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"Dem Frieden eine Chance – Truppen raus aus Afghanistan"

Eine gemeinsame Publikation des Arbeitsausschusses Afghanistankongress und der Tageszeitung "Neues Deutschland" - Teil I

Die Tageszeitung "Neues Deutschland" erschien am 19. Juli 2008 mit einer 16-seitigen Beilage, die sich ganz dem Krieg in Afghanistan und den Aktivitäten der internationalen Friedensbewegung widmete. Wir dokumentieren die Beiträge in zwei Teilen. Der zweite Teil erscheint auf unserer Website am 24. Juli.



Der hier dokumentierte erste Teil der ND-Beilage enthält die folgenden Beiträge:

Aufstehen gegen den Krieg

Von Reiner Braun

Am 7. und 8. Juni fand in Hannover der internationale Afghanistankongress der Friedensbewegung »Dem Frieden eine Chance – Truppen raus aus Afghanistan« statt. Mehr als 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 11 Ländern diskutierten auf diesem größten Afghanistankongress den Krieg in und die prekäre Lage um Afghanistan und besonders die Rolle der NATO sowie der Bundesregierung. Bemerkenswerte Ergebnisse standen am Ende dieses Kongresses:

Gemeinsam mit den internationalen Gästen wurde ein »Internationales Afghanistan-Friedensnetzwerk« ins Leben gerufen, um die internationale Zusammenarbeit für den Frieden in diesem leidgeprüften Land zu effektivieren.

Diskutiert und vereinbart wurden gemeinsame Aktionen zum 60. Jahrestag der NATO im April/Mai 2009 in Straßburg und Kehl. Dazu fand sich eine internationale Vorbreitungsgruppe zusammen, die ein großes internationales Vorbereitungstreffen für den 4. und 5. Oktober 2008 vorbereitet

Einmütig ruft die deutsche Friedensbewegung aus Anlass der anstehenden (und wahrscheinlich zeitlich und personell ausgeweiteten) Bundeswehr-Mandatsverlängerung zu einer bundesweiten Demonstration in Berlin und Stuttgart am 20. September 2008 auf.

Genauere Unterlagen zu all diesen Ereignissen finden Sie in dieser Beilage. Diese Konferenz, die von allen relevanten Organisationen und Zusammenschlüssen der Friedensbewegung unseres Landes vorbereitet und getragen wurde, war sich bei unterschiedlichen Sichtweisen einzelner Aspekte der Analyse und der Strategie, die sich auch in dieser Dokumentation wiederfinden, in der zentralen Forderung nach Abzug aller ausländischen Truppen einig.

Keiner hat einen Masterplan für den Frieden in Afghanistan. Richtig bleibt, dass der Abzug aller ausländischen Truppen (einschließlich ihrer Geheimdienste) die Voraussetzung und der Kern einer Friedenslösung ist. Dass dieser Abzug zivil und finanziell – durch Reparationen und Aufbauhilfe – abgesichert werden muss, versteht sich von selbst. Friedensideen sollen in erster Linie von den gesellschaftlichen, heute oft marginalisierten Kräften, darunter Frauen und Nichtregierungsorganisationen, Afghanistans und der Region ausgehen.

Ob ein Abzug der Besatzungstruppen durch die Stationierung neutraler Kräfte aus kleinen Staaten oder UNO-Blauhelmen gegen Warlords und andere Kriegstreiber abgesichert werden muss, sollen eine neue, unabhängige Dschirga oder andere sich entwickelnde Friedensstrukturen unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte in Afghanistan zusammen mit der UNO entscheiden. Aber auch für diese »Friedenstruppen« gilt: Militär kann bestenfalls für den Zeitraum seines Verbleibens Gewalt eindämmen, möglicherweise sogar verhindern. Konflikte oder Gewaltspiralen (auf)lö- sen kann es nicht. Dazu bedarf es grundlegender sozialer und ökonomischer Veränderungen, einer Emanzipation und Partizipation der Bevölkerung sowie des Erhalts der Umwelt.

Zivile Konfliktlösungsüberlegungen sind hilfreich, den besten Weg zum Frieden, zur Lösung von Konflikten ohne Krieg und imperiale Hegemonie zu finden. Grundbedingung bleibt der Abzug der Besatzungstruppen. Die Friedensbewegung wird ihre Kräfte auf dieses Ziel konzentrieren.

Der Autor ist Geschäftsführer der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms) und einer der Sprecher der »Kooperation für den Frieden«


Was wird am Hindukusch verteidigt?

Deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik auf dem Weg der Militarisierung

Von Clemens Ronnefeldt


Im Mai 2008 befanden sich nach Angaben des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr ca. 8000 Soldaten weltweit im Einsatz: In Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Georgien, Afghanistan, Usbekistan, Libanon, am Horn von Afrika (Dschibuti), in Äthiopien, Eritrea, Sudan und in Sudan-Darfur. Zwischen 1992 und 2007 waren ca. 200 000 Soldaten im Auslandseinsatz. Bis Ende 2007 wurden 69 Soldaten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen getötet, davon 44 durch Fremdeinwirkung, mehr als 9000 wurden verwundet. Ein Schwerpunkt der deutschen Auslandsmissionen befindet sich im Mittleren Osten, wo zwei Drittel der Welterdölreserven lagern.

Am 26. November 1992 erließ der Bundesminister der Verteidigung die »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, in denen es heißt: »Dabei lässt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten: ... Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.«

Das »Weißbuch 2006« des Bundesministeriums der Verteidigung greift diesen Gedanken erneut auf: »Deutschland, dessen wirtschaftlicher Wohlstand vom Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen abhängt, hat ein elementares Interesse an einem friedlichen Wettbewerb der Gedanken, an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen.«

Bundeswehrgeneralinspekteur Wolfgang Schneiderhan formulierte den Paradigmenwechsel von der Verteidigung zum weltweiten Einsatz auf der 41. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 11. März 2008 folgendermaßen: »Einsatz in der Verteidigung, aufgezwungen durch einen im Grunde bekannten Gegner, in vertrauter Umgebung, in großen geschlossenen Verbänden war lange unser konzeptioneller Dreh- und Angelpunkt. Nun ist es die souveräne aktive politische Entscheidung zum Einsatz militärischer Macht im Konzept weltweiter Sicherheitsvorsorge.«

»Wir benötigen eine zeitgemäße, vernetzte Sicherheitspolitik, deren Ziel es ist, Gefährdungen unserer Sicherheit bereits am Entstehungsort zu begegnen«, schrieb Schneiderhan. (Schneiderhan, Wolfgang: Soldat im Zeitalter der Globalisierung, in: Europäische Sicherheit, 2/2007). Der Generalinspekteur betonte aber auch: »Unsere Soldaten verstehen die politischen und kulturellen Zusammenhänge vor Ort und begegnen den Menschen mit Respekt und Verständnis.« Diese Aussage steht allerdings in Widerspruch zu Fotos deutscher Soldaten in Afghanistan, die diese beim Hantieren mit Schädeln von toten Afghanen zeigen.

