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Afghanistan - Der Krieg und die Menschenrechte

Beiträge einer Beilage der "jungen Welt" anlässlich des Internationalen Afghanistan-Kongresses 2008. Matin Baraki, Reiner Braun, Joseph Gerson, Seumas Milne, Conrad Schuhler, Peter Strutynski, Jewegenija Tomilowa

Am 7. und 8. Juni 2008 fand ein viel beachteter Kongress der Friedensbewegung in Hannover statt: der Internationale Afghanistan-Kongress - veranstaltet von den wichtigsten Friedensorganisationen und anderen sozialen Bewegungen (z.B. attac). Vertreterinnen aus insgesamt 12 Ländern Europas und Amerikas diskutierten und verabredeten gemeinsame Aktivitäten.
Anlässlich des Kongresses erschien die Tageszeitung "junge Welt" am 7. Juni mit einer Beilage, die eine Reihe interessanter Originalbeiträge enthielt. Wir dokumentieren sie im Folgenden mit freundlicher Erlaubnis der "jungen Welt".


INHALT


Afghanistan ist unsere Herausforderung

Deutschland, das Land, in dem wir leben, arbeiten und wählen, führt Krieg

Reiner Braun

Seit Jahren ist die Bundesrepublik mit bis zu 3500 Soldaten an den militärischen Auseinandersetzungen in einem fremden Land, etwa 9000 Kilometer von Deutschland entfernt, beteiligt. Es ist der zeitlich längste und größte Militäreinsatz in der fast 60jährigen Geschichte des Landes.

Aber: Krieg spielt in dem Leben der Menschen in Deutschland kaum eine Rolle. Das Leben geht seinen von Erfolgen, Sorgen, täglichen Wünschen und Nöten geprägten »normalen Gang«. Afghanistan kann das »deutsche Vietnam« werden. Dies wird nicht wahrgenommen, wird verdrängt, wird aber den Menschen auch von der politischen Klasse und den Medien mit angeblichen »Friedensargumenten« ausgeredet.

Die deutsche Bevölkerung ist laut Umfragen kontinuierlich zu etwa 70 Prozent gegen den Kriegseinsatz. Angesichts von Politikerlügen und Medienpropaganda ist dieser Friedenswille gar nicht hoch genug zu bewerten. Er ist Zeichen einer Friedenssehnsucht, die viel mit historischen Erfahrungen und dem erfolgreichen langjährigen Wirken der Friedensbewegung zu tun hat.

Jedoch breiter Protest wie im Februar 2003 gegen den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg oder gar Widerstand gegen Krieg bleibt bisher aus. Zur Beschreibung der Realität gehört deswegen: Den Abzug aller Besatzungstruppen aus Afghanistan und Frieden in dem Land zu erreichen -das ist das härteste Stück Holz, das die Friedensbewegung zur Zeit bearbeiten muß.

Wir wenden uns mit unserem Engagement nicht nur dagegen, daß ein Volk, das 30 Jahre Krieg über sich ergehen lassen mußte, weiter leidet. Nein, wir fordern die NATO und deren Führungsmacht USA an einem zentralen politischen und ideologischen Punkt heraus.

Der Militäreinsatz in Afghanistan nährt die Propagandalüge vom »Krieg gegen den Terror«, die spätestens seit dem 11. September 2001 die politische Debatte und weltweit die Gazetten beherrscht. Dieser Feldzug hat zu massiver weltweiter Entdemokratisierung und zur Einschränkung von Freiheitsrechten in vielen Ländern sowie zur Legitimierung fast jeden Verbrechens bis hin zur Folter geführt. Die ihn begleitende ideologische Offensive zielt auf eine brutale Gehirnwäsche, deren Auswirkungen wir in unserem Friedensengagement zu spüren bekommen.

Politisch richtet sich unser Engagement gegen ein Herzstück der neuen imperialen Weltordnung. So verlaufen durch Afghanistan nicht nur Transport­routen für Öl und Gas von Nord nach Süd und von Ost nach West. Das Land ist auch der unsinkbare Flugzeugträger zur Kontrolle der neuen Supermächte China und Indien sowie Rußlands und der ökonomisch mit ihm verbundenen GUS-Republiken.

Wir wenden uns gegen das größte kriegerische Engagement des modernsten, hochtechnisierten Militärbündnisses der Welt, der NATO. Sie setzt mit diesem Krieg einerseits ihre aggressive Strategie zur Sicherung von Rohstoffen um, andererseits verfolgt sie mit ihm das auf dem Gipfel in Bukarest im Frühjahr formulierte Ziel, die NATO nach der Osterweiterung zu einem weltweit handelnden Militärbündnis zu entwickeln.

