Ist die Friedensbewegung antiamerikanisch?
Vorwürfe, Entgegnungen und eine Monitor-Sendung
Während der großen Friedensdemonstration am 15. Februar 2003 in Berlin wurden Flugblätter verteilt, die einen "Offenen Brief" an die Friedensbewegung enthielt. Darin wurde der Vorwurf erhoben, die Friedensbewegung sei antiamerikanisch und antisemitisch. Am 18. Februar berichtete die Presse (z.B. Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel) über diesen Brief.
Wir dokumentieren diesen Brief, nicht weil wir dessen Argumentation für besonders originell oder gar triftig halten, sondern weil er auch in den kriegsvorbereitenden und -begleitenden gesellschaftlichen "Diskurs" hier zu Lande gehört. In zwei Stellungnahmen, die als Reaktion auf die Presseveröffentlichung des "Offenen Briefs" am 18. Februar aus den Kreisen der angegriffenen Friedensbewegung herausgegeben wurden, werden die Vorwürfe auf unterschiedliche Weise zurückgewiesen.
Im Anschluss daran dokumentieren wir einen Beitrag der ARD-Fernsehsendung "Monitor" vom 13. Februar, der sich ebenfalls kritisch mit dem Vorwurf des "Antiamerikanismus" auseinandersetzte.
Außerdem weisen wir auf eine Entgegnung auf die "Kritiker" durch den amerikanischen Juden und Schriftsteller Victor Grossman hin.
Offener Brief an die Friedensbewegung:
"Wider die politische Naivität"
An die Friedensbewegung,
an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Friedensdemonstration
Am vergangenen Wochenende nahmen in Berlin gut eine halbe Millionen Menschen unter der
einenden Parole ‚Kein Krieg im Irak' an der größten Demonstration der vergangenen Jahre teil. In
der Öffentlichkeit wird dieses Ereignis als machtvolle Demonstration der um Frieden Besorgten
verstanden und nicht nur in Sachen medialer Aufmerksamkeit als politischer Erfolg bewertet. Wir,
die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Briefes, können uns einer solchen Sichtweise nicht
anschließen.
Um die Gefährlichkeit und Brutalität des irakischen Regimes und das Leiden der irakischen
Bevölkerung unter Saddam Hussein kann man wissen und dennoch unterschiedlicher Auffassung
über das Für und Wider eines großangelegten Militärschlages sein. Unsere Stellungnahme ist jedoch
kein Beitrag zu dieser Diskussion. Vielmehr geht es uns darum, einige kritische Anmerkungen zum
Zustand der Friedensbewegung zu machen.
Im Vorfeld der Demonstration wurde klar, dass auch Gruppierungen dorthin mobilisierten, deren
politisches Weltbild durch Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus bestimmt ist. Den
drohenden Imageschaden vor Augen und bereits mit vereinzelten Kritiken konfrontiert, kündigten
die VeranstalterInnen an, entsprechende Transparente entfernen zu lassen. Es dämmerte den
OrganisatorInnen offensichtlich, dass sich eine Demonstration, die sich dem Thema ‚Frieden'
verschrieben hat, politisch unglaubwürdig macht, wenn sie solche Kräfte in ihren Reihen duldet.
Trotzdem waren am Wochenende neben Deutschlandfahnen und geschichtsrevisionistischen
Plakaten u.a. israelfeindliche Sprechchöre zu hören. Daneben wurde auf Transparenten, Israel als
Strippenzieher im Irakkonflikt halluziniert, wurden seine Politiker als ‚Kindermörder' beschimpft und
vereinzelt gar Fahnen der islamistischen Hamas und Hisbollah geschwenkt.
Geprägt war die Demonstration jedoch vor allem durch eine gefährliche Mischung aus
Antiamerikanismus und politischer Naivität. So war auf Transparenten und Schildern einerseits das
ganze Arsenal des antiamerikanischen Ressentiments zu finden: der Wille zur Weltherrschaft, die
Stilisierung des amerikanischen Establishment zu blutrünstigen Kriegstreibern, die Identifizierung der
USA mit Geld und kaltem Interesse, die Kulturlosigkeit der Amerikaner und daraus fast zwingend
folgend: die einseitig positive Besetzung des europäischen Gegenentwurfs (nicht zuletzt ausgedrückt
durch die trotzige Bezugnahme auf das von Donald Rumsfeld ausgemachte ‚alte Europa'). Darüber
hinaus war eine spezifisch deutsche Wendung dieses Ressentiments unübersehbar. Auf vielen
Plakaten und Transparenten wurde die Politik der Amerikaner mit dem deutschen Vernichtungskrieg
analogisiert und die Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten im zweiten Weltkrieg mit
einem möglichen Angriff auf den Irak in eine Reihe gestellt.