Der ehemalige Fallschirmjäger Achim Wohlgethan schreibt in seinem Buch »Endstation Kabul«: »Ich wurde nun Augenzeuge, wie ISAF-Soldaten sehr unkonventionell testeten, ob das Gelände an dieser Stelle vermint war – und zwar mit Äpfeln! Dazu winkten die Soldaten die vielen Kinder heran, die auf dem Schießplatz leere Messinghülsen sammelten, weil diese bares Geld wert waren. Dann griffen die Soldaten hinter sich in eine Kiste mit Äpfeln, hielten sie den Kindern vor die Nase und schmissen sie ins Gelände. Dann warteten sie ab, was passierte. Wenn die Kinder losliefen und es keinen Knall gab, wurde dieses Feld als geklärt und unvermint betrachtet.«

Was wird für uns am Hindukusch verteidigt? Unser westlicher Lebensstil? Das Überleben der NATO? Die Option auf einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat? Die Eindämmung Chinas, Indiens und Russlands? Eine Plattform für die US-Regierung zum Iran-Angriff?

Der ehemalige Entwicklungsbeauftragte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Afghanistan, Herbert Sahlmann, hat einen 20-Punkte-Friedensplan ausgearbeitet, veröffentlicht im »Pax Christi Rundbrief« 1/2008.

Der ehemalige ARD-Sonderkorrespondent Christoph R. Hörstel hat in seinem Buch »Sprengsatz Afghanistan. Die Bundeswehr in tödlicher Mission« einen detaillierten 5-Jahres-Friedensplan vorgelegt. Prof. Andreas Buro, friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie, hat einen zivilen Strategieplan entworfen (Friedensforum 1/2008). Alle drei Friedenspläne könnten bei politischem Willen sofort begonnen werden.

Die Friedensbewegung in Deutschland fordert in einer Petition an den Bundestag: »Dem Frieden eine Chance. Truppen raus aus Afghanistan«. In einem Aufruf an die Soldaten der Panzerbrigade 21 in Augustdorf heißt es: »Verweigern Sie den Kriegseinsatz in Afghanistan!« (Friedensforum 2/2008).

Jürgen Rose, Oberstleutnant, verweigert derzeit den Afghanistan-Einsatz, weil er diesen nicht im Einklang mit dem Grundgesetz und dem Völkerrecht sieht. Christiane Ernst-Zettl, im Rang eines Hauptfeldwebels, weigerte sich als Sanitäterin in Afghanistan, eine Waffe zu tragen, weil dies nicht mit der Genfer Konvention vereinbar sei. Sie bekam dafür 800 Euro Geldbuße auferlegt, die Humanistische Union zeichnet sie mit dem Preis »Aufrechter Gang« 2008 aus.

Florian Pfaff, Major, verweigerte die logistische Unterstützung des Irak-Krieges, wurde degradiert, klagte dagegen erfolgreich und erhielt die Carl-von-Ossietzky-Medaille.

»Wir verteidigen unsere Art zu leben – und das ist unser gutes Recht«, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Rechtfertigung des Afghanistan-Krieges am 16. Oktober 2001. Solange 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent der Rohstoffe verbrauchen und diese Art zu leben – auch in Deutschland – die Lebenschancen eines großen Teils der Menschheit auf anderen Kontinenten einschränkt und verhindert, ist dem Altbundeskanzler zu widersprechen – besonders auch von den Kirchen.

Der »Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen« hat eine Reihe zukünftiger Konfliktherde benannt, die die Sicherheit von Menschen weltweit gefährden. Dazu zählen die Verschlechterung der Trinkwasserqualität, die Zunahme von Sturm- und Flutkatastrophen, der klimabedingte Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und die umweltbedingte Migration von Millionen von Flüchtlingen. Diese Herausforderungen sind so gewaltig, dass sie eines großen menschlichen und finanziellen weltweiten zivilen Einsatzes bedürfen – mit dem Ziel des gemeinsamen Überlebens der Menschheit.

Der Autor ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes www.versoehnungsbund.de


Durchhalteparolen helfen nicht

Eine vom Volk gewählte, repräsentative Regierung hätte kaum etwas zu befürchten

Von Matin Baraki


Der 11. September 2001 wurde zum Anlass des Krieges gegen Afghanistan, obwohl dieser schon lange vorher geplant war, denn bereits im Juni 2001 hatte die Bush-Regierung ihren regionalen Verbündeten Pakistan über solche Pläne informiert. Ende September 2006 erklärte auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, einen Krieg gegen Afghanistan geplant zu haben. Sowohl dieser Krieg als auch der gegen Irak waren Bestandsteil der als »Greater Middle East Initiative« bezeichneten Strategie der Neokonservativen in den USA. Unter dem formalen Dach der UNO wurde Afghanistan zu einem Protektorat der internationalen Gemeinschaft degradiert. Mehrere unterschiedliche Grundprämissen deutscher und internationaler Handlungsoptionen stehen derzeit zur Diskussion:

Militärische Aufrüstung ist keine Lösung

Von USA- und NATO-Generälen vor Ort sowie von den Regierungen in Afghanistan und in den NATO-Staaten wird eine Aufstockung der Truppen gefordert. Der Afghanistankonflikt ist aber militärisch nicht zu lösen. Weder den Briten im 19. Jahrhundert noch den Sowjets im 20. Jahrhundert ist dies mit Einsatz von zeitweise 120 000 Soldaten gelungen. Um das Land völlig zu besetzen, wären möglicherweise etwa 500 000 Soldaten erforderlich. Dies würde immer noch keinen Frieden bedeuten, sondern einen Krieg auf höherer Eskalationsebene.

Auch das neue Afghanistan-Konzept der Bundesregierung verkündet nur Durchhalteparolen und setzt auf eine militärische Lösung, die es nicht geben wird. Faktisch hat die Bundeswehr für die Sicherheit Afghanistans keinerlei Relevanz. Ihr Einsatz ist Bestandteil der Militarisierung der deutschen Außenpolitik, indem die ganze Welt zum Operationsfeld der Bundeswehr erklärt wird. Es deutet alles darauf hin, dass sich die Bundeswehr auf Dauer in Afghanistan einrichten will, um das Land für mögliche künftige Einsätze in der Region als unsinkbaren Flugzeugträger zu nutzen.

