Weltmacht USA und Konkurrent EU
Warum Europa gegen den US-Krieg gegen Irak ist
Von Werner Ruf*
Vortrag auf dem Friedenspolitischen Kongress in Hannover, 31. August 2002
I. US-Unilateralismus
Es ist hier nicht nötig, ausführlich auf den amerikanischen Unilateralismus einzugehen, der mit dem Ende des bipolaren Systems begann und im Zweiten Golfkrieg seinen ersten Ausdruck fand. (1) Bereits damals hatte der Politologe und prominente Politikberater Charles Krauthammer in seinem Aufsatz "Der unipolare Augenblick" der politischen Führung ins Stammbuch geschrieben:
"Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit richtet sich in solchen Zeiten wie in schwierigen Zeiten der Vergangenheit auf Amerikas Stärke und den Willen - auf die Stärke und den Willen, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham
(unshamedly) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie durchzusetzen." (2)
Vor diesem Hintergrund erscheint der 11. September 2001 wenn nicht als Geschenk des Himmels so doch, um Henry Kissinger zu zitieren, als "Tragödie, die zur Chance werden kann".(3) Und mit der Resolution 1368 des Sicherheitsrats, der den zentralen Artikel 51 der Charta zitierend auf "das legitime Recht (der Staaten) zur Selbstverteidigung" verweist, dabei aber den entscheidenden Halbsatz dieses Artikels "bis der Sicherheitsrat die entsprechenden Maßnahmen ergreift" unterschlägt, haben sich die USA die Ermächtigung zu weltweiter Kriegführung nach eigener Entscheidung erteilt. Und obwohl die NATO-Mitglieder sich beeilten, ihre "uneingeschränkte Solidarität" durch Erklärung des Bündnisfalls nach Art. 5 des NATO-Vertrags zu unterstreichen, zeigten die USA die kalte Schulter, führen ihren Krieg in Afghanistan ohne das Bündnis, gewähren die Gnade des Mitschießen-Dürfens einzelnen Bittstellern aus dem Kreise der Verbündeten. "Terroristen", "Schurkenstaaten" oder die "Achse des Bösen" sind hinfort das Resultat definitorischer Willkür, die aus tagespolitischen Entscheidungen des Hegemons resultieren.
Die Arroganz und Willkür der US-Außenpolitik zeigt sich genauso in der Kündigung des ABM-Vertrages, der Weigerung, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen oder dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten, im Umgang mit den Gefangenen aus Afghanistan usw. usw. Während auf der einen Seite die Menschenrechte bemüht werden, um militärische Interventionen zu rechtfertigen, scheinen die Menschenrechte realer oder potentieller Gegner nicht zu existieren, man denke nur an die Hunderttausende von Kindern, die in Irak in der Folge der Embargo-Politik gestorben sind, an die Kriegführung in Jugoslawien und Afghanistan, an die mit US-Billigung täglich praktizierte Unterdrückung und Ermordung von Palästinensern in den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten. Diese Politik der
double standards, der zweierlei Maßstäbe, wie Pierre Bourdieu sie gebrandmarkt hat,(4) entkräftet nicht nur die scheinheilige moralische Argumentation, sie schürt auch jenen Hass, der aus der permanenten Demütigung erwächst und der möglicherweise das Motiv für die Anschläge des 11. September war.
II. Konkurrent Europa?
Aber ist die Welt so unipolar? Ist die Dominanz der USA so total, nur weil sie militärisch die einzige Führungsmacht sind? Frank Deppe (5) hat schon 1991 darüber nachgedacht, ob die Welt nicht eher auf dem Wege zur Herausbildung einer Triade ist, also eine in hohem Maße instabilen Konstellation. Dann wären die in diesen Tagen immer deutlicher werdenden Widerstände der Europäer gegen einen willkürlich vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Irak mehr als das Resultat (wahl-)taktischer Einschätzungen: Jenseits der Gefahr, dass der gesamte Nahe Osten in Flammen aufgeht, weil die dortigen autoritären und illegitimen Regierungen, fast allesamt "freunde" der USA, den Volkszorn nicht mehr unterdrücken können, hätte dieser Krieg mit Sicherheit eine Explosion des Ölpreises zur Folge. Dies aber träfe die Europäer und Japan ungleich härter als die USA, die - noch - etwa zehn Prozent ihrer Ölimporte aus der Region beziehen, Europa aber vierzig und Japan gar siebzig Prozent. Eine solche Entwicklung wäre ein vernichtender Schlag für die Konkurrenzfähigkeit europäischer (und japanischer) Produkte auf dem Weltmarkt.