Andererseits offenbarte sich der zentrale Topos ‚Frieden' als ein Begriff, der zu nichts weiter
beizutragen scheint, als das Bedürfnis nach politischer Unschuldigkeit zu bedienen. So durften sich
alle unter den Bannern und Gesängen des Friedens als Teil einer großen Familie fühlen. Die
Gemeinschaft der Guten, die nichts weiter will, als dass alle in Frieden leben können. Widersprüche
haben in diesem naiven Bedürfnis keinen Platz: Dass die Abwesenheit eines Militärschlages im Irak
noch lange keinen Frieden bedeutet, dass sich in den letzten Jahrzehnten im arabischen Raum eine
schlagkräftige islamistische Terrorbewegung gebildet hat, die allen emanzipatorischen
Errungenschaften den Krieg erklärt hat, dass diese Bewegung jüdischen Israelis das Recht auf
Leben abspricht und dafür u.a. von Saddam Hussein in Form von finanziellen Zuwendungen für die
Familien von Selbstmordattentätern belohnt wird, all das sind Realitäten, die man schnell ausblendet,
wenn man den Plänen zu einem gewaltsamen ‚Regime-Change' einen abstrakten Wunsch nach
Frieden entgegensetzt.
Dieser diffuse Friedensbegriffs, in Verbindung mit antiamerikanischen Feindbildern, ist nicht zuletzt
der Grund dafür, dass sich rechtsradikale Gruppierungen zu der Demonstration im Vorfeld durchaus
eingeladen fühlen durften. Die Warnung vor einer Weltherrschaft der USA, die Stilisierung ihrer
Politiker zu schießwütigen Cowboys, der Verzicht auf eine ernsthafte Analyse und Kritik der
Verhältnisse im Irak, die über Lippenbekenntnis hinausginge, die unkritische Haltung gegenüber
islamistischen und anderen extremistischen Strömungen im arabischen Raum, die Mobilisierung der
deutschen Bevölkerung über das Ticket der Angst, welche man aus eigener Erfahrung, der
Bombardierung Dresdens, kenne, all das sind Elemente eines Diskurses, der ohne große Mühe
anschlussfähig an rechtsextreme und antisemitische Denkmuster ist.
Es ist anzunehmen, dass die Demonstration vom vergangenen Samstag nicht die letzte ihrer Art
gewesen sein wird. Daher rufen wir all jene auf, die sich als kritischer Teil der Friedensbewegung
begreifen, inhaltliche Debatten anzustoßen und die Differenzen zu Strömungen deutlich zu machen,
deren Weltbild durch Antiamerikanismus und politische Naivität geprägt ist.
17. Februar 2003
Bündnis gegen Antisemitismus (BgA), Berlin
Ralf Giordano, Schriftsteller
Lea Rosh, Publizistin, Vorsitzende
"Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas"
Jakob Schulze-Rohr, Architekt, Vorstand "Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden
Europas"
Professor Andrei S. Markovits, Harvard University und University of Michigan, USA
Anetta Kahane, Vorsitzende des Vorstandes der Amadeu-Antonio-Stiftung, Berlin
Prof. Dr. Michael Wolffsohn
Prof. Dr. Karl E. Grözinger, Berlin/Potsdam
Dr. Elvira Grözinger, Berlin/Potsdam
Prof. Dr. Gerald Feldman, Director of the Institute of European Studies University of
Berkeley, USA; Present Alexander von Humboldt Foundation Prize Fellow working at the
Wissenschaftszentrum Berlin
Aktion 3. Welt Saar, aktiv in der Friedensbewegung
Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland e.V.
Ilka Schröder, Mitglied des Europäischen Parlaments, parteilos, Berlin
Prof. Jeffrey Herf, Department of History, University of Maryland College Park, USA
Gitti Götz, Mitglied des Attac-Rats; Mitglied des ver.di-Bezirksvorstands NRW Süd
Szabine Adamek, Bündnis "Demokratie jetzt!"