Von manchen Strategen wird ein mittelfristiger Abzug bis etwa Ende 2010 oder ein langfristiger Abzug in 15 bis 20 Jahren diskutiert. Diese Option würde an der jetzigen militärischen Auseinandersetzung nichts ändern. Im Gegenteil, der Widerstand gegen US-Armee und NATO-Einheiten würde sich fortsetzen, möglicherweise auf breiterer Basis. Da der Krieg täglich zahlreiche zivile Opfer fordert, werden sich weitere Teile der Bevölkerung dem Widerstand anschließen.

Da der Krieg auch weitere Zerstörungen verursacht, steht er im Widerspruch zu dem Wiederaufbauprogramm der internationalen Akteure. Insbesondere durch den Status als USA-Protektorat ist die Wirtschaft Afghanistans fast völlig zerstört worden. Das Land hat damit weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn eine friedliche Zukunft.

Die wirkliche Perspektive liegt in der Abkoppelung von kolonialähnlichen Strukturen und der stärkeren Hinwendung zu einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den industriell entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und Pakistan sowie in einer weltweit angelegten Süd-Süd-Kooperation.

»American Afghans« und »Euro-Afghanen«

Die afghanische Bevölkerung hat erhebliche Zweifel an der Souveränität und Unabhängigkeit der derzeitigen Regierung in Kabul. Das Kabuler Kabinett besteht aus »American Afghans«, den »Euro-Afghanen« und willfährigen Warlords. In ausnahmslos allen Ämtern sind Berater aus den USA präsent, die die eigentliche Entscheidungskompetenz innehaben. Der einzig gangbare Weg zur Befriedung des Landes wäre die Bildung einer wirklich repräsentativen Regierung in Afghanistan und eben nicht irgendwo im Ausland.

Unter strengster Kontrolle nicht durch die am Krieg beteiligten Nationen, sondern durch die Blockfreien Staaten, die Konferenz der Islamischen Staaten, die internationalen Gewerkschaften, Friedens-, Frauen- und Studentenorganisationen sollten Wahlen für eine Loya Dschirga durchgeführt werden. Auf dieser repräsentativen Versammlung sollten eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden. Eine tatsächlich vom Volk gewählte Regierung hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Dann sollten die USA- und NATO-Einheiten aus Afghanistan abgezogen werden.

Versöhnung nach dem Muster Südafrikas?

Im schlimmsten Fall sollte, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt wird, eine International Security Assistance Force (ISAF) ausschließlich von Staaten aufgestellt werden, denen das Land nahe steht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Damit wäre auch den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von »ungläubigen Christen« und dem »großen Satan« besetzt.

Schließlich sollten eine nationale Versöhnung, möglicherweise nach dem Muster Südafrikas, eingeleitet und ein »Marshallplan« für den Wiederaufbau des Landes ausgearbeitet werden.

Matin Baraki ist Lehrbeauftragter an der Universität Marburg.


"Der totale Overkill"

Gedanken eines ehemaligen USA-Soldaten

Von James Gilligan


Wir hatten nie einen menschlichen Blick für die Menschen in Afghanistan oder in Irak. Ich habe so oft die Entmenschlichung der Bevölkerung vor Ort gesehen. Ich erinnere mich an einen Zwischenfall, als wir drei afghanische Männer festnehmen sollten. 15 Marinesoldaten standen bereit, zwei Lastwagen mit Bewaffneten, die Deckung gaben, zwei Flugzeuge, zwei Helikopter, von denen einer bewaffnet war. Ich war auf dem einen Lastwagen und hatte über Funk Kontakt zu den beiden Flugzeugen und den Helikoptern. Hinter einem Hügel saßen noch ein Team mit Mörsern und ein Team von Spähern, die das ganze Gelände übersehen konnten. Das war der totale Overkill: drei Männer ohne Waffen festzunehmen, von denen zwei Teenager waren und einer knapp über Zwanzig. In Panik rannten die drei einen Berg hinab. Ein Hubschrauber kam im Halbkreis geflogen und eröffnete mit einem Maschinengewehr für 10 bis 15 Sekunden das Feuer auf sie. Glücklicherweise kam keiner zu Tode. Dann überwältigten meine Leute die drei.

In meinem Land gilt, dass jemand unschuldig ist, bis das Gegenteil bewiesen wird. Ich weiß nicht, wieso die Drei eine Gefahr darstellten. Es gibt keine Wertschätzung des menschlichen Lebens in der Armee.

Solche Vorfälle sind keine Einzelfälle, sondern sie passieren täglich. Sie passieren jetzt in diesem Moment. Wenn sich Deutschland weiter am Krieg gegen den Terror beteiligt, wird es zum Mitverschwörer dieser Ereignisse gegen die Afghanen. Schon jetzt ist es so, dass Deutschland einen großen Teil der Kriegslast trägt. Deutschland hat bereits Militärbasen für die USA zur Verfügung gestellt. 94 Prozent der verwundeten Soldaten werden in Militärkrankenhäusern in Deutschland behandelt.

James Gilligan ist US-amerikanischer Kriegsveteran und engagiert sich bei den Iraq Veterans Against the War (IAVW)


"Wir sterben vor Hunger"

Ein Gespräch mit der afghanischen Frauenrechtlerin Zoya

Wie war die Lage der Frauen und ihrer Organisation RAWA in Afghanistan vor dem Einmarsch der internationalen Truppen 2001?

Zoya: Vor dem 11. September 2001 war die internationale Gemeinschaft völlig blind und taub gegenüber der Tragödie in Afghanistan, vor allem mit Blick auf die Taliban und das Leid der Frauen. Wir RAWA-Frauen nahmen ein großes Risiko auf uns, wenn wir Menschenrechtsverletzungen dokumentierten und das dann international verbreiteten. Wir baten darum, uns dabei zu helfen, die Fälle von Steinigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Hinrichtungen öffentlich zu machen und anzuprangern.

Die Taliban nannten die Schultore »Einfahrt zur Hölle«, Computer und Fernsehen wurden als Teufelswerkzeug verdammt, sie setzten das Tragen der Burka durch. Aber die internationale Gemeinschaft hat vor 2001 die Zustände entweder ignoriert oder wie im Fall der Taliban durch die CIA und die US-amerikanische Außenpolitik sogar erst kreiert und gestützt. Wir können nicht vergessen, dass Bin Laden ein CIA-Boy war!

Was hat sich an der Situation seit 2001 geändert?