Innenpolitisch bedeutet das: Wir streiten gegen die (über)große Koalition der Kriegsbefürworter, die -bis auf eine kleine Minderheit von Aufrechten -auch die SPD und die Grünen mit einbezieht. Umso höher ist die Friedensposition der Partei Die Linke einzuschätzen. Ihre Haltung gilt es -auch von seiten der Friedensbewegung -gegen »Aufweichungen« immer wieder zu verteidigen.

Besonders mit dem kolonialistischen Argument, nur mit deutscher zivil- militärischen Hilfe finde Afghanistan zum Frieden, werden wir uns weiter auseinandersetzen. Es findet z. T. auch bei zivilen Organisationen einen Widerhall. Allerdings wird eine umfassende, unabhängige Evaluation der Situation nach sieben Jahren Zerstörung und Tod vermieden.

Ergänzend sei erwähnt, daß die Koalition des Krieges von einer gewaltigen Medienmacht abgesichert und gestützt wird. Journalisten, die der Aufklärung dienen wollen, finden keinen oder höchstens einen belächelten Nischenplatz.

Zur Dialektik der Realität gehören aber auch die Gegenkräfte. Das sind u. a.:
  • der Friedenswunsch der Menschen (weltweit);
  • die historische Erfahrung, daß Kriege in Afghanistan von Besatzungsmächten noch nie gewonnen wurden;
  • die instabile soziale und ökonomische Lage im Land selbst;
  • die taktischen Widersprüche innerhalb des imperialen Blocks u. a. zwischen USA und EU;
  • die aus vielen Ursachen resultierende Krise der NATO;
  • das weitgehende Festhalten der UN an einer völkerrechtskonformen internationalen Politik;
  • das Desaster besonders der USA im Irak und das auch damit verbundene Negativimage der USA in großen Teilen der Weltbevölkerung.
Trotzdem: Es herrscht immer noch täglich Krieg in Afghanistan.

Keiner hat einen Masterplan für den Frieden in Afghanistan. Richtig bleibt, daß der Abzug aller ausländischen Truppen (einschließlich ihrer Geheimdienste), die Voraussetzung und der Kern einer Lösung sind. Daß dieser Abzug zivil und finanziell (Reparationen, Aufbauhilfe) abgesichert werden muß, versteht sich von selbst.

Friedensideen müssen in erster Linie von den gesellschaftlichen, heute oft marginalisierten Kräften Afghanistans (Frauen, NGOs) und/oder der Region ausgehen. Sinnvoll sind sicher auch Versuche der Friedensstiftung in einzelnen Regionen oder kleinen Gebieten des Landes.

Grundbedingung bleibt der Abzug der Besatzungstruppen. Die Friedenbewegung soll ihre Kräfte auf dieses Ziel konzentrieren und die Ablehnung des Bundeswehrmandats, dessen Verlängerung im Herbst ansteht, zu einem gesellschaftlichen Thema machen. Unser Ziel ist, eine deutlich größere Anzahl von Abgeordneten für ein Nein zu gewinnen. Die Friedensaktivitäten sollten daher stärker international vernetzt werden.

Die große Stärke der Friedenbewegung ist ihre Dezentralität und ihre Verankerung in wichtigen Berufszweigen. Wir müssen die Debatte um Afghanistan wieder in die Gesellschaft tragen. Nur aus ihr können die Impulse kommen, die das Verhalten der Abgeordneten verändern. Hunderte von kleinen Veranstaltungen, Referententouren und die Friedenspetition an den Bundestag sind wichtige Bausteine. Das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, das in den 80er Jahren mit der Unterschriftensammlung unter den Krefelder Appell schon einmal das Klima in unserem Lande friedenspolitisch grundlegend veränderte, muß stärker gesucht werden.

Unverzichtbar bleiben demonstrative Aktionen in Berlin (und anderswo) im Zusammenhang mit der Mandatsverlängerung. Hier gilt es, alle Zugänge und Chancen zu nutzen, friedenspolitisch kritische Kräfte aus den Gewerkschaften, den Kirchen und von SPD und Grünen zu gewinnen. Ob dazu eine neue Initiative »Umsteuern zur Priorität zivil und zur Rückkehr zum Völkerrecht« sinnvoll ist, sollte intensiv diskutiert werden.

