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Afghanistan, Libyen, Nahost-Konflikt, Rüstung und Bundeswehr:

Breites Themenspektrum zum diesjährigen Antikriegstag / Erklärungen aus der Friedensbewegung


Antikriegstag: Gewerkschaften und Friedensbewegung gemeinsam

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag

Vermächtnis: "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!" / Veranstaltungen in über 150 Orten / Bundeswehr raus aus Afghanistan – und zwar sofort / Auch in Libyen ging es der NATO um Öl und geostrategische Interessen / Kritik an „Kesseltreiben“ gegen Westerwelle / Rüstungsexporte stoppen und Rüstungsproduktion „konvertieren“ / Keine Bundeswehr an Schulen und Hochschulen

Kassel, 29. August 2011 - Zu den bevorstehenden Aktivitäten der Friedens- und Gewerkschaftsbewegung zum Antikriegstag (1. September) erklärte der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Kassel:

72 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und 70 Jahre nach dem Beginn des deutschen Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion mahnen Friedensbewegung und Gewerkschaften in gemeinsamen Veranstaltungen, die Lehren aus der Geschichte nicht zu vergessen. Dazu gehört vor allem das Vermächtnis der Anti-Hitler-Koalition und der antifaschistischen Widerstandskämpfer: "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!"

An rund 150 Orten wird in Veranstaltungen, Mahnwachen, Demos und Kundgebungen der Antikriegstag bzw. "Weltfriedenstag" begangen. Die Aktionen beginnen am 1. September frühmorgens um 5.45 in Kassel, wo die dortige Friedensbewegung traditionell zu einer Kundgebung am Mahnmal für die Opfer des Faschismus aufruft. Und die Aktionen werden fortgesetzt bis zum 4. September, dem zweiten Jahrestag des Kunduz-Massakers, jenes verhängnisvollen Luftangriffs auf zwei Tanklastwagen in der Nähe von Kunduz, bei dem 140 Menschen, überwiegend Zivilpersonen, Kinder und Jugendliche getötet wurden. Befohlen hatte den Angriff ein deutscher Oberst, der damit das größte deutsche Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg auslöste.

Der Afghanistankrieg, dessen Beginn sich in diesem Jahr (7. Oktober) zum zehnten Mal jährt, steht im Mittelpunkt der zahlreichen Aktivitäten von Friedens- und Gewerkschaftsbewegung. Die Botschaft ist klar: "Wir fordern die Bundesregierung auf, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu beenden und die Zivilgesellschaft stärker zu unterstützen!", heißt es im Aufruf des DGB. Für die Friedensbewegung ist der Antikriegstag zugleich Auftakt für eine Reihe weiterer Aktivitäten im "Aktionsherbst Afghanistan", die fortgesetzt werden mit einer zentralen Veranstaltung am 7. Oktober in Berlin, mit demonstrativen Aktionen (u.a. auch in Berlin) am 8. Oktober, mit einer Unterschriftensammlung unter den Appell "Den Krieg in Afghanistan beenden – zivil helfen" sowie mit Aktionen gegen den Gipfel der Krieg führenden Staaten Anfang Dezember in Bonn.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag stellt noch einmal klar, dass die Bundesregierung weder eine Abzugsperspektive aus Afghanistan noch einen überzeugenden Plan zum zivilen Wiederaufbau des geschundenen Landes hat. Der Krieg wird weiter geführt, die Bundeswehr wird auch über 2014 hinaus in Afghanistan bleiben, die NATO wird ihren verfehlten "Krieg gegen den Terror" in Zentralasien und Pakistan fortsetzen. Denn nie ging es in diesem Krieg um Menschenrechte und Demokratie, sondern immer um Rohstoffe und geostrategische Interessen. Dazu dient die sog. "Transformation" der Bundeswehr. Im DGB-Aufruf heißt es hierzu: "Der Einsatz in Afghanistan ist der Vorbote für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr. Ihre Neuausrichtung zur Interventionsarmee lehnen wir ab."

Der von der NATO geführte und nach über fünf Monaten gewonnene Luftkrieg gegen Libyen ist ebenfalls ein "Vorbote" weiterer Interventionen. Auch in Libyen ging es der Kriegsallianz (der Deutschland formell nicht angehörte) nicht um den Schutz der Zivilbevölkerung, sondern um die Unterstützung einer Bürgerkriegspartei in ihrem Kampf gegen das herrschende Gaddafi-Regime, das anfänglich auf beträchtliche Unterstützung in der eigenen Bevölkerung rechnen konnte. Der Krieg war völkerrechtswidrig (das beschränkte UN-Mandat wurde von Anfang an missachtet) und ist ein Bestandteil der westlichen Strategie zur Wiedergewinnung strategischer Positionen im arabischen Raum, in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten.