Ist Europa nicht schon längst ökonomischer und damit letztlich auch politischer Konkurrent? War nicht die Einführung des Euro eine Kampfansage an das Weltwährungsmonopol des Dollar? Sind nicht EU-Osterweiterung, EU-Mittelmeerpolitik und die besonderen Wirtschaftsbeziehungen zu den AKP-Staaten der gezielte Versuch, einen eigenen Welthandelsraum zu schaffen, der zudem in weiten Bereichen im Widerspruch steht zu den Vereinbarungen der WTO? Und schließlich sind da auch die permanenten Anstrengungen der Europäer, sich eine militärische Kapazität zuzulegen, die mit den USA gleichziehen kann. Die Debatte um die so genannte Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ESVP offenbart letztlich doch nur die Unfähigkeit der Europäer, sich mit einer effizienten und weltweit einsatzfähigen Interventionsmacht zu versehen - trotz aller Anstrengungen zum Aufbau von Satellitensystemen zwecks effizienter elektronischer Kriegsführung(6), zur Bereitstellung von Transportflugzeugen und Logistik. Diese Debatte ist umso gespenstischer, wenn man einerseits die Forderungen der USA nach einem größeren und effizienteren militärischen Beitrag der Europäer betrachtet, andererseits feststellen muss, dass die USA nicht bereit sind, ihre High-tech-Waffen den Europäern zur Verfügung zu stellen oder in Koproduktion zu fertigen. Die Dominanz im Militärischen soll auch die politische Dominanz festschreiben. Und die Europäer haben eine wichtige Trumpfkarte im transatlantischen Verhältnis verloren: Seit Ende des bipolaren Systems sind sie nicht mehr geostrategisches Aufmarschfeld der USA gegen den kommunistischen Gegner im Osten.
Gerade angesichts dieser Weigerung der USA entpuppen sich die von den konservativen Politikberatern hierzulande immer wieder vorgetragenen Forderungen nach einer Erhöhung der europäischen Rüstungsetats (7) als das Gegenteil dessen, was sie vorgeben: Nicht eine Steigerung der militärischen Kapazitäten der Europäer wird die USA dazu zwingen, Europa mehr Mitspracherechte einzuräumen. Im Gegenteil: Genau dieses ist nicht gewollt. Klar und deutlich brachte das US-Verteidigungsminister Rumsfeld auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum Ausdruck:
"Not the coalition defines the mission, the mission defines the coalition." (8) Heißt im Klartext: Wir sagen was zu tun ist, und wir suchen uns die Partner dafür nach eigener Einschätzung aus.
Damit wird auch klar, dass die in Europa immer wieder vorgetragenen Forderungen nach Erhöhung der militärischen Fähigkeiten letztlich darauf abzielen, selbständig und unabhängig von den USA weltweit militärisch intervenieren zu können. Dass diesem der alte, schon von Immanuel Kant widerlegte Trugschluss zugrunde liegt, Sicherheit könne durch Überlegenheit hergestellt werden, kann hier nicht in der notwendigen Tiefe diskutiert werden. Angemerkt sei jedoch, dass die Kant'sche Argumentation in der globalisierten Welt eine neue Dimension erhält: Sicherheit kann erst dadurch dauerhaft gewährleistet werden, dass "der Andere" sich nicht mehr bedroht fühlt, eigene Sicherheit ist also in erster Linie die Sicherheit des Anderen. Und in einer globalisierten Welt, in der die Staaten längst nicht mehr die Alleininhaber des Gewaltmonopols sind, (9) ist Sicherheit auch längst mehr geworden als militärische Sicherheit: Sie ist längst ökonomisch, sozial, kulturell ...