Nach dem 11. September begannen die USA, Afghanistan mit den modernsten Waffen zu bombardieren. Damals sagten viele: Wer auch immer kommen mag, er soll Schluss machen mit den Taliban. Aber sieben Jahre später sehen wir, was mit dem Land geschehen ist. Milliarden Dollar flossen nach Afghanistan, angeblich, um den Armen zu helfen, Bildung und Gesundheit zu verbessern. Doch die Situation wird von Tag zu Tag schlechter. Unsere Organisation hat immer gewarnt, dass der Westen stets die schlimmsten Feinde unterstützt hat, wie die Dschihadi-Gruppen der Nordallianz während des Kalten Krieges. Sie warnte auch davor, dass diese Unterstützung der Fundamentalisten nicht nur für Afghanistan, sondern für die ganze Welt eine enorme Gefahr birgt. Und nun wiederholen die westlichen Regierungen, auch Deutschland, diesen Fehler. Heute ist die Nordallianz durch die Hilfe der westlichen Besatzungstruppen wieder erstarkt, der Westen macht Kompromisse und kollaboriert mit lokalen Warlords und Drogenbaronen.

Was heißt das konkret für die Bevölkerung?

Die Bevölkerung sieht, dass 43 Länder in Afghanistan militärisch präsent sind, Tausende von Soldaten und Milliarden von Dollar, aber nach wie vor gibt es kein sauberes Trinkwasser, keine Elektrizität. Familien verkaufen auf den Straßen ihre Kinder, weil sie Hunger haben. Nur einen Kilometer vom Präsidentenpalast in Kabul entfernt sterben die Menschen vor Hunger. Sie müssen sich nur Interviews im afghanischen Fernsehen ansehen. Da klagte ein Mann, wie teuer alles sei. »Wir verhungern hier. Sagen Sie Präsident Karsai, dass er eine Bombe über uns abwerfen soll, weil wir dieses Leben nicht mehr wollen.« Gewiss ist das keine Lösung, aber diese Worte zeigen die Ohnmacht und Wut nicht nur dieses Mannes, sondern von 99 Prozent der Bevölkerung, die völlig verarmt sind.

Unlängst traten die Lehrer Kabuls und anderer Provinzen in den Hungerstreik, weil die Regierung ihnen für zwei Monate keine Gehälter ausgezahlt hatte. Ihr Einkommen liegt bei umgerechnet 60 Euro im Monat, das ist nicht einmal genug, um einen Sack Mehl zu kaufen, der kostet 70 Euro!

Kabul wird wegen der vielen Stromausfälle auch die dunkelste Hauptstadt der Welt genannt, und die Einheimischen witzeln, dass der Energieminister eigentlich der Minister der Kerzen sei.

Ein anderes wichtiges Problem ist der Opium-Anbau.

Letztes Jahr hat Afghanistan unter den Augen der Besatzungstruppen die größte Opiumernte eingefahren und produziert nun den Rekord von 93 Prozent allen Opiums weltweit. Und auch hier leiden Frauen am meisten, denn es gibt neuerdings ein Konzept, das »Opiumbräute« heißt. Arme Bauern, die nicht in der Lage dazu sind, die Drogendealer zu bezahlen, müssen ihnen stattdessen ihre Töchter überlassen.

Es gibt keine Sicherheit. Täglich werden Schulen und Wohnhäuser niedergebrannt. Vergewaltigung ist sehr, sehr üblich, aber die Familien sprechen nicht darüber, weil es für die Familien eine Schande ist. Selbst kleine Mädchen und alte Frauen werden vergewaltigt. Und oft gibt nicht einmal strafrechtliche Konsequenzen, wie jüngst, weil der Vater des Vergewaltigers Abgeordneter ist. Es herrscht das Gesetz des Dschungels. Und wir sollten dabei nicht vergessen, dass Kabul nur ein kleiner Ausschnitt Afghanistans ist, sogar die USA gaben zu, dass Karsai nur 30 Prozent des Landes unter seiner Kontrolle hat. In den Provinzen herrschen die Kriegsherren, Taliban und Drogenbarone.

Ich möchte zudem betonen, dass all diese Verbrechen vor den Augen der ausländischen Truppen geschehen.

Worin bestehen Ihrer Einschätzung nach heute die Hauptprobleme der afghanischen Frauen?

Das eine ist der Fundamentalismus, das andere die häusliche Gewalt. Die Lage der Frauen hat sich überhaupt nicht verbessert. Gerne wird darauf verwiesen, dass es ihnen doch besser ginge, weil nun die Schultüren offen stehen und die Burka nicht mehr getragen werden muss. Aber die Burka ist aus meiner Sicht nicht das Problem, die Gewalt ist das Problem. Ja, Schulen sind da, aber die Eltern in den ländlichen Provinzen schicken ihre Kinder nicht hin, weil sie Angst vor Entführungen haben.

Wie stehen Sie zum Thema Truppenabzug?

Wir glauben, dass Amerika nicht ehrlich ist. Unsere Leute kennen jetzt die versteckten Gründe für diesen Krieg, in dem es zuerst um die Interessen der USA geht und nicht um die Befreiung der afghanischen Bevölkerung. Wenn Tausende Menschen in der Kälte sterben, kann ich nicht von einer Naturkatastrophe sprechen. Das Land hat über 20 Milliarden Dollar Hilfsgelder erhalten – wieso müssen Menschen im Winter sterben?

Die USA wollen die Taliban gar nicht wirklich besiegen, liefern sie ihnen doch den Vorwand, um in Afghanistan bleiben zu können. Die internationalen Truppen machen nur Kompromisse mit unseren Feinden, und daher sagen wir: »Es ist besser, ihr verschwindet.«

Einige Leute behaupten, dann würde ein neuer Bürgerkrieg ausbrechen. Es ist natürlich unsere Verantwortung, aufzuwachen und uns selbst zu befreien. Wenn der Westen nur kurz geblieben wäre, Taliban und Nordallianz entwaffnet und die demokratischen Kräfte gestärkt hätte, in Ordnung. Aber sie bringen die Verbrecher nicht vor das Internationale Kriegsverbrechertribunal und haben in den vergangenen sieben Jahren die Situation verschlimmert.

Was erwarten Sie konkret von Ihrem Besuch in Deutschland?

Wir möchten uns zunächst ganz herzlich bei der Linksfraktion im Bundestag für die Gelegenheit bedanken, hier über das Leiden unserer Bevölkerung sprechen zu können. Wir hoffen, dass es in Zukunft mehr Einladungen nach Deutschland geben wird, denn leider ist es seit 2001 nicht mehr dazu gekommen. Damals hatten wir Beziehungen zu den Grünen und erhielten den Mona-Lisa-Preis vom ZDF. Aber als wir uns dann für den Truppenabzug ausgesprochen haben, wurden wir nicht mehr eingeladen.