Die Friedensbewegung warnt vor einer neuerlichen Zuspitzung des Nahostkonflikts. Die jüngste Gewalteskalation zwischen Palästinensern und Israel hat gezeigt, wie angespannt die Situation in der Region in diesem Herbst ist. Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat soll noch im September von der UN-Generalversammlung festgestellt werden. Der Bundesausschuss Friedensratschlag hält dies für einen längst überfälligen Schritt und hofft auf genügend internationalen Druck auf Israel, die Zweistaatenlösung endlich auch praktisch zuzulassen. Dies kann und muss auf der Grundlage des Völkerrechts und der vielen einschlägigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats geschehen.

Das ideologische Kesseltreiben gegen Außenminister Westerwelle (der in der Friedens- und Gewerkschaftsbewegung keineswegs beliebt ist) wirft ein bezeichnendes Licht auf die kurze historische und juristische Gedächtnis der politischen Klasse: Hier wird jemand gezwungen, ein Bekenntnis zum Krieg als Mittel der Außenpolitik abzulegen. Das Gewaltverbot der UN-Charta (Art. 2,4) und das Kriegsverbot nach Art. 26 des deutschen Grundgesetzes gelten der politischen Klasse nichts mehr.

Dies wird auch deutlich bei der Rüstungsexportpraxis der Bundesregierung: Panzer nach Saudi-Arabien werden genauso durchgewinkt wie der Verkauf von Kleinwaffen (einschließlich der Vergabe von Lizenzen zu deren Produktion) in alle Welt. Die Friedensbewegung demonstriert am Antikriegstag für eine Beendigung des internationalen Waffenhandels und für die Umwandlung der Rüstungsproduktion in die Produktion ziviler Güter (Konversion). In vielen Städten beteiligen sich auch kurdische Gruppen an den Aktionen der Friedensbewegung und der Gewerkschaften. Unter dem Motto "Tatort Kurdistan" informieren sie z.B. über das brutale Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Kurden im eigenen Land sowie im Nordirak. Auch hier sind deutsche Waffen in Gebrauch.

Ein weiterer Schwerpunkt der Aktionen zum diesjährigen Antikriegstag bildet die Kritik an den Werbemethoden der Bundeswehr an Schulen, Ausbildungsmessen und Hochschulen. Staatsbürgerlicher Unterricht muss von dazu ausgebildeten Lehrkräften gehalten und darf nicht von "Jugendoffizieren" übernommen werden. Und an den Universitäten und Fachhochschulen muss für den Frieden und nicht für Militär, Rüstung und Krieg geforscht werden.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)


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Afghanistankrieg und Rüstungsexporte beenden!

150 Veranstaltungen zum Antikriegstag
Afghanistankrieg und Rüstungsexporte beenden!
Solidarität mit den Freiheitsaufständen in der arabischen Welt


Mit etwa 150 Veranstaltungen erinnern Gewerkschaften und Friedensgruppen zum Antikriegstag an den deutschen Überfall auf Polen am 1. September vor 72 Jahren, mit dem ein „Vernichtungskrieg ohne Beispiel“ begann.

Die Aktionen wenden sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr und fordern „Truppen raus aus Afghanistan“, einen Verhandlungsprozess und zivile Hilfe. Zur internationalen Regierungskonferenz Anfang Dezember in Bonn („Petersberg II“) sind unter dem Motto „Sie reden vom Frieden – sie führen Krieg“ umfangreiche Protestaktionen geplant (siehe www.afghanistanprotest.de).

Vor allem auch gegen die deutschen Rüstungsexporte und die geplante Lieferung von 200 Kampfpanzern Leopard 2 an das saudi-arabische Regime wird protestiert: „Panzer und Waffenfabriken für despotische Regime sind die skandalöse Antwort der Bundesregierung auf die Freiheitsbewegungen im arabischen Raum. Und das Pulverfass Naher und Mittlerer Osten wird weiter gefüllt“, erklärt das Netzwerk Friedenskooperative. Die „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ sammelt zum Antikriegstag Unterschriften, dies im Grundgesetz zu unterbinden. Jürgen Grässlin, Mitinitiator der Aktion, wird am 1.9. mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.