III. Europäische Alternativen?
Europa ist längst wirtschaftlicher aber auch kultureller Konkurrent der USA und müsste sich deshalb dieser Herausforderung stellen, um eine alternative, zivile Außen- und Sicherheitspolitik glaubhaft zu formulieren und zu praktizieren, dies umso mehr, als eine militärische Gleichwertigkeit unerreichbar bleiben wird. Die Voraussetzungen hierfür sind längst gegeben. Fast mit Verzückung liest man die Grundsatzerklärung der EU-Präsidentschaft zum Gipfel in Laeken (Dez. 2001):(10)
"Was ist Europas Rolle in dieser veränderten Welt? Hat nicht Europa, jetzt wo es endlich vereinigt ist, eine führende Rolle zu spielen in einer neuen Weltordnung, die Rolle einre Macht, die fähig ist, sowohl weltweit eine stabilisierende Rolle zu spielen als auch vielen Ländern und Völkern den Weg zu zeigen? Europa als der Kontinent menschlicher Werte, der Magna Charta, der Bill of Rights, der Französischen Revolution und des Falls der Berliner Mauer; der Kontinent der Freiheit, der Solidarität und - vor allem - der Vielfalt, des Respekts vor den Sprachen, Kulturen, Traditionen der Anderen. Die Grenze Europas sind Demokratie und Menschenrechte. ... Jetzt, wo der Kalte Krieg zu Ende ist und wir in einer globalisierten, das heißt stark fragmentierten Welt leben, muss Europa seine Verantwortung in der governance der Globalisierung schultern. Die Rolle, die es spielen muss, ist die einer Macht, die entschlossen kämpft gegen jede Art von Gewalt, Terror und Fanatismus, die aber ihre Augen nicht verschließt vor den herzzerreißenden Ungerechtigkeiten der Welt. Kurzum, eine Macht, die den Lauf der Weltgeschichte so verändern möchte, dass diese nicht nur den reichen Ländern nützt sondern auch den ärmsten. Eine Macht, die die Globalisierung in einen moralischen Rahmen zwingt, in anderen Worten, die sie verankert in Solidarität und nachhaltiger Entwicklung."
Dies ist möglicherweise mehr als ergötzliche Prosa für den politischen Schaufenstergebrauch. Denn die Erfolge der EU liegen in der wirtschaftlichen und sozialen Integration - nicht nur innerhalb der Union, auch in ihren außenpolitischen Leistungen und Dimensionen wie z.B. in der Osterweiterung, in der Mittelmeerpolitik, in der Politik gegenüber den AKP-Staaten. Und solche Politik ist durchaus interessenkonform und funktional - auch wenn sie keineswegs frei ist vom Streben nach Dominanz: Investitionen brauchen Freiheit, sprich: Marktfreiheit. Und: Rechtssicherheit! Diese ist aber nur zu haben um den Preis von Demokratie und Gewaltenteilung. Nicht zuletzt die EU-Mittelmeerpolitik, die für den AKP-Bereich entwickelte Europäische Initiative für Demokratie und Menschenrechte illustrieren die Politikansätze in dieser Richtung, aber auch die Widersprüche europäischer Politik. (11) Die Demokratisierung der assoziierten Staaten, die damit notwendigerweise einhergehende Transformation in Richtung auf Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der individuellen (bürgerlichen) Menschenrechte ist nicht nur Voraussetzung für ein sicheres Investitionsklima, sie schafft auch Raum für politische und soziale Veränderungsprozesse in Ländern, deren Regierungssystem gekennzeichnet ist durch diktatorische Willkür, Systematisierung der Folter und schier uferlose Korruption.
Die vollmundigen Erklärungen des Europa-Parlaments, der EU-Kommission und der EU-Präsidentschaften gewännen durch eine solche Politik an Glaubwürdigkeit, sie könnten einen präventiven Beitrag zu zwischenstaatlichen und innergesellschaftliche Konflikten leisten. Die Voraussetzungen für eine solche Politik sind durchaus gegeben. Sie müssten aber anders und anderswo implementiert werden als durch vollmundige Erklärungen in Straßburg und Brüssel: Zwei europäische Staaten sind Mitglieder des UN-Sicherheitsrates - wo hätte man dort je eine genuin europäische Position entdeckt? In der Vollversammlung stellt die EU zahlenmäßig wie auch aufgrund ihres Potentials einen gewichtigen Block dar. Statt gemeinsam mit den USA im Rahmen einer möglichen Reform der UNO auf die Abschaffung des Wirtschafts- und Sozialrats ECOSOC, eines der Organe der VN! hinzuarbeiten, müsste dieser gestärkt werden. Die EU könnte ihr Gewicht in den Sonderorganisationen der VN einbringen und von dort aus zivilisierend und im Sinne einer Prävention von Konflikten tätig werden.
Dabei geht es nicht darum, aus den vorhandenen militärischen Defiziten der EU nun eine pazifistische Tugendhaftigkeit zu konstruieren. Es geht um die banale Erkenntnis, dass spätestens in einer globalisierten Welt (12) Konflikte nicht mehr militärisch lösbar sind - so sie dies je waren. Angesichts der tatsächlich vorhandenen Konkurrenz zwischen den USA und Europa, die letztlich nicht im militärischen, sondern im wirtschaftlichen Bereich liegt, steht nicht eine gigantische europäische Nachrüstung auf der Tagesordnung, sondern die Entwicklung einer alternativen und zivilen europäischen Außenpolitik, die Abschied nimmt vom Sicherheitsdenken in Kategorien der militärischen Überlegenheit und statt dessen konsequent Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördert und militärische wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Sicherheitsbedürfnisse der Anderen als legitim anerkennt. Eine solcherart konsequent betriebene Politik könnte mittelfristig auch Einfluss haben auf einen Paradigmenwechsel der US-Außenpolitik. Hier liegen die Aufgaben der Bewegungen, die sich für alternative Politikformen, für Bekämpfung von Konfliktursachen und für friedliche Konfliktregelung einsetzen.
Fußnoten:-
Vgl. hierzu: Ruf, Werner: Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrats mit der "Dritten Welt", Münster 1994.
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Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs, Nr. 1/1991, S. 23.
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Zit. n. Robinson, Lord: Die Tragödie als Chance. Die NATO nach dem 11. September. In: Die Internationale Politik, Nr. 7/2002, S. 1 - 6.
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Interview in FR, 21. Nov. 2001.
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Deppe, Frank: Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltordnung. Marburg 1991.
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Hier vor allem die Einrichtung des Satellitenzentrums der EU in Torrejón de Ardoz, Spanien. S. hierzu Entschließung des Europarats vom 20 Juli 2001. Wortlaut der Entschließung in: From Nice to Laeken. European defence: core documents, Chaillot Paper N° 51, April 2002, S. 76 - 85.
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S. u.a.: Weidenfeld, Werner: Die einsame Weltmacht. Editorial in: Die Internationale Politik, Nr. 4(2002, S. 1 - 2. Haftendorn, Helga: Das Ende der alten NATO; in: Internationale Politik, a.a.O. S. 49 - 54. Gnesotto, Nicole: Übermilitarisierung amerikanischer Außenpolitik. Unilateralismus als Folge europäischer Schwäche? In: Internationale Politik a.a.O. S. 43 - 48. Naumann, Klaus: das Bündnis vor dem Aus? Gedanken über die Zukunft der NATO a.a.O. S. 7 - 14.
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Zit. n. Arnold, Hans: Die EU in der UNO. Ungenutzte Möglichkeiten europäischer Weltpolitik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5/2002, S. 571 - 580. hier S. 579.
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Dieser Ausgangshypothese Huntingtons in seinem ansonsten wissenschaftlich unhaltbaren aber politisch wegweisenden Aufsatz ist durchaus zuzustimmen. S. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Summer 1993, pp. 22-49. Zu diesem Aspekt gehört auch die beobachtbare und im Zuge der Durchsetzung des Neo-Liberalismus beobachtbare Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols, der Privatisierung von Gewalt und Kriegführung wie der Zerfall staatlicher Autorität, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.
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Zit. n. Institut für Sicherheitsstudien (Hrsg): Chaillot Paper Nr. 7, Paris 2002, S. 113 f, Übersetzt aus dem englischen W. R.
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S. Ruf, Werner: Political authoritarianism and Western security policies in the Mediterranean. Paper presented at the 1st World congress of Middle Eastern Studies, Mainz, 9-14 September 2002.
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Die "alten" Kriege wurden noch geführt mit dem Ziel, Territorien zu erweben, deren Ressourcen in Wert zu setzten, deren Arbeitskräfte hierfür zu nutzen. Jenseits solcher Ressourcen wie des Erdöls macht das world wide sourcing von Rohstoffen und Arbeitskräften die territoriale Kontrolle von Räumen zunehmend überflüssig.
* Prof. Dr. Werner Ruf ist Hochschullehrer für Internationale Beziehungen und Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Universität Kassel;
Die Vorträge und Kongressergebnisse sollen in Kürze beim Verlag VSA (Hamburg) erscheinen.
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