Dr. Gideon Richter, Vorsitzender des Landesausschusses der Jüdischen Gemeinden in
Hessen; Vorstand der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden
Boris Schapiro, Unternehmensberater, Repräsentant und Vorstandsmitglied der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin
Thomas Richter, Vorstandsmitglied des Vereins für ein multikulturelles Europa e.V.
Dr. Frank Matheus, Pastor
Rabbiner Walter Rotzhschild, Rabbiner Beth Shalom Liberale Jüdische Gemeinde, München
und weiter Unterschriften
Die Friedensbewegung ist alles andere als "antiamerikanisch"
Pressemitteilung
-
Friedensratschlag weist Vorwürfe des "Bündnisses gegen Antisemitismus" zurück
- Für die Vorwürfe gibt es keinerlei Belege
- Kritik an US-Regierung ist nicht antiamerikanisch, sondern pro-amerikanisch
- Rechtsradikale sind Feinde der Friedensbewegung
Der Bundesausschuss Friedensratschlag weist die Kritik des sog. "Bündnisses gegen Antisemitismus" an der Berliner Friedensdemonstration entschieden zurück. Der darin erhobene Vorwurf, die Friedensbewegung würde antisemitische und antiamerikanische Vorurteile und Stimmungen bedienen und sich nicht deutlich genug von rechtsradikalen Gruppierungen abgrenzen, ist völlig aus der Luft gegriffen. Zu solchen Verdächtigungen geben weder der Demonstrationsaufruf, noch die Zusammensetzung des Trägerkreises noch die auf der Kundgebung gehaltenen Reden und Beiträge auch nur den geringsten Anlass.
Es ist bezeichnend für die Art der Kritik des "Bündnisses", dass die Vorwürfe an keiner Stelle konkret belegt werden. Die Beispiele dafür, dass die Demonstration angeblich von Antiamerikanismus "geprägt" waren, sind mehr als dürftig:
Ist es denn, so fragen wir zurück, "antiamerikanisch", wenn man der US-Administration einen "Willen zur Weltherrschaft" unterstellt? Wer die Präsidentendirektive zur "Neuen Nationalen Sicherheitsstrategie" vom September 2002 liest, kann doch nur zu dem Schluss kommen, dass die USA unter allen Umständen die größte und einzige Weltmacht bleiben wollen.
Ist es "antiamerikanisch", wenn wir das "amerikanische Establishment" (wir sprechen viel lieber von der US-Regierung, denn der Establishment-Begriff ist viel zu ungenau und erfasst vermutlich auch viele US-Bürger, die ebenfalls gegen den geplanten Krieg sind) "Kriegstreiber" nennen? Wie soll man Politiker und ihre Berater, die mit viel Energie und öffentlicher Propaganda einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vorbereiten, denn sonst nennen?
Was der Friedensbewegung darüber hinaus vorgeworfen wird, ist zu dumm, um darauf antworten zu müssen: Niemand in der Friedensbewegung identifiziert die USA "mit Geld und kaltem Interesse" und niemand in unseren Reihen spricht von "Kulturlosigkeit der Amerikaner".
Wer Kritik an der US-Administration mit Antiamerikanismus verwechselt, dem wollen wir zwei Zitate ins Stammbuch schreiben. Eines von Heinrich Böll von der großen Friedensdemonstration 1981 in Bonn: "Wir sind nicht anti-amerikanisch, wenn wir gegen eine bestimmte Politik einer bestimmten - einer! - amerikanischen Regierung uns wehren."
Das andere Zitat stammt von Heinrich August Winkler, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin, der vor wenigen Tagen in der ARD-Sendung "Monitor" sagte: "... der Protest gegen die Präventivkriegs-Strategie des jetzigen amerikanischen Präsidenten oder die Irak-Politik der derzeitigen amerikanischen Administration, der ist nicht anti-amerikanisch, der ist zutiefst pro-amerikanisch. Denn im Grunde berufen sich die Kritiker auf eine der größten Errungenschaften der Vereinigten Staaten: The rule of law - die Herrschaft des Rechts."