Der Sturz des noch kürzlich umworbenen Gaddafi-Regimes mit massiver Hilfe durch die NATO zeige erneut, wie Kriege kaum verhüllt durch den Deckmantel der „humanitären Intervention“ aus wirtschaftlichen Interessen geführt würden, kritisiert die Friedenskooperative. Netzwerk-Geschäftsführer Manfred Stenner: „Unser öffentlicher Protest gegen die brutale Niederschlagung von Freiheitsbewegungen durch despotische Regimes z.B. in Syrien, Bahrein oder Jemen ist für die betroffene Bevölkerung wichtig – NATO-Bomben nach selektivem Ermessen nicht.“

Viele der örtlichen Veranstaltungen befassen sich mit den Veränderungen in Nordafrika und den arabischen Ländern, kritisieren die Doppelmoral der westlichen Staaten und deren weitere Stützung „befreundeter“ Despoten.

Weitere Themen der Friedensgottesdienste, Mahnwachen, Friedensfeste, Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen im Umfeld des 1. September sind der Widerstand gegen neofaschistische und rechtsradikale Umtriebe, die Kritik an der nach Aussetzung der Wehrpflicht weiter zunehmenden Werbung der Bundeswehr in Schulen und im öffentlichen Raum, die Forderung nach Abzug der verbliebenen US- amerikanischen Atombomben und eine Friedenslösung für den Nahostkonflikt.

Manfred Stenner
Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative


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IPPNW-Presseinformation vom 31.8.2011:

Kein Frieden mit Krieg und Gewalt

72 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs

Der Vorsitzende der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW Matthias Jochheim erklärt zum Anti-Kriegstag am 1. September 2011:

Das Nein der Bundesregierung zur Teilnahme am Krieg gegen Libyen haben wir begrüßt. Der Krieg der NATO zielte von Anfang an auf den Sturz des libyschen Machthabers Gaddafi. Statt dem „Schutz der Zivilbevölkerung“ standen wirtschaftliche und strategische Ziele im Vordergrund. Jahrelang haben Deutschland und andere europäische Staaten mit dem autoritären Regime zusammen gearbeitet und Waffen geliefert. Wie die Stuttgarter Nachrichten heute berichten, wurden in Gaddafis Waffenarsenalen G36-Gewehre aus deutscher Produktion entdeckt. Wir fordern die Bundesregierung zu einer Erklärung auf, wie die Heckler & Koch-Waffen nach Libyen gelangt sind.

Die langfristigen Folgen der Parteinahme der NATO zugunsten der Rebellen in Libyen sind noch gar nicht absehbar. Krieg geht immer mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher: viele Zivilisten sind den Bombenangriffen der NATO zum Opfer gefallen. Häuser, Schulen, Versorgungszentren, Krankenhäuser, Rundfunkstationen und andere Infrastruktureinrichtungen wurden zerstört. Die humanitäre Lage in Tripolis ist dramatisch.

Diktaturen und autoritäre Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten, zählen auch weiterhin zu den Empfängern deutscher Rüstungsgüter. Einer der größten Abnehmer deutscher Waffenlieferungen ist der NATO-Partner Türkei. Ungeachtet des brutalen Vorgehens der türkischen Militärs in den kurdischen Gebieten genehmigte Deutschland in den Jahren 2006, 2007 und 2008 Rüstungsexporte in Höhe von 500 Millionen Euro dorthin. Im Jahr 2009 lieferte die Bundesregierung Leopard-Panzer im Wert von 12,95 Millionen Euro. ThyssenKrupp Marine Systems beabsichtigt laut Pressemitteilung vom Anfang Juli die Lieferung von sechs U-Boot-Materialpakete vom Typ U 214 im Wert von 2 Milliarden Euro an die Türkei – wohl kaum ein Beitrag für Frieden und Entspannung im Mittelmeerraum.

Im türkisch-kurdischen Konflikt sind bisher rund 40.000 Menschen ums Leben gekommen, zahllose Dörfer in den kurdischen Gebieten wurden zerstört oder vermint. Zwar hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine „kurdische Öffnung“ angekündigt, doch die Menschenrechtslage der Kurden ist nach wie vor katastrophal. Täglich gibt es Berichte über militärische und polizeiliche Gewalt gegen die Menschen dort.

72 Jahre nach Beginn des 2. Weltkriegs ist das Versprechen der UN-Charta noch immer nicht eingelöst: die Geißel des Krieges zu überwinden. Fast ununterbrochen wurden seit 1945 weitere Kriege geführt. Heute erleben wir neue Eskalationen der Gewalt und neue Aggressionskriege. Die Geschäfte der Waffenindustrie bereiten den Boden für immer neue militärische Konfrontationen. Statt Waffenexporte zu genehmigen, die neue Kriege führbar machen, fordern wir die deutsche Bundesregierung auf, Rüstungsexporte zu stoppen und sich für die Stärkung präventiver Konfliktbearbeitung und von Krisenhilfe-Initiativen der UNO einzusetzen. Diplomatie und politische Lösungen müssen endlich an die Stelle kriegerischer Gewalt treten.


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