Viele unserer Freundinnen und Freunde aus anderen sozialen Bewegungen sind noch nicht für ein Engagement gegen den Krieg in Afghanistan gewonnen. Dabei liegt ein Zurückdrängen der Kräfte des Krieges (und des Neoliberalismus) in unser aller Interesse, auch, weil ein Erfolg für den Frieden, die Handlungsbedingungen der sozialen Bewegungen deutlich verbessern würden.

Fazit: Wir wissen, daß das Engagement der Friedensbewegung im wesentlichen auf mittel- und langfristige Erfolge ausgerichtet ist. Es bleibt bei dem oft beschworenen »langen Atem«. Die Veränderung des Bewußtseins der Menschen und der gesellschaftlichen Kräftekonstellationen erfordern eigenständiges massenhaftes Handeln. Erst dadurch wird die Hegemonie der Friedenskräfte über die Kräfte des Krieges erreicht.


Holt die Soldaten nach Hause!

Eine Information über die Arbeit der Vereinten Afghanistan-Solidarität in Schweden

Die schwedische Organisation Föreningen Afghanistan Solidaritet (FAS) wurde im Herbst 2002 gebilde, ein Jahr nach dem Überfall.

Hauptsächlich aus zwei Gründen. Erstens: Die Organisation Svenska Afghanistankommittén (SAK), die 1980 gebildet wurde, um Solidaritätsarbeit mit den Afghanen zu leisten, war nicht in der Lage, so selbstverständlich »USA ut ur Afghanistan« zu fordern, wie sie bei ihrer Gründung natürlicherweise »Sovjet ut ur Afghanistan« verlangte. Zweitens: Die neue Vorsitzende von SAK war gleichzeitig Vizestaatsminister in der sozialdemokratischen Regierung. Die beiden Gründe gehörten zusammen. Wir kennen ja die Geschichte der Nichtregierungsorganisationen.

Nun hat SAK sich in wichtigen Fragen unserer Organisation angenähert.

Unsere Hauptaufgabe seit einem Jahr ist, mit anderen eine Bewegung für die Heimkehr der rund 350 schwedischen ISAF-Soldaten im Norden Afghanistans zu bilden. Wir arbeiten dabei sehr gut mit Kvinnor för fred (Frauen für den Frieden), der Linkspartei und einzelnen Mitgliedern anderer Parteien zusammen. Sehr aktive Fürsprecher sind ein früherer Verteidigungsminister und zwei sehr prominente Diplomaten -sämtlich alte Sozialdemokraten. Über 10000 Menschen haben unseren Aufruf unterschrieben.

Wir geben viermal pro Jahr eine Zeitung Afghanistan.nu heraus. Wir haben in ihr z.B. eine Übersetzung von Prof. Norman Paechs Gutachten von November 2001 betreffs der Teilnahme der Bundesrepublik an dem Krieg in Afghanistan publiziert. Und wir versuchen, Kenntnisse über Kultur, Geschichte und soziale Verhältnisse Afghanistans zu verbreiten.

Wir unterstützen die Opponenten gegen die herzlose Ausweisung afghanischer Flüchtlinge aus Schweden. Die Behörden sagen, daß es in Kabul so ruhig ist, daß sie einen Flüchtling auch ohne Verwandte in die afghanische Hauptstadt überstellen können. Im vergangenen Sommer machten Afghanen einen Hungermarsch von Norrköping bis Stockholm über 170 Kilometer. Sie übernachteten in Turnhallen und Kirchen.

Norman Paech hat frühzeitig bewiesen, daß die militärischen Interventionen in Afghanistan nicht auf ein UNO-Mandat gegründet sind. Wir müssen gegen ähnliche Behauptungen der schwedischen Regierung kämpfen, die den Truppeneinsatz stets als Autftrag der UNO ausgegeben hat. Das Feigenblatt ist aber gefallen, als ISAF jenem US-amerikanischen General, der auch die Operation »Enduring Freedom« kommandierte, unterstellt wurde.

Schwedens Grundgesetz verbietet, schwedische Wehrpflichtige ins Ausland zu senden. Aber Berufsoffiziere können dazu nach einer sozialdemokratischen Gesetzesnovelle befohlen werden.

Die Frage ist, welche Gesetze die schwedischen Soldaten befolgen sollen. Laut einer Erklärung befolgen sie schwedische. Gleichzeitig hat man die Möglichkeit wegverhandelt, Übergriffe von Militärs in Afghanistan zu bestrafen oder ausländische Soldaten einem internationalen Tribunal zu übergeben. Ein altes koloniales Verhalten.

Darum sagen wir unserer Regierung und dem Riksdag: Holt die schwedischen Soldaten nach Hause -raus aus Afghanistan!