Wir leben von Spenden und momentan ist unsere finanzielle Situation wirklich schlecht. Wir fordern die deutsche Regierung und die deutschen Parteien dazu auf, nicht mehr blind der USA-Politik zu folgen, sondern demokratische Kräfte wie RAWA zu unterstützen.

Zoya (geb. 1978) ist Mitglied der RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan), einer humanitären und politischen Organisation, die sich seit 1977 friedlich für die Frauenrechte und säkulare Demokratie in Afghanistan einsetzt. Seit dem Erscheinen ihrer Lebensgeschichte »Zoya. Mein Schicksal heißt Afghanistan« (2002) ist sie, die wie ihre Mitstreiterinnen im Untergrund lebt und ihren wirklichen Namen aus Sicherheitsgründen geheim hält, international bekannt. 2001 erhielt RAWA für ihr mutiges Engagement den Mona-Lisa-Preis des ZDF. Mit Zoya sprach Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete der LINKEN.


"Die dicksten Bretter bohren"

Die Friedensbewegung ist über den Truppenabzug einig. Nur das Wie ist umstritten.

Über die Situation in Afghanistan und die deutsche Friedensbewegung diskutierte ND-Mitarbeiter Christian Klemm mit Reiner Braun, Geschäftsführer der deutschen Sektion der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), der Linksparteipolitikerin Christine Buchholz, dem Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsgegnerInnen, Monty Schädel und Laura von Wimmersperg, Friedensaktivistin aus Berlin.

ND: Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung sieht vor, die Truppenstärke am Hindukusch um 1000 Soldaten auf 4500 zu erhöhen. Seit Anfang Juli führt die Bundeswehr die schnelle Eingreiftruppe (QRF). Warum ist der Einfluss der Friedensbewegung auf die Politik so gering?

Laura von Wimmersperg: Gering ist er nicht. Wir wissen, dass 60 bis 80 Prozent der Bürger sich gegen diesen Krieg aussprechen. Es gibt eine Umfrage, die festgestellt hat, dass die Bevölkerung es ablehnt, Gerechtigkeit und Demokratie durch Krieg zu erzwingen. Diese Mehrheit ist die demoskopische Friedensbewegung.

Reiner Braun: Wir bohren momentan die dicksten Bretter, die wir überhaupt bohren können. Die Koalition, die den Krieg befürwortet, besteht aus der Bundesregierung plus FDP und Grüne. Die gesamte US-amerikanische Politik sowie die NATO-Staaten sind für diesen Krieg. Eine Wende herbeizuführen, braucht einen langen Atem. Auch der Vietnamkrieg ist nicht durch die erste Rede Martin Luther Kings beendet worden.

Vor Beginn des Irakkrieges war der Druck auf der Straße so stark, dass eine deutsche Beteiligung undenkbar erschien. Warum ist das im Falle Afghanistans anders?

Christine Buchholz: Die Bewegung gegen den Irakkrieg wurde von den Grünen und der Sozialdemokratie unterstützt. Der Afghanistaneinsatz hingegen wurde von der rot-grünen Regierung selbst initiiert. Deshalb müssen wir in vielen Organisationen und Verbänden massiv gegen den Einfluss dieser beiden Parteien kämpfen.
Laut einer Studie der Freien Universität Berlin gab eine Mehrheit der Befragten im Nordosten Afghanistans an, ihre Sicherheit habe sich seit dem Sturz der Taliban verbessert. 80 Prozent führen das auf die Präsenz internationaler Truppen zurück. Was spricht also für einen Abzug?

Reiner Braun: Der Norden ist nicht repräsentativ für ganz Afghanistan. Die Situation im Süden und Osten ist anders. 2006, zur Zeit der Befragung, war die Lage in Afghanistan eine andere als heute. Selbst wenn ein Teil der Bevölkerung den jetzigen Zustand als positiv empfindet, hat sich die Gesamtsituation der Menschen von damals zu heute deutlich verschlechtert. Daher sind regionale Aspekte wichtig, aber kein Argument gegen den Abzug der Besatzungstruppen.

Für welches Abzugsszenarium plädieren Sie? Existiert ein Zeitrahmen?

Monty Schädel: Einen einheitlichen Zeitrahmen gibt es nicht. Während viele einen sofortigen, bedingungslosen Abzug fordern, können sich andere den Verbleib der ISAF vorstellen, wenn deren Mandat geändert wird. Alle meinen, dass das bisherige Agieren nicht zum Frieden beiträgt.

Christine Buchholz: Diese Differenzen hindern uns nicht daran, gemeinsam gegen das aktuelle Bundeswehrmandat zu kämpfen. Die LINKE hat die Position, dass ein sofortiger Abzug entscheidend ist, da alles, was den Zeitraum des Abzuges offen lässt, keinen Bruch mit der Besatzungspolitik bedeute.

Die ISAF-Mission wird durch die NATO geführt. Wie wichtig ist der Krieg für das Militärbündnis?

Christine Buchholz: Afghanistan ist die Achillesferse der NATO. Ein Scheitern dort würde die NATO in eine tiefe Krise stürzen, vielleicht ihr Ende bedeuten. Deshalb werden die Truppen aufgestockt.

Die NATO feiert im kommenden Jahr ihr 60-jähriges Bestehen. Sie stellte sich im Kalten Krieg als ein Verteidigungsbündnis gegen das sozialistische Lager dar, hat aber in den letzten 15 Jahren ihren Auftrag verändert. Was ist die NATO heute?

Reiner Braun: Die NATO beabsichtigt die Neuordnung der Welt. Zielsetzung ist das Festschreiben einer Strategie, welche die ökonomischen Interessen der Industriestaaten bis an die Grenzen zu China festlegt. Da ist Afghanistan als Transitland zu den Rohstoffen des Kaspischen Meeres von besonderem Interesse.

Die Bundesregierung sieht ihren Auftrag darin, das Land zu entwickeln. Ist Entwicklungshilfe in Afghanistan, das in weiten Teilen von lokalen Kriegsherren beherrscht wird, ohne Militär möglich?

Monty Schädel: Entwicklungshilfe ist nur ohne Militär möglich. Soldaten sind nicht unparteiisch und zum Gebrauch an Waffen ausgebildet. Verschiedene NGO wie »medico international« zogen sich aus Afghanistan zurück, weil zivile Helfer oft als verlängerter NATO-Arm angesehen werden und gefährdet waren.

Christine Buchholz: Die Hilfe verliert so ihre Neutralität. Wenn in einem Dorf morgens der Soldat als Entwicklungshelfer kommt und abends zur Durchsuchung der Häuser in Kampfuniform, dann ist eindeutig, dass kein Vertrauen bei der Bevölkerung aufgebaut werden kann. Ein Großteil der Hilfe wird für militärisch nutzbare Infrastruktur ausgegeben. Sie dient nicht dem Wiederaufbau des Landes.