Infam wird das "Bündnis", wenn es der Friedensbewegung unterstellt, sie habe rechtsradikale Gruppen zur Demonstration "eingeladen". Wir laden rechtsradikale Gruppen nicht ein. Wir müssen sie aber auch nicht extra ausladen, weil sie per definitionem nicht zur Friedensbewegung gehören. Rechtsradikalismus in Deutschland zeichnet sich durch obrigkeitsstaatliches, nationalistisches und rassistisches (auch antisemitisches) Gedankengut aus, das mittels einer militärischen Organisation, dem Mechanismus von Befehl und Gehorsam und einer elitären Haltung gegenüber allem Fremden grundsätzlich gewaltbereit und kriegerisch ist. Somit schließen sich Friedensbewegung und Rechtsradikalismus von vorneherein aus. Wenn rechte Grüppchen aus populistischen Gründen versuchen, sich in eine große Friedensdemonstration einzuschleichen, dann ist das nicht der Friedensbewegung anzulasten. Rechte Sekten hatten auch in Berlin keine Chance.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag bedauert sehr, dass unter den Unterzeichnern des "Offenen Briefs" des "Bündnisses gegen Antisemitismus" auch Menschen sind, deren persönliche Integrität, politische Aufrichtigkeit und entschiedene antifaschistische Haltung unumstritten sind. Umso mehr sind wir enttäuscht darüber, dass sie sich zu "Plänen zu einem gewaltsamen ‚Regime-Change'" bekennen und dies einem, wie sie es nennen, "abstrakten Wunsch nach Frieden" entgegensetzen.
Der Wunsch nach Frieden und die Ablehnung des Krieges sind in der Friedensbewegung nach der Großdemonstration vom 15. Februar ungebrochen.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)
Kassel, den 18. Februar 2002
An die Presse
18. Februar 2003
Fragen an die Friedensbewegung? - eine Entgegnung auf Kritik
Die Friedensbewegung ist ein ernst zu nehmender Faktor im
Kräftespiel um Krieg und Frieden geworden. Insbesondere wo die
Regierenden offen Krieg propagieren wie in Großbritannien oder
Spanien geraten sie durch den demonstrativen Widerspruch von
Millionen Menschen in die Defensive. Als ernster "Störfaktor" wird
sich die Friedensbewegung gegen Diffamierungen von interessierter
Seite behaupten müssen, nur angefangen beim verstaubten Vorwurf des
"Antiamerikanimus".
Schmerzlich ist, wenn pauschale Kritik und Abwertung von
Mitstreitern gegen Antisemitismus und Rassismus wie dem "Bündnis
gegen Antisemitismus" mit u.a. Ralph Giordano und Lea Rosh kommen,
die den Berliner Demonstranten in einem offenen Brief eine
"gefährliche Mischung aus Antiamerikanismus und politischer
Naivität" unterstellen.
Si tacuisses! Bei den um die Menschen im Irak wie um den möglichen,
auch Israels Sicherheit bedrohenden, Flächenbrand im Nahen Osten
besorgten Demonstranten handelt es sich weder um Naivlinge mit einem
"diffusen Friedensbegriff", noch dürfen sich bei den auf der
Grundlage langer Diskussionen gestalteten Kundgebung "rechtsradikale
Gruppierungen ... durchaus eingeladen fühlen". Friedensbewegung in
der Bundesrepublik war immer schon auch Bewegung gegen
Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus.
Die gewachsene Bedeutung der gesellschaftlichen Opposition gegen den
Krieg wird und muss auch dazu führen, dass die gar nicht naiven
Analysen und Argumentationen der Friedensbewegung gegen die
Kriegslogik stärker gehört und endlich ernst genommen werden. In der
neuen Friedensbewegung bündeln sich langjährige Diskussionen der
Friedens-, Umwelt- und globalisierungkritischen Bewegung, die seit
dem 11. September 2001 eng zusammenarbeiten und deren Themen
verschmelzen. Wer islamistischen Terror bekämpfen und durch Krieg
provozierten neuen Hass und Terror verhindern will, muss eine
doppelte Wende zu gerechter Kooperation zwischen Nord und Süd sowie
zur Verminderung des Öl- und Gasverbrauchs zugunsten regenerativer
Energien in den Industrieländern erreichen. Verzicht auf die Hass
und Terror begünstigende globale Machtpolitik und faire Kooperation
mit den islamischen Ländern können die tieferen Ursachen des Terrors
beseitigen, die Energiewende den Kampf um Ressourcen als
Kriegsursache. Fortschritte dahin gibt es nicht mit Krieg. Das erste
Signal für die nötige Zäsur der Politik hin zu globaler
Konfliktbearbeitung statt Krieg ist die politische Lösung in
Israel/Palästina, die für die arabische Welt das Symbol für einen
Neubeginn wäre und zu der die USA den Schlüssel in der Hand halten.