Der afghanische Krieg

Eine Betrachtung aus der Sicht der US-Friedensbewegung

Joseph Gerson


Joseph Gerson arbeitet seit den 60er Jahren in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung der Vereinigten Staaten und ist einer der Referenten des Internationalen Afghanistan-Kongresses in Hannover am 7./8. Juni 2008. Sein Beitrag wurde redaktionell gekürzt. Übersetzung: Arnold Schölzel

Kürzlich veröffentlichte die New York Times erneut einen tief verstörenden Artikel aus dem afghanischen Krieg. Das US-Marinekorps, wurde dort berichtet, habe entschieden, »keine Anklage wegen Straftaten gegen zwei kommandierende Offiziere zu erheben, deren Einheit in die Erschießung von 19 Zivilisten in Nordostafghanistan vewickelt war...« Zuvor lasen wir in dieser Woche, daß das Gefängnis auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan, in dem US-Streitkräfte Gefangene gefoltert haben, nicht mehr ausreicht, um die wachsende Zahl afghanischer Gefangener unterzubringen und daß dort mehr Militärgefängnisse gebaut werden sollen. Das Pentagon berichtete -um uns auf einen mörderischen Sommer vorzubereiten oder auf mögliche militärische Aktionen gegen Pakistan �, daß sich die Zahl der Taliban-Angriffe über die Grenze zu Pakistan hinweg im Ergebnis der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der neuen Regierung in Islamabad und den Kämpfern in Pakistans Nordwestgebieten verdoppelt hat. (...)

Mehr US-Militär

Viele betrachten die Präsidentschaftswahlen in den USA als die Eröffnung einer neuen Ära voller Diplomatie und als Ende der Kriegsära Bushs. Man kann mit einem »regime change« in Washington allerhand erreichen -besonders in der Innenpolitik. Die Epoche des militärischen Unilateralismus der USA nähert sich ohnehin ihrem Ende. Jedoch werden die Vereinigten Staaten für die kommenden Jahre im Kriegszustand verbleiben, unfähig, sich selbst von ihrer militaristischen Kultur und von dem zu befreien, was Präsident Dwight D. Eisenhower seinerzeit die subversiven Einflußtentakel des militärisch-industriellen Komplexes nannte. Die traurige Wahrheit lautet, daß Barack Obama und Hillary Clinton John McCains Engagement für ein wachsendes Gewicht des US-Militärs teilen. Und wie McCain vermeiden sie die Festlegung darauf, alle US-Truppen aus dem Irak vor dem Ende ihrer möglichen ersten Amtsperiode im Jahr 2013 abzuziehen.

Dann ist da Afghanistan: Am 21. Mai widmete sich Senator Obama erneut einem Thema, das ein zentrales Element seiner Wahlkampagne war. Nachdem er seine Entschlossenheit betont hatte, die USA aus dem Irak herauszuführen, und seine Zuhörer daran erinnert hatte, daß dies nicht der Krieg sei, den die Vereinigten Staaten führen sollten, betonte er: »Afghanistan ist der Krieg, den wir gewinnen müssen.« Sowohl Obama als auch Hillary Clinton haben dieses Mantra seit Beginn ihres Wahlkampfes heruntergebetet und dabei Bush und McCain von rechts angegriffen. Außerdem ging Obama weiter als Clinton und McCain - wenigstens in der Öffentlichkeit -, als er mit US-Militärschlägen gegen Pakistan drohte.

Bilanz ziehen

McCain band sich selbst daran, vorrangig einen Sieg im Irak zu erreichen. Aber er verteidigt auch seit langem, daß sich die USA und die NATO in Afghanistan durchsetzen müssen. Er argumentiert dabei, daß die »Wett«einsätze -einschließlich der Zukunft der NATO -niemals größer waren. Bemerkenswert ist, daß er auch erklärte, die Vereinigten Staaten benötigten ständige militärische Stützpunkte in Afghanistan, nicht nur, um Al-Qaida einzudämmen, sondern um eine militärische US-Präsenz an den »Türschwellen« des Iran und der Nuklearmächte China, Pakistan und Indien zu sichern.

Nach dem Sturz der Taliban-Regierung durch eine Kombination von Hightech-Übermaß und einem Bündnis mit nicht-paschtunischen Warlords und konfrontiert mit der drohenden US-Invasion in den Irak, lenkte die US-Friedensbewegung ihre Aufmerksamkeit weg von Zentralasien und muß nun Bilanz ziehen. Mit unserer Konzentration auf den Irak und die zunehmenden Drohungen gegen Iran haben wir wertvolle Zeit verloren und auch Möglichkeiten, eine breit akzeptierte Analyse der Ursachen für das Scheitern des »Kriegs gegen Terrorismus« und des Krieges in Afghanistan vorzulegen. Aber binnen kurzem werden uns die Leiden, die Dynamik und die Lektionen dieser Ära der Installierung eines »Great Game« mit ihrer zeitlosen Wahrheit konfrontieren: Invasionsarmeen können nicht lange in Afghanistan bleiben.