Sie plädieren dafür, die zivile Aufbauhilfe, für die 7,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung stehen, deutlich aufzustocken. Wie viel Geld ist für einen zivilen Aufbau nötig?

Reiner Braun: Die Besatzungsmächte haben Reparationen für den Wiederaufbau zu leisten. Über das Wie hat eine demokratisch legitimierte Regierung zu entscheiden. Das kann unter anderem Hilfe in Form von Lehrern, Ärzten, von Brunnenbau oder Getreidelieferungen sein.

Monty Schädel: Es ist nicht unsere Aufgabe festzulegen, was und wie viel nach Afghanistan muss. Es fehlt momentan an dem Willen. Es wird nur über neue Soldaten diskutiert.

Laura von Wimmersperg: Der Militäreinsatz hat nicht zum Ziel, Schulen und Krankenhäuser zu bauen oder demokratische Strukturen zu schaffen. Afghanistan soll eine neoliberale Wirtschaftsordnung übergestülpt werden.

Wie äußert sich denn der Neoliberalismus in einem Land wie Afghanistan?

Laura von Wimmersperg: Die Westmächte wollen sich die Rohstoffe des zentralasiatische Raumes aneignen und den Absatz ihrer Güter auf den dortigen Märkten absichern. Dazu dient Afghanistan als eine Art Flugzeugträger.

Reiner Braun: Afghanistan ist heute ein neoliberales Musterland. Es gibt kaum noch eine eigene Landwirtschaft, weil mit der ökonomischen Öffnung und der Abschaffung der Zölle die gesamten Agrarprodukte von ausländischen Konzernen geliefert werden. Auch die rudimentäre Industrieproduktion existiert nicht mehr. Das Land wird mit ausländischen Gütern überschwemmt.

Nach Kjell Inge Baekkens, der die norwegische Schnelle Eingreiftruppe (QRF) kommandierte, wird die Besatzung in Afghanistan weitere zehn bis fünfzehn Jahre dauern. Droht am Hindukusch ein neues Vietnam?

Reinar Braun: Es droht eindeutig ein NATO-Vietnam. Niemand, weder die englischen Kolonialisten noch die Sowjetische Armee, hat dieses Land militärisch besiegen können. Es gibt kein Argument, dass diesmal ein Sieg möglich sei. Die Katastrophe ist programmiert.

Die Bundesrepublik ist seit 1989 in mehrere Kriege verwickelt. Wieso hat die Friedensbewegung diesen Trend bisher nicht stoppen können?

Reiner Braun: Auch in den nächsten Jahren werden wir den Trend nicht aufhalten. Er ist der militärische Ausdruck politisch-ökonomischer Sachzwänge. Solange wir die neoliberale Politik im Inland nicht verändert haben, werden wir auch ihren außenpolitischen Teil, den Interventionskrieg, nicht verhindern. Nur durch einen fundamentalen Politikwechsel lassen sich beide Elemente stoppen.


Außenpolitik braucht einen langen Atem

Ausgewogenes Verhältnis von militärischen und zivilen Mitteln

Von Niels Annen


Mit der Entscheidung über die Verlängerung der Afghanistan-Mandate übernehmen die Mitglieder des Bundestages große Verantwortung – für die Sicherheit der Soldaten und des zivilen Personals, aber auch für die afghanische Bevölkerung. Denn die internationale Gemeinschaft hat mit dem Einsatz für Stabilität und Wiederaufbau in Afghanistan der expliziten Aufforderung der afghanischen Repräsentanten entsprochen, die 2001 auf dem Bonner Petersberg zusammengekommen waren. Wir haben damals eine langfristige Verpflichtung übernommen. Sie geht weit über die Bekämpfung des Terrorismus hinaus; an sie knüpft sich die Hoffnung von Afghaninnen und Afghanen, wieder ein selbstbestimmtes Leben in Sicherheit und unter Achtung der universalen Menschenrechte zu führen. Im vergangenen Sommer verbrachte ich eine Woche in Afghanistan und befragte afghanische Politiker, Vertreter der Zivilgesellschaft, junge Frauen und Männer nach ihren Erwartungen. Mit Recht beklagten meine Gesprächspartner die hohe Zahl ziviler Opfer. Ohne für sich selbst in Anspruch zu nehmen, es stets besser machen zu können als die internationale Gemeinschaft, appellierten sie an Deutschland und seine Verbündeten, mehr Kompetenzen an die afghanische Armee und Polizei zu übergeben und die dafür notwendige Ausbildung zu intensivieren. Anders sei auf Dauer keine Legitimität für und Vertrauen in afghanische Institutionen zu schaffen. Derart, so hofften sie, könne gleichzeitig die Ablehnung gegenüber dem Militäreinsatz in der deutschen Bevölkerung verringert werden.

Ein kompletter und sofortiger Abzug der Streitkräfte aus Afghanistan, wie ihn einige in Deutschland fordern, erfüllt die Mehrheit der Afghanen mit großer Furcht. Eine solche Position entspricht auch nicht dem Wunsch der Entwicklungs- und Friedensorganisationen, die sich in Afghanistan engagieren. Medico International sprach in dieser Zeitung von »einer Illusion«, wenn man meinte, »die Truppen gehen morgen heim, wir geben Geld ins Zivile hinein, und alles wird dann prima« (Katja Maurer, 28.6.2008). Und auch VENRO als Zusammenschluss von über 100 deutschen Nichtregierungsorganisationen fordert viel mehr ein ausgewogenes Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Mitteln als einen Abzug des Militärs.

Dies ist auch das Ziel der vor knapp zwei Jahren eingerichteten »Afghanistan Task Force« der SPD-Bundestagsfraktion, die das bisherige Afghanistan-Engagement umfassend und kontinuierlich evaluiert. Die im Herbst 2008 zur Abstimmung stehende Aufstockung des ISAF-Mandats um 1000 weitere Soldaten bei gleichzeitiger Kürzung des OEF-Mandats um 600 Soldaten steht dazu nicht im Widerspruch. Die Bundesregierung reagiert damit auf die Bedürfnisse der Bundeswehr, die an der Grenze des Machbaren agiert, um Nordafghanistan stabil zu halten.