Diese drängenden Zukunftsaufgaben als Alternative zu Krieg und
Terror können nur gemeinsam und global angegangen werden. Deshalb
will die neue globale Friedensbewegung - auch die in den USA - den
Unilateralismus zurückdrängen und die gefährdete UNO erhalten. Gebe
es sie nicht, müsste man sie erfinden.
Die großen Demonstrationen, die kommenden Blockaden von
Militärstützpunkten und Aktionen Zivilen Ungehorsams und die
vielfältigen lokalen Friedensaktionen drängen unsere Regierenden in
Richtung dieser Alternativen. Eine Diffamierung der
Friedensdemonstranten - egal von welcher Seite - ist in dieser
heiklen Situation ein Beitrag zur Kriegslogik.
Die deutsche Bundesregierung braucht ganz offenbar mehr Druck "von unten".
Mit der Zustimmung zur militärischen Planung für die Türkei
innerhalb der NATO und der EU-Erklärung, die militärische
Intervention als Möglichkeit einschließt, ist sie ein weiteres Stück
von ihrem Nein abgerückt. Die Friedensbewegung wird weiterhin auf
die nicht nur rhetorische, sondern faktische Verweigerung der
Kriegsbeteiligung drängen, inklusive Überflugrechte,
Standortnutzung, Spürpanzer, AWACS, Marine-Begleitschutz und
Patriot-Raketen.
Manfred Stenner
Geschäftsführer des Netzwerk Friedenskooperative
Monitor, 13. Februar 2003
Anti-Amerikanismus in Deutschland - wie viel Kritik darf sein?
Bericht: Karin Führ, Ralph Hötte, Sonia Mikich
Sonia Mikich: "Sie kennen das, Sie diskutieren mit Ihren Freunden oder Verwandten über den
Irak-Krieg, und einer sagt bestimmt: die Amerikaner setzen doch weltweit ihre Linie durch, egal,
was die anderen sagen. Und ein anderer sagt: wer, wenn nicht die Amerikaner, sie räumen mit den
Schurken auf. Und vielleicht sagt jemand noch: gerade wir Deutsche haben den Amerikanern doch
so viel zu verdanken. Und irgendwann kommt das Totschlagargument: Anti-Amerikanismus, rumms!
Willkommen auf der Achterbahn transatlantischer Beziehungen.
Eins ist sicher: Ich liebe, wie so viele, die Lebendigkeit der US-Gesellschaft, und wie sie groß und
großzügig denkt und handelt. Gleichzeitig graut es mir vor einem neuen Imperium, das seine
Interessen und Paranoia durchsetzt gegen alle - mit Waffengewalt.
Der Irak-Krieg entzweit die Regierungen, das ist gewiss. Aber er zerrt auch an unserem ganz
persönlichen Bild von den USA. Karin Führ, Ralf Hötte und ich haben uns mit dem Vorwurf des
Anti-Amerikanismus beschäftigt. Einfache Antworten gibt es nicht."
Die vier Vietnam-Veteranen in der ersten Reihe sind über den Atlantik gekommen, um in Europa
gegen den Irak-Krieg zu protestieren. Heidelberg: ein Rap gegen den fernen Kriegpräsidenten.
Rap der Demonstranten: "Zu viele schwimmen im Strom, schwimmen
im Strom..."
Eine Koalition für den Frieden, über alle nationalen und kulturellen Grenzen hinweg. Die Menschen
protestieren. Die Politiker streiten. Das hatte der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nicht
erwartet, ein Bekenntnis zu Amerika - und - ein Aufbegehren.