Prioritäten Bushs

Welche Prioritäten hat die US-Regierung in Afghanistan, und warum wies die Bush-Administration das Angebot der Taliban 2001 ab, über eine mögliche Abschiebung der Al-Qaida-Führer zu verhandeln? Es gibt dafür viele Gründe.

Nach fast sieben Jahren US-Invasion wurde der Erhalt des Supermachtprestiges der USA unbeabsichtigt ein wichtiger Faktor -ähnlich wie im Irak oder in Vietnam vor 40 Jahren. Mit dem Einsatz von US-Streitkräften in einem imperialen Krieg ist es nun vorrangiges Ziel, keine Niederlage und den daraus resultierenden Verlust an Prestige und damit Macht zu erleiden. Eine noch größere Sorge der US-Elite und bedeutender Teile der US-Wählerschaft gilt dem offenkundigen Bedürfnis, Al-Qaida nicht militärisch zu unterliegen und den fälschlich so benannten »Krieg gegen Terrorismus« zu gewinnen. Mehr noch als der Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 schockierten und empörten die terroristischen Attacken des 11. September 2001 die US-Bevölkerung, die verständlicherweise sichtbare und tatkräftige Regierungsaktionen erwartete, um zu sichern, daß solche Angriffe gegen US-Amerikaner sich nie wiederholten. Anstatt die Attentate vom 11. September als empörende und wahllos durchgeführte Verbrechen zu charakterisieren, denen mit den Gesetzen der USA und des Völkerrechts, mit Polizei und Geheimdiensten sowie diplomatischen Mitteln begegnet werden müsse, ging die Bush-Administration, die von militärischer Rücksichtslosigkeit fasziniert ist, schnell dazu über, ihre terroristische Militärmacht zu demonstrieren. Die Absicht war, alle zum Schweigen zu bringen, die die globale Hegemonie der USA herausfordern. Die Antwort der Bush-Regierung auf die Terrorattacken lieferte die politische Deckung für den Feldzug, den Vizepräsident Cheney früher einmal als das »Arrangement für das 21. Jahrhundert« beschrieben hatte. Es soll sichern, daß die USA die dominierende militärische und politische Macht für die kommenden Generationen bleibt. (...)

Sieben Jahre nach Beginn des Krieges ist Washingtons Forderung an Deutschland und andere NATO-Alliierte, mehr Truppen in den Krieg nach Afghanistan zu schicken, wie auch die deutsche Widerstandsbewegung dagegen in den USA kaum bekannt. (...) Nach den US-Präsidentschaftswahlen -wenn nicht vorher -wird sich die US-Friedensbewegung erneut der Herausforderung stellen müssen, Alternativen für den fälschlich so benannten »Krieg gegen Terrorismus« und zum aussichtslosen Krieg in Afghanistan zu entwickeln. Die Zeit wird kommen, in der Lehren aus der Debatte und dem Kampf in Deutschland für uns unschätzbar sein werden.


Blutiges Scheitern - »guter Krieg«?

Die westliche Besatzung Afghanistans brachte weder Frieden noch Entwicklung -sie förderte die ­terroristische Bedrohung

Seumas Milne


Der hier veröffentlichte, redaktionell gekürzte Artikel erschien am 23. August 2007 im Guardian. Übersetzung: Arnold Schölzel

Enthusiastische Anhänger der Katastrophe, die der Irak-Krieg hervorbrachte, mögen es in diesen Tagen schwer haben, aber Afghanistan ist eine andere Angelegenheit. Für die Invasion und Besatzung, die George Bushs »Krieg gegen den Terror« eröffneten, setzen sich noch immer machtvolle Stimmen in den Besatzerstaaten als -mit den Worten der New York Times -»den guten Krieg« ein, der noch gewonnen werden kann. Während sich die Spekulation über einen britischen Truppenabzug aus Basra intensiviert, ist keine Rede von einem Rückzug aus Kabul oder Kandahar. Im Gegenteil ist geplant, die Zahl der britischen Soldaten von gegenwärtig 7000 zu erhöhen, hämmern Minister, Kommandeure und Offizielle der hiesigen Öffentlichkeit den Sommer über die Botschaft ein, daß Großbritannien -worauf Außenminister David Miliband beharrte -für lange Zeit in Afghanistan bleibt.