Vor allem anderen aber versucht Deutschland eine politische Lösung unter Einbindung regionaler Nachbarn wie Iran und Pakistan voranzutreiben. Gemeinsam mit der afghanischen Regierung entwickeln wir Ansätze, die das Land langfristig vor Gewalt und Armut schützen. Die von den Afghanen entworfene Nationale Entwicklungsstrategie ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Um sie zu realisieren, brauchen wir einen langen Atem. Um Verständnis dafür werben wir in Afghanistan wie auch in Deutschland.

Niels Annen ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages und des Parteivorstands der SPD.


Endlich die Wahrheit sagen

Der Krieg ist politisch falsch, moralisch schändlich und militärisch nicht zu gewinnen

Von Wolfgang Gehrcke


»Deutschland wird am Hindukusch verteidigt«, diese Idee stammt vom heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck. Wahr ist hingegen: Deutschland führt Krieg am Hindukusch. Das hat die Linke der Bundestagsmehrheit immer wieder entgegengehalten. Peter Struck benutzt den Verteidigungsbegriff, um dem Artikel 26 des Grundgesetzes – Verbot der Beteiligung an Angriffskriegen – zu entgehen.

Die Linke will, dass die Bundesregierung der Bevölkerung endlich die Wahrheit sagt. Auch die Abgeordneten des Bundestages sind schlecht informiert. Wer nur die Spur einer Unsicherheit hat, darf einer Verlängerung des Krieges nicht zustimmen. Deutsche Soldaten in Afghanistan sind keine Entwicklungshelfer in Uniform. Sie sind Teil dieses schmutzigen Krieges.

Beginnen wir mit der Frage: »Gegen wen wird da Krieg geführt?« Diese Frage habe ich immer wieder der Bundesregierung und der Bundeswehrgeneralität gestellt. Bis heute gibt es keine plausible Antwort. Im Militärjargon heißt der Feind »OMF« (Opposing militant forces). Das können Gruppen und Personen höchst unterschiedlicher Art sein. Der Begriff »Taliban« wird mehr aus propagandistischen Zwecken eingesetzt. Offensichtlich sieht Afghanistan einen klassischen Guerillakrieg. Solche Kriege sind militärisch nicht gewinnbar. Die USA sollten sich an die Vietnam-Lektion erinnern.

Keine Antwort gibt die Bundesregierung auch, wenn man nach den Opfern fragt. Halbwegs bekannt sind die Zahlen der getöteten ausländischen Soldaten: 124 bisher im Jahre 2008, 232 im Jahr 2007. Verlässliche Angaben zu getöteten Zivilisten werden nicht vorgelegt. In US-amerikanischen Zeitungen wird von ca. 100 000 Afghanen seit 2001 geschrieben. Jeder Tote ist zu beklagen. Aber klar ist, die Opfer sind vor allem Zivilisten.

Die Feststellung der Linken, dass die NATO-Soldaten in Afghanistan mehr und mehr als Besatzer wahrgenommen werden, wird heftig bestritten. Aber: Begonnen haben die Militäreinsätze im Jahre 2002 mit 4500 NATO-Soldaten im Rahmen der ISAF, heute sind 70 000 ausländische Soldaten und 40 000 Soldaten der neuen afghanischen Armee im Einsatz. Wenn zugleich die Kämpfe zugenommen haben, gibt es nur eine Logik: Mit der Anzahl der Soldaten wächst auch der Widerstand.

Die Bundesregierung wird im September nicht nur die Verlängerung des Mandats beantragen, sondern auch die Aufstockung des Bundeswehrkontingents um 1000 Soldaten auf 4500. Die Logik der Linken ist eine andere: Rückzug der ausländischen Truppen, zivile Hilfe, nationale Versöhnung und internationale Vermittlung unter UNO-Dach mit Einbeziehung der Länder der Region, einschließlich Irans.

Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach der Bewaffnung der »Aufständischen«. Bisherige Antwort der Bundesregierung: Die Waffen stammen überwiegend aus dem Krieg gegen die sowjetischen Truppen. Angeblich gibt es keine Informationen über Waffenhandel in Afghanistan. Wer's glaubt, wird selig.

Unbestritten ist jedoch: Der Einfluss der Regierung Hamid Karsais ist äußerst begrenzt. Die Korruption im Lande ist enorm hoch, die Ökonomie Afghanistans ist durch Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zerstört. In den Machtzentralen sitzen viele durch eine kriminelle und gewaltsame Vergangenheit hoch belastete Personen. Das sind die Verbündeten der NATO in Afghanistan. Für ihre Macht und die geostrategischen Ansprüche der USA wird der Krieg geführt.

Wenn die Argumente ausgehen und Schönfärberei à la Steinmeier über den zivilen Aufbau nicht greift, kommt zuletzt: Deutschland kämpft in Afghanistan gegen den weltweiten Terrorismus und das Schicksal der NATO entscheidet sich am Hindukusch. Nur: Ist die Gefahr terroristischer Anschläge mit diesem Krieg kleiner geworden? Sie ist größer denn je. Der Terror, den »wir« in andere Länder tragen, schlägt zurück. Terrorismus kann nicht mit Terror bekämpft werden.

Die Gefahr von Terroranschlägen dient wiederum Innenminister Wolfgang Schäuble als Hauptargument. Auch seine Antworten sind falsch. Er will den Abbau von Demokratie und den Einsatz der Bundeswehr im Innern. Der Krieg gegen den Terror macht uns dem immer ähnlicher, was wir vorgeben zu bekämpfen.

Und schließlich: Geht es um die NATO oder um Afghanistan? Das Problem der NATO ist doch, dass sie sich nicht nur überlebt hat, sondern zu einem weltweiten Interventionsbündnis umgeformt wurde. Das zeigt ihr Einsatz in Afghanistan.

Die Vorschläge der Linken mögen Unsicherheiten, Risiken beinhalten, das streite ich nicht ab. Aber sie zeigen einen Weg aus dem Krieg. Die Politik der Bundesregierung ist in einer Sackgasse gelandet, wird scheitern und viele Menschen das Leben kosten. Wie kann man für einen solchen Weg im Bundestag die Hand heben?

Kein Mitglied der Fraktion DIE LINKE wird einer Verlängerung und Aufstockung des Mandats für die Bundeswehr in Afghanistan zustimmen.

Der Autor ist Bundestagsabgeordneter, Mitglied des Partei-vorstands und außenpolitischer Sprecher der Partei DIE LINKE.