Joschka Fischer, Bundesaußenminister: "Und wir verdanken den USA unsere Demokratie, die
USA sind unverzichtbar für Frieden und Stabilität. Aber für Deutschland haben sie eine ganz
besondere Bedeutung. Weil wir uns von den Nazis nicht selbst befreit haben, und weil wir unsere
Demokratie ohne ihre Hilfe nicht aufgebaut hätten. Nur meine Generation hat dabei gelernt: dass
man die Sache beweisen muss. In einer Demokratie muss man selber überzeugt sein. Es tut mir leid,
aber ich bin nicht überzeugt. Das ist mein Problem. Ich kann den Leuten nicht sagen: 'Lasst uns
Krieg machen', wenn ich nicht daran glaube." ("you have to make the case. And to make the case in
a democracy you must convince by yourself. Excuse me, I'm not convinced. This is my problem.
And I cannot go to the public and say: 'O well, let's go to war, because there are reasons' and so on
and I don't believe in that.")
In den Vereinigten Staaten wertet die Bush-Regierung dieses entschiedene Nein der Deutschen -
der Bürger wie der Politiker -, als neuen Anti-Amerikanismus.
Anatol Lieven, Carnegie Foundation: "Der Widerspruch aus Deutschland ist etwas Neues,
etwas Überraschendes. Ich glaube, das macht die Amerikaner wirklich wütend. Unterschwellig
spielt dabei mit, dass Amerika Deutschland von den Nazis befreit hat. Hinzu kommen alte Vorurteile
gegen die Deutschen wegen des Nationalsozialismus, und die Tatsache, dass Amerika
Westdeutschland vor den Sowjets geschützt hat."
Mehr als ein halbes Jahrhundert zurück: der freundliche GI. Symbol einer neuen Partnerschaft. Für
die Deutschen bedeutete der Einsatz der Amerikaner Hoffnung und Zukunft in einer demokratischen
Gesellschaft. An die deutsche Dankbarkeit und Treue hatten sich die Amerikaner gewöhnt. Doch
nach den Trümmern, nach dem Wiederaufbau sind die Deutschen pazifistisch und selbstbewusst
geworden. Auch aus der Erfahrung des Krieges.
Richard Burt, ehemaliger US-Botschafter: "Ich glaube, worüber so viele Amerikaner besorgt
sind: Nicht der Irak regt die Europäer so auf, sondern Amerikas Macht. Dahinter steht ein
bestimmter Anti-Amerikanismus. Die Art und Weise, in der sie George Bush darstellen, ist das
Stereotyp eines Cowboys, der eher seinen Colt zieht, als Argumente zu bemühen. Wir haben den
Eindruck, dass der Anti-Amerikanismus in Europa und besonders in Deutschland zunimmt, und das
ruft hier in Washington zunehmend Sorge hervor."
In Deutschland 71%, in Spanien 91%, in Frankreich 77%, in Großbritannien 86%. Die Mehrheit
der Europäer ist gegen den bevorstehenden Waffengang. Sind die Parolen, die Feindbilder
anti-amerikanisch? Oder radikale, berechtigte Kritik? Was symbolisiert eine brennende US-Fahne
in Deutschland?
Heinrich August Winkler, Historiker HU Berlin: "Es gibt Anti-Amerikanismus auch in der
deutschen Gesellschaft, ganz links und ganz rechts, mal eher anti-kapitalistisch, mal eher national
untermauert, aber der Protest gegen die Präventivkriegs-Strategie des jetzigen amerikanischen
Präsidenten oder die Irak-Politik der derzeitigen amerikanischen Administration, der ist nicht
anti-amerikanisch, der ist zutiefst pro-amerikanisch. Denn im Grunde berufen sich die Kritiker auf
eine der größten Errungenschaften der Vereinigten Staaten: The rule of law - die Herrschaft des
Rechts."
In Vietnam - Unrecht. Die Kriegsführung der Amerikaner machte die USA weltweit unglaubwürdig.
Moralische Werte, die sie doch den Deutschen vermittelt hatten, zählten in Vietnam nicht mehr. Die
Chemikalie Agent Orange verseuchte das Land mit Dioxin. Es wurden geächtete Waffen wie
Napalm- und Splitterbomben eingesetzt. Auch damals protestierten die Menschen weltweit gegen
die militärische Lösung von Konflikten.