»Wir sollten in Dekaden denken«, erklärte der britische Botschafter, Sir Sherard Cowper-Coles; Brigadegeneral John Lorimer, Kommandeur in der Provinz Helmand, meinte, die militärische Besatzung könne länger dauern als die 38 Jahre in Nordirland; und Verteidigungsminister Des Browne bestätigte vor kurzem, daß die Regierung eine »langfristige Festlegung« getroffen habe, in Afghanistan zu bleiben und das Land davor zu bewahren, wieder Übungsplatz für Terroristen zu werden. Selbst unter Berücksichtigung des Bedarfs der Brown-Regierung an politischer Deckung, wenn sie tatsächlich ihre Truppen im Irak reduzieren sollte, läuft all das auf eine ziemlich klare Politik unbegrenzter Besatzung hinaus -eine Politik, für die man es nicht für nötig hielt, die britische Bevölkerung zu konsultieren, von den Afghanen zu schweigen.

Unsicherheit und Gewalt

(...) Für Afghanen ist das Leben nach sechs Jahren, in denen sie angeblich befreit wurden, schlechter geworden. Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz vor zwei Monaten mitteilte, hat sich die humanitäre Situation im Land verschlechtert, leiden Zivilisten »schrecklich« unter wachsender Unsicherheit und Gewalt in einem zunehmend schmutzigen Krieg. Die Kämpfe im Süden haben 80000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben, die Zahl der verletzten Zivilisten hat sich im vergangenen Jahr verdoppelt: Mehr als 200 wurden von US- und NATO-Truppen allein im Juni 2007 getötet, weit mehr, als nach Schätzungen bei Taliban-Angriffen ums Leben kamen. Die Brutalität des wahllosen US-Luftbombardements provozierte gewaltsame Demonstrationen und ist nach weitverbreiteter Meinung eine gute Unterstützung für den Feldzug der Taliban.

Betrachtet man das offensichtliche Scheitern der Besatzung bei dem Versuch, entweder Frieden oder Entwicklung nach Afghanistan zu bringen, ist nicht ersichtlich, warum das Ganze von einigen noch als »guter Krieg« betrachtet wird -obwohl eine Mehrheit von Briten, Kanadiern, Italienern und Deutschen den Abzug ihrer Truppen verlangen. Zum Teil ist diese Auffassung darauf zurückzuführen, daß die ursprüngliche Invasion als Antwort auf die Angriffe vom 11. September 2001 gestartet wurde. Sie wurden, so erwies sich, zumindest teilweise aus afghanischen Al-Qaida-Lagern heraus koordiniert. Außerdem hatte der Einmarsch ein gewisses Maß an Duldung durch die UNO, obwohl Afghanistan in den betreffenden Resolutionen nicht direkt erwähnt wurde. Hinzu kommen der gewaltsame und obskurante Charakter des Taliban-Regimes sowie die Furcht der Elite, daß ein militärisches Scheitern die Zukunft westlicher Macht in Frage stellen würde.

Warlords und Theokraten

Jedoch: Die USA und ihre Verbündeten griffen einseitig in einen ethnisch gefärbten Konflikt ein, um die Taliban zu vertreiben - anstatt z. B. Speziakommandos gegen Al Qaida loszuschicken. Sie beendeten damit den Austausch von Warlords gegen Theokraten und machten aus dem Land eine Ansammlung von gesetzlosen Machtbereichen. Statt die Al-Qaida-Netzwerke auszumerzen, wurde ihnen gestattet, in die Nachbarländer Pakistan und Iran zu ziehen; Osama bin Laden, dessen Gefangennahme erstes Kriegsziel war, entkam; die begrenzte Verbreitung von Frauenrechten in Kabul und einigen anderen städtischen Gebieten wurde ersetzt durch eine Welle von Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen. Westliche Politiker beschreiben die afghanische Regierung gern als demokratisch gewählt, während die Wahlen tatsächlich bestimmt waren durch breit angelegten Betrug und Bedrohung in Abstimmungen, die regionalen Warlords einen Ehrenplatz gaben. Politische Parteien wurden dagegen nicht zugelassen. Im wirklichen Leben ist Afghanistan, wie die UNO im vergangenen Jahr warnte, ein gescheiterter Staat, der heute 90 Prozent der Weltopiumproduktion hervorbringt und wo Korruption und Unsicherheit den Wiederaufbau haben versinken lassen.

