres sozialtechnologischen Impetus überprüft werden. Was wären denn die »konsensualen Normen« eines strukturell Desintegration und Entfremdung produzierenden kapitalistischen Gesellschaftssystems, in welches Jugendliche integriert werden sollen? Haben nicht deviante, Gewalt ausübende und kriminelle Jugendliche die herrschenden, nämlich sozialdarwinistischen Konkurrenz- und Korruptionsprinzipien und »konsensualen Normen« viel stärker verinnerlicht, als einigen Sozialforschern bewußt ist? Oder, wie es Sophie Albers in einem Stern-Kommentar beschreibt: »Welche Vorbilder haben eigentlich Kinder und Jugendliche in Berlin oder New York, die sehen, daß Gier in der Erwachsenenwelt zu Erfolg und Reichtum führt? In der ›schlechtes‹ Handeln nicht automatisch für ein ›schlechtes‹ Leben sorgt?«
Abweichende Verhaltensweisen sind für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu auch im Kontext von Entmutigungen und Perspektivlosigkeit zu erklären. »Was sich aus (…) all den von Meinungsforschern als ›irrational‹ qualifizierten Verhaltensweisen (…) preisgibt oder verrät, ist das Gefühl des Im-Stich-gelassen-Seins, der Hoffnungslosigkeit, ja der Absurdität, das sich diesen Menschen allesamt aufzwingt, die (…) auf die nackte Wahrheit ihrer Lage zurückgeworfen sind.« Gerade hinsichtlich der in Armutsmilieus verbreiteten Gewaltförmigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und Glücksspielsucht erkennt Bourdieu beinahe Regelmäßigkeiten und reale Bedingungsfaktoren für den verbreiteten »Geist geistloser Zustände« (Karl Marx). »Vom Spiel ausgeschlossen, müde geworden, an den Weihnachtsmann zu schreiben, auf Godot zu warten, in dieser Nicht-Zeit zu leben, in der es nichts zu erwarten gibt, können diese Menschen, denen die vitale Illusion genommen ist, eine Funktion oder eine Mission zu haben, etwas zu sein oder zu tun zu haben, um das Gefühl zu haben, zu existieren, um die Nicht-Zeit totzuschlagen, zu Aktivitäten Zuflucht nehmen, die wie (…) all die Glücksspiele, die in allen Slums und Favelas der Welt gespielt werden, die Möglichkeit bieten, für einen Moment (…) die Erwartung, d.h. die finalisierte Zeit, die an und für sich Quelle der Befriedigung ist, wiedereinzuführen. Um sich loszureißen von dem Gefühl, der Spielball fremder Kräfte zu sein (…), um der fatalistischen Unterwerfung unter die Mächte der Welt ein Ende zu machen, können sie, zumal die Jüngsten, auch in Gewaltakten, deren Eigenwert mehr oder ebensoviel zählt wie der reale Gewinn, den sie bringen, ein verzweifeltes Mittel suchen, sich ›interessant‹ zu machen, vor den anderen, für die anderen zu existieren, zu einer, in einem Wort, anerkannten Form sozialer Existenz zu gelangen.« Dadurch lassen sich also auf den ersten Blick völlig irrationale und unverständliche Denk- und Handlungsweisen aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus verstehen bzw. erklären. (…)
Ein weiterer oft unberücksichtigter Faktor für gewaltsame Aufstände stellt die (auch mediale) Nichtberücksichtigung und -anerkennung der sich benachteiligt und entwürdigt Fühlenden im Vorfeld von Ausschreitungen dar. So konnten etwa in Pariser Vororten Ende 2005 große Demonstrationen mit vielen tausend Menschen stattfinden – die Medien berichteten erst, dann aber weltweit, wenn Autos und andere Dinge brannten. Insofern sind Protestkulturen wohl auch immer wieder mitgeprägt von Wandlungsprozessen in den Strukturen der Öffentlichkeit beziehungsweise der veröffentlichten Meinung. »In England wurde jüngst ein Demonstrant gefragt, ob die Gewalt auf der Straße denn das richtige Mittel sei, und er antwortete: ›Ohne die Gewalt würden sie nicht mit mir sprechen‹.« (…)
»Nur das, was alle tun«