Der nächste Bruch mit dem amerikanischen Vorbild: die Stationierung von Pershing II-Raketen, die
ersten Atomwaffen auf deutschem Boden. Sie brachten die Angst vor einem Atom-Krieg zu den
Deutschen. Vor allem Intellektuelle, Studenten und Schriftsteller wehrten sich schon damals gegen
den Vorwurf, ihr Protest sei Ausdruck von "Anti-Amerikanismus". Unter ihnen: Walter Jens und
Heinrich Böll. Sie wussten sehr wohl zu differenzieren.
Heinrich Böll, Bonn 1981: "Wir sind nicht anti-amerikanisch, wenn wir gegen eine bestimmte
Politik einer bestimmten - einer! - amerikanischen Regierung uns wehren."
Walter Jens: "Wenn ich an den angeblichen Anti-Amerikanismus denke, dann erinnere ich mich,
um die Absurdität dieses Vorwurfs zu verdeutlichen, an amerikanische - es waren farbige Soldaten
meistens - die, als wir gegen die Pershings demonstrierten, aus ihren Kasernenfenstern kleine, um
Münzen gewickelte Zettel rausgeworfen haben: 'Wir sind mit Sie - We shall overcome.'"
We shall overcome. Auch das Leitmotiv der Menschen, die jetzt auf die Straße gehen. Der geplante
Krieg im Irak wirft eine noch größere Frage auf: gegen welches Amerika richtet sich der Protest?
Anatol Lieven, Carnegie Foundation: "Man muss sich ins Gedächtnis rufen: Diese Administration
hat fast systematisch auf vielen Gebieten die Zusammenarbeit mit Europa verweigert."
US-Interessen gehen vor bei internationalen Abkommen. Beispiele: Ob Umweltpolitik,
Waffenkontrolle und Abrüstung, ob internationale Strafverfolgung: wenn es der USA nicht in ihre
Strategie passt, lässt sie sich nicht einschränken.
Anatol Lieven, Carnegie Foundation: "Es ist eine Tatsache: Seit die Bush-Administration an der
Macht ist, hat sie mit ihrer Politik jede Möglichkeit einer ernsthaften Zusammenarbeit zwischen
Europa und Amerika zerschlagen."
Geteiltes Entsetzen: der 11. September 2001 führte zu einer weltweiten Solidarität mit Amerika.
Doch schnell war die Solidarität verspielt, als andere Bilder um die Welt gingen. Tote Kinder in
Afghanistan. Al Qaida-Kämpfer in Guantanamo und Taliban - rechtlos in Käfigen gehalten. Schwere
Menschenrechtsverletzungen. Wieder ein Bruch mit den humanen Werten des Westens.
Alleingänge: Die Supermacht Amerika setzt bei Konflikten immer mehr auf die militärische Lösung.
Der Truppenaufmarsch am Golf: Ein Diktator soll verjagt werden. Vor allem aber soll eine ganze
Weltregion unter amerikanische Kontrolle gebracht werden.
Etwas tun gegen den Beginn eines neuen Krieges. Gegen den Beginn einer neuen Weltordnung.
Gegen das neue Empire.
Anatol Lieven, Carnegie Foundation: "Ich glaube, dass zwei Dinge zu einer extrem
nationalistischen Haltung der Bush-Administration geführt haben: Das eine ist einfach Macht. Das
wurde schon vor dem 11. September sichtbar: Amerika ist davon überzeugt, dass es so mächtig ist,
dass es niemand Anderen mehr anhören muss. Das zweite ist, es gibt eine ganz bewusste
Überzeugung, dass die amerikanische Macht von Gott kommt."
Dominic Moisi, französischer Regierungsberater: "Ich glaube, es gibt eine völlig neue Lage:
Ein neues Amerika, nach dem 11. September, nach dem Ende des Kalten Krieges, mit einem neuen
Präsidenten, der eine missionarische, religiöse Einstellung hat. Und dieses Amerika trifft auf ein
neues erweitertes Europa. Ein Europa, das auf der Suche nach seiner Identität ist, das im Moment
nicht gefestigt ist. Weniger gefestigt noch, als es Deutschland in Europa zuvor war."
Neue Konstellationen - politisch, menschlich, ideologisch. Wie viel Kritik an der Bush-Regierung
darf sein? Wie viel ist nötig? Und: wer, wenn nicht wir - die Deutschen?
Sonia Mikich: "Also, es gilt beste amerikanischen Werte zu verteidigen, notfalls gegen die
amerikanische Regierung. Haben wir doch von ihnen gelernt."
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