Natürlich gab es in den 1970er und 1980er Jahren in Afghanistan eine Zeit, in der Mädchen zum Besuch von Schulen und Universitäten ermuntert wurden, in der Frauen die Hälfte der Lehrer und der Angestellten des öffentlichen Dienstes stellten, in der Land an Arme verteilt wurde. Die USA verbrauchten Milliarden Dollar, um das mit einem Fangschuß des Kalten Krieges zu zerstören und um die Grundlagen für den dschihadistischen Frankenstein Al Qaida zu legen. Jetzt behauptet der britische Premierminister Gordon Brown, Afghanistan sei »die Hauptkampflinie gegen den Terrorismus«. In Wahrheit liegt der Schlüssel zur Bedrohung durch Al Qaida in Pakistan und Saudi-Arabien sowie den diktatorischen Regimen, die der Westen dort sponsert.

Großbritannien führt jetzt seinen vierten Krieg in Afghanistan innerhalb von 170 Jahren. Es könnte nun gelernt haben, daß man gegen den Willen einer Bevölkerung keine Regierung von außen her installieren kann. Im Sommer verlangte der afghanische Senat nach einem Datum für den Abzug ausländischer Truppen und für Verhandlungen mit den Taliban. Dasselbe tat der pakistanische Außenminister Khurshid Kasuri. Es wird in Afghanistan keinen Frieden oder Stabilität geben, solange ausländische Truppen im Land bleiben; eine umfassende Regelung muß mit Sicherheit die Taliban und Regionalmächte wie Iran und Pakistan einschließen. Leider diktiert die Politik, daß voraussichtlich noch sehr viel mehr Blut auf beiden Seiten vergossen werden wird, bevor das akzeptiert wird.


Warnung für Deutschland

Eine Korrespondenz von Jewegenija Tomilowa, Korrespondentin der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, vom 7. März 2008

Anfang Februar beherrschte das Thema Afghanistan die Titelseiten der deutschen Presse. Der Grund war ein Schreiben von US-Verteidigungsminister Robert Gates an seine NATO-Kollegen mit der recht nachdrücklichen Forderung, die militärische Präsenz der NATO-Staaten in Südafghanistan zu verstärken, um an den Kampfhandlungen gegen die Taliban teilzunehmen.

Berlin lehnte zwar kategorisch den Ausbau des Bundeswehrkontingents in Südafghanistan mit der Begründung ab, daß Deutschland ohnehin die volle Verantwortung für die Wiederherstellung von Afghanistans kriegszerstörter Wirtschaft im Norden übernommen und dort bereits über 3200 Soldaten stationiert hat. Doch in Deutschland gingen die Meinungen bei dem Thema in einer heftigen Debatte auseinander. Einige Politiker meinten, Deutschland dürfe sich nicht seinen NATO-Verpflichtungen entziehen und müsse neben anderen Staaten des Militärbündnisses an den Kampfhandlungen teilnehmen. Zudem wurden Stimmen laut, die davor warnten, falls Deutschland nicht die Verantwortung im Nordatlantikpakt übernehme, sein Einfluß darin früher oder später gleich null sein wird.

In ihrer Mehrheit ist Deutschlands öffentliche Meinung natürlich gegen den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, und das erklärt sich völlig logisch: Die Deutschen wollen nicht, daß ihre Soldaten in Zinksärgen heimkehren. Binnen der sechseinhalb Jahre in dem relativ ruhigen Nordteil des Landes sind 26 Bundeswehrangehörige ums Leben gekommen. Ist das viel oder wenig? Statistisch gesehen eher wenig, denn die Sowjetunion verlor in den zehn Jahren des Krieges in Afghanistan 14500 Soldaten. Aber ein einfacher Bürger mißt das Leben nicht an Statistiken. Wie viele Deutsche kehren nicht heim, wenn Deutschland an einem richtigen Krieg in Afghanistan teilnehmen wird?

Am 26. Februar fand bei RIA Nowosti eine Videobrücke Moskau-Berlin statt, bei der russische Veteranen der Kampfhandlungen in Afghanistan auf die gar nicht einfache Frage zu antworten versuchten: Gibt es eine militärische Lösung des afghanischen Problems?

»In Afghanistan ist auf militärischem Wege nichts zu erreichen«, sagte General der Reserve Lew Serebrow, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Angelegenheiten der Veteranen. Die Afghanen würden nie zu schießen aufhören. »Es gilt, keinesfalls neue Kontingente dorthin zu entsenden, vielmehr daran zu denken, wie man von dort weggeht«, betonte Serebrow.