Besatzung ist das Problem, nicht Teil der Lösung

Zur Debatte über sogenannte Exit-Strategien in Afghanistan

Von Christine Buchholz und Peter Strutynski


Ob es nicht Chaos und Bürgerkrieg geben würde, wenn die ausländischen Truppen abzögen – diese unbeantwortete Frage hindert viele Menschen daran, sich für den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zu engagieren. Anknüpfend daran gibt es sogar Stimmen aus der Friedensbewegung, die für eine »Exitstrategie« plädieren. So meint etwa Christoph Hörstel – nicht unbedingt ein Vertreter der Friedensbewegung, aber von ihr mitunter als Experte geladen –, eine unabdingbare Grundlage seines »Friedensplans« sei die Beendigung von Aktionen oder Vorbereitungen von Aktionen durch den »Widerstand«. Das westliche Militär würde während der geplanten fünfjährigen Laufzeit seines Konzepts eine »Polizeirolle« spielen. Auch das Netzwerk Friedenskooperative hält einen Abzug der westlichen Armeen für »völlig unrealistisch«. Also müsse unter Besatzungsbedingungen »zivile Konfliktbearbeitung« allmählich »zur gängigen Praxis« werden.

Solche wohlmeinenden Ratschläge verkennen, dass die Besatzung selbst ein wesentlicher Grund für Aktivitäten des Widerstands (einschließlich des Terrors) ist und deshalb beendet werden muss. Auch die internationalen Gäste beim Afghanistankongress in Hannover stimmten darin überein, dass der Abzug der ausländischen Truppen die erste Bedingung für eine friedliche Entwicklung am Hindukusch ist. »Bürgerkrieg gibt es schon jetzt«, sagte Zoya von der Frauenorganisation RAWA. »Die Situation wird noch schlimmer, wenn ihr in zehn oder 100 Jahren abzieht.« Und die britische Wissenschaftlerin Elaheh Rostami-Povey ergänzte: Die Vorstellung, Frauenrechte und Demokratie per Militärintervention nach Afghanistan »zu bringen«, fuße auf einer »kolonialen, rassistischen Denkweise«.

Damit haben sie zweifellos Recht. Die Besatzung hat sich in Afghanistan eingenistet und ist auf einen längeren Zeitraum angelegt. Die Besatzungstruppen sind Ursache und Ziel der bewaffneten Aktionen. Und so schmerzlich dies sein mag: Der überwiegende Teil der internationalen Hilfsorganisationen zahlt Schutz- und Schmiergelder, um Zugang zu Krisengebieten zu bekommen und Hilfe leisten zu können.

In den meisten Überlegungen zu »Exit-Strategien« erscheinen Militär und westliche Präsenz ausdrücklich oder implizit als Garanten der Sicherheit, ohne die sich die gut gemeinten zivilgesellschaftlichen Konzepte nicht umsetzen ließen. Die Realität spricht eine andere Sprache: Die NATO-Truppen in Afghanistan sorgen nicht für Sicherheit und Stabilität, sondern für Chaos, Unfrieden und Unsicherheit. Es sind NATO-Bomben, die afghanische Zivilisten töten und ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen. Das brutale Vorgehen der Besatzer bringt die Bevölkerung gegen sie auf und heizt den bewaffneten Widerstand an.

Die Menschen in Afghanistan können und werden selbst über ihre Zukunft entscheiden. Es kann also nicht sein, dass wir ausgerechnet den Besatzern die Entscheidung über Zeitpunkt und Umfang eventueller Exit-Schritte überlassen. Den Exit-Gesängen setzen wir unsere Sofort-Exit-Strategie entgegen, und die heißt Abzug. Darauf zielt die Forderung der Friedensbewegung: Werden die beiden Mandate für den Bundeswehreinsatz im Herbst nicht verlängert, muss Deutschland seine Truppen abziehen. Dies wird nicht Hals über Kopf geschehen, sondern in einem ähnlichen Zeitraum, in dem die Truppen seinerzeit nach Afghanistan gebracht wurden, also etwa drei bis fünf Monate.

Christine Buchholz ist Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN.
Peter Strutynski ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.



Zahlen und Fakten

Kosten des Afghanistan-Krieges für die NATO-Staaten 2002–2006
  • für Militär: ca. 82 Milliarden US-Dollar
  • für Entwicklungshilfe: ca. 7 Milliarden US-Dollar
  • für Gesundheit und Ernährung: ca. 433 Millionen US-Dollar
(IMI-Analyse 2007/029 vom 17.8.2007 – www.imi-online.de)

Deutschland verbucht im Jahr 2008 für Afghanistan ca. 530 Millionen Euro an Militärausgaben und ca. 100 Millionen Euro an Ausgaben für zivile Zwecke.

Opfer des Militäreinsatzes:
  • Oktober – Dezember 2001: ca. 20 000 Menschen
  • Januar – Dezember 2006: ca. 4000 Menschen
  • Januar – Oktober 2007: ca. 5000 Menschen
(Prof. Marc Herold, USA, AP, Spiegel Online 3.10.2007)

2007 wurden unter den ausländischen Soldaten 232 Tote gezählt, 2008 bisher 124.

Von 2005 zu 2006 nahm die Gewalt in Afghanistan erheblich zu. Im Jahre 2005 gab es 27 Selbstmordattentate, 783 Straßenbomben und 1588 Direktangriffe, 2006 bereits 139 Selbstmordattentate, 1677 Straßenbomben und 1588 Direktangriffe.

(Bündnis 90/Die Grünen: Mit diesem Krieg ist kein Frieden mehr zu machen. Erklärung und Positionspapier zu Afghanistan, Sommer 2007)

Das jährliche Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt Afghanistans liegt bei ca. 355 US-Dollar. In der Armutsstatistik rutschte das Land von Platz 173 im Jahr 2004 auf Platz 174 im Jahr 2007 (unter insgesamt 178 Staaten).
(UN-Armutsindex Afghanistan)

Die Opiumproduktion in Afghanistan lag
  • 2001 bei ca. 200 Tonnen
  • 2006 bei ca. 6200 Tonnen
  • 2007 bei ca. 8200 Tonnen
Dies entspricht etwa 93 Prozent der Weltproduktion an Schlafmohn und an Opium.

(UN-Anti-Drogenbehörde, in: www.focus.de/politik, 1.11.2007)

»Der geheimnisumwobene Einsatz der Bundeswehr-Elitetruppe ›Kommando Spezialkräfte‹ (KSK) in Afghanistan war rein politisch motiviert, schlecht vorbereitet und militärisch weitgehend überflüssig«, lautet das Fazit des Verteidigungsausschusses des Bundestages.
(Süddeutsche Zeitung, 23.4.2008)

Bei Meinungsumfragen im Februar 2008 lehnten 86 Prozent der Deutschen Kampfeinsätze grundsätzlich ab, 13 Prozent waren dafür.
55 Prozent der Deutschen wollen den schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, 42 Prozent sind für den Verbleib.
(ARD-Deutschland-Trends für die Tagesthemen von Infratest dimap, 4./5.02.2008)




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