Wer sich mit Gewaltausbrüchen auseinandersetzt, sollte auch die allgemeine Verrohung in der Gesellschaft nicht ausblenden. Die bürgerlichen Eliten der großen kapitalistischen Staaten führen Klassenkriege im Inneren und Kriege in anderen Ländern, wo sie ihr Vaterland am Hindukusch (Peter Struck, SPD) und sonstwo verteidigen sowie hin und wieder Hunderte von Zivilisten töten lassen, und wundern sich, daß sich ihre Gesellschaften allmählich brutalisieren. An den Aufständen in englischen Großstädten läßt sich ganz passabel studieren, was für Konsequenzen die nachhaltige neoliberale Spaltung und Zerstörung der Gesellschaft und jeglicher solidarischer Werte zeitigen. Bereichert euch! Nimm dir, was du kriegen kannst und vernichte, was dir dabei im Wege steht! Dieses Motto galt bislang nur für die Banker und Spekulanten der Londoner City und deren korrupten Anhang aus Politik, Medien und Polizei. Nun scheinen viele Vorstadtjugendliche davon gelernt zu haben und versuchen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten wenigstens mit Flachbildschirmen und Sportschuhen auszustatten. Neben Zerstörungen öffentlicher und privater Güter aus Verzweiflung und Wut stellen die verschiedenen Plünderungen offenbar auch einen Reflex auf die neoliberalen Plünderungen der letzten Jahrzehnte dar. Die Enteigneten des Neoliberalismus zerschlagen alles und enteignen ihre Umwelt.
David Harvey stellt den allenthalben in bürgerlichen Gazetten geäußerten Beschreibungen der jugendlichen Protestierer und Randalierer als »nihilistische und verwilderte Teenager« (Daily Mail) seine gesellschaftskritische Analyse gegenüber. Danach explodiere vielmehr der »verwilderte Kapitalismus auf der Straße«. Verwildert seien auch die Instinkte des Premierministers Cameron, welcher mit Wasserwerfern, Tränengas, Plastikgeschossen und Konzepten der Sippenhaft (Forderung, den Familien von jugendlichen Straftätern die Wohnung im sozialen Wohnungsbau zu kündigen) einerseits sowie dem Appell an moralische Gesinnung, Sitte, Anstand, familiäre Werte und Disziplin andererseits versuchte, die Aufstände der »Underclass« unter Kontrolle zu bringen.
»Das eigentliche Problem«, so Harvey, »ist jedoch die Gesellschaft, in der wir leben. Sie wird von einem Kapitalismus bestimmt, der selber extrem verwildert ist. Wild gewordene Politiker schummeln bei ihren Ausgaben, verwilderte Bankiers plündern die öffentlichen Kassen bis auf den letzten Cent aus, Konzernchefs, Betreiber von Hedge Fonds und die Genies der Private-Equity-Firmen rauben die Reichtümer dieser Welt, Telefon- und Kreditkartengesellschaften knöpfen uns rätselhafte Gebühren ab, der Einzelhandel betrügt bei den Preisen, und im Handumdrehen können Schwindler und Trickbetrüger mit ihren Hütchenspielen bis in die höchsten Kreise von Wirtschaft und Politik gelangen.« Dabei komme eine regelrechte »politische Ökonomie der massenhaften Enteignung und der offenen Ausraubung am hellichten Tag« zum Tragen, die besonders den Armen und Schutzlosen sowie einfachen und rechtlich nicht abgesicherten Menschen schade. Dagegen vollziehen die Straßenrandalierer »nur das, was alle tun, lediglich auf andere Weise – ungenierter und sichtbarer mitten auf der Straße. Der Thatcherismus hat die brutalen Instinkte des Kapitalismus entfesselt (…) und seitdem wurde nichts unternommen, um sie im Zaum zu halten. Fast überall haben die herrschenden Klassen ganz offen das Prinzip der Brandrodungen zu ihrem Motto erklärt.« (…)
* Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 22. Jahrgang, Nr. 88; Einzelheft 10 Euro. Bestellungen unter: www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de
Aus: junge Welt, 29. November 2011
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