Gestützt auf die Erfahrungen der Sowjetunion, deren Truppen 1989 Afghanistan verlassen hatten, findet General Ruslan Auschew, Vorsitzender des Ausschusses für Angelegenheiten der Soldaten und Internationalisten beim Rat der Regierungschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten: »Es ist einfach kurzsichtig, damit zu rechnen, daß sich die Probleme in Afghanistan mit Hilfe der Koalitionskräfte lösen lassen.« Eine Idee sei mit militärischer Gewalt nicht zu besiegen, davon ist Auschew überzeugt. Das aber bedeute, daß man nicht Krieg gegen die Taliban führen müsse, sondern mit ihnen diskutieren, sie für das Parlament, für die Verwaltung der Provinzen gewinnen solle. »Man muß erreichen, daß Brot säen mehr Gewinn bringt als Mohn pflanzen«, betonte Oberst Wladimir Litwinenko, Abteilungsleiter am Institut für Militärgeschichte des russischen Verteidigungsministeriums.

Die von den Teilnehmern der Videobrücke geäußerte Meinung, daß Afghanistan in Ruhe zu lassen ist und den Afghanen das Recht gewährt werden muß, ihre Probleme selbständig zu lösen, schockte die deutschen Journalisten. Sofort warfen sie die Frage auf, ob in Afghanistan nach dem Abzug der Friedenstruppen nicht ein Bürgerkrieg ausbreche. Er werde ausbrechen, antworteten die russischen Experten wie aus einem Munde, aber das sei ein inneres Problem von Afghanistan, damit müßten die Afghanen selbst fertig werden, denn sie würden nie nach fremden, von außen festgelegten Regeln leben.

Nach Ansicht der russischen Teilnehmer wiederholen die Koalitionstruppen der NATO die Fehler, die seinerzeit die Sowjetunion beging. »Zuerst zog in Afghanistan ein Regiment ein, dann eine Division und darauf bereits ein Kontingent«, berichtete Auschew. Die zusätzliche Truppenentsendung werde dem Land nicht Frieden bringen, sondern lediglich die Zahl der Opfer unter den NATO-Militärangehörigen mehren. »Siegen wird nicht, wer mit einer Maschinenpistole umherzieht, sondern jener, der die Infrastruktur entwickelt und sich mit dem Bildungswesen befaßt«, findet Ruslan Auschew. Als »eine sehr gute Strategie« bezeichnete er die Handlungen des deutschen Kontingents im Norden des Landes, wo die Militärangehörigen überwiegend die zerstörte Infrastruktur wiederherstellen. Aber wenn deutsche Soldaten nach Südafghanistan kämen, werde alles absolut anders sein, darüber waren sich die russischen Offiziere einig.


»Unsere« Interessen in Afghanistan

Ein Beitrag zur ökonomischen Alphabetisierung

Peter Strutynski


Koloniale Eroberungen in der Geschichte hatten neben der christlichen Missionierung und »Zivilisierung« der als »Barbaren« wahrgenommenen Naturvölker immer auch bzw. vor allem einen ökonomischen Sinn. Den Kolonialmächten ging es um die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen einschließlich der billigen Arbeitskräfte, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als Sklaven gehandelt worden waren. Im Wettlauf um attraktive Kolonien mit entsprechenden Schätzen (vom Gold in Lateinamerika bis zu den Diamanten in Afrika) spielten geostrategische Überlegungen ebenfalls eine Rolle. Die Entdeckung des Erdöls als Schmiermittel des industriellen Kapitalismus fiel in eine Zeit, in der die koloniale Epoche sich bereits ihrem Ende zuneigte und sich schließlich im ersten imperialistischen Weltkrieg entlud. Fortan waren vor allem die unabhängigen ölreichen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens auf die alte Weise nicht mehr zu beherrschen. »Eroberungskriege« um des Öls oder anderer Bodenschätze willen fanden weder im Zeitalter der west-östlichen Bipolarität, noch finden sie heute statt. Das Ziel, sich bzw. den zu begünstigenden transnationalen Ölkonzernen entsprechende Vorteile bei der Förderung bzw. Verarbeitung und dem Transport der knappen fossilen Energien zu verschaffen, wird in der Regel mit politischen Mitteln (willfährige Regierungen wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate) erreicht. In anderen Fällen müssen »gute Gründe« gefunden werden, um militärische Zwangsmaßnahmen gegen unbotmäßige Regierungen zu rechtfertigen. Im Fall des Irak waren es die - nicht vorhandenen -Massenvernichtungswaffen, im Fall des - noch nicht vollzogenen - Angriffs auf den Iran ist es dessen Ausbau eines eigenen Atomprogramms sowie die vermeintliche physische Bedrohