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Antimilitaristen stehen vor Gericht – und klagen selbst an

Ein Prozess in Hamburg wegen Hausfriedensbruchs wird gegen Geldzahlungen eingestellt / Beifall für Erklärungen der Angeklagten

Von Susann Witt-Stahl, Hamburg *

Angeklagte Kriegsgegner verwandeln ihr Gerichtsverfahren in Hamburg wegen Hausfriedensbruchs in ein Tribunal gegen das Rüstungsunternehmen Blohm + Voss.

Verkehrte Verhältnisse herrschten gestern im Amtsgericht Hamburg-Harburg. Drei angeklagte Friedensaktivisten klagten an: »Wir werden den Prozess führen gegen die Kriegstreiber von gestern und heute! Und vor allem dagegen, dass sie schon wieder den Antimilitarismus, der so sehr ihren Interessen widerspricht, verbieten wollen.«

Die Vorgeschichte: Am 23. Oktober vergangenen Jahres hatten acht Teilnehmer des gleichzeitig in Hamburg stattfindenden »IV. Jugendaktivistentreffen des Jugendaktionsausschuss – Notstand der Republik« den mit Stacheldraht gesicherten Zaun um das Gelände der Hamburger Werft Blohm + Voss überwunden. Sie marschierten zu Dock 10 und ließen an der Wasserseite ein Transparent mit der Aufschrift »Unsere Zukunft ist nicht Krise, Krieg und Barbarei. Klassenkampf statt Weltkrieg. Für die internationale Solidarität« herunter. »Das hing dort 20 Minuten, bis ein etwas verwirrter Werkschutz uns fragte, was wir denn hier machen und uns dann bat, doch zu gehen, was wir auch taten«, berichtet eine der Friedensaktivisten.

Neun Monate später sind ihr und ihren sieben Genossen dann Strafbefehle wegen Hausfriedensbruch in Höhe von insgesamt 6500 Euro zugestellt worden. Die Betroffenen legten Widerspruch ein, drehten den Spieß um und verwandelten das Verfahren in ein Tribunal gegen das 1877 gegründete Rüstungsunternehmen Blohm + Voss.

Die in Hamburg-Steinwerder am südlichen Ufer der Nordelbe gelegene Werft gilt seit ihrer Gründung 1877 als eine der bedeutendsten Kriegswaffenschmieden Deutschlands. Während des Zweiten Weltkrieges wurden dort – um die vom NS-Regime geforderte Steigerung der Produktionsleistungen vor allem im U-Boot-Bau zu erreichen – Zehntausende von KZ-Häftlingen und anderen Gefangenen zur Arbeit gezwungen. Heute liefert das zum ThyssenKrupp-Konzern gehörende Unternehmen Fregatten, Korvetten und U-Boote nicht nur an die Deutsche Marine, sondern auch an andere NATO-Länder und Israel. »Demnächst werden vielleicht israelische und türkische Kriegsschiffe gegeneinander in Stellung gebracht – sie kommen auf beiden Seiten aus demselben deutschen Konzern«, erklärt der Hamburger Bundestagsabgeordnete der LINKEN Jan van Aken.

Die Verhandlung gegen drei der acht Angeklagten – der Prozess gegen die anderen fünf folgt noch – verlief für die Staatsanwaltschaft dann auch anders als erwartet: Nach Prozesseröffnung verlas der erste Angeklagte eine Erklärung, die das rund 40-köpfige Publikum mit heftigem Applaus bedachte. Der Richter drohte daraufhin, den Saal im Wiederholungsfall räumen zu lassen. Als auch der zweite Angeklagte Beifallsbekundung für seine Stellungnahme erntete, verließ der Vorsitzende den Saal und forderte Kräfte der Bereitschaftspolizei an, die das Gebäude umstellten. Nachdem sich die Anwesenden weiterhin geweigert hatten, den Saal zu räumen, fuhr der Richter fort. Er machte das Angebot, das Verfahren gegen Zahlung von 100 Euro pro Angeklagten einzustellen. Es wurde angenommen.

»Für uns war der Prozess ein Erfolg«, sagt Jan Haas, einer der Angeklagten, Mitglied der Sozialistischen Jugend Deutschlands – die Falken gegenüber ND. »Wir haben deutlich gemacht, dass nicht Kriegsgegner, sondern Kriegsverbrecher hinter Gitter gehören.« Der Plan des Gerichtes, die Friedensaktivisten »im stillen Kämmerlein« abzuurteilen, sei nicht aufgegangen. »Es wurde versucht, den Prozess zu entpolitisieren. Dank der Reaktion der Öffentlichkeit ist das gründlich misslungen«, ergänzt eine Genossin, die ihren Prozess noch vor sich hat.

* Aus: Neues Deutschland, 14. September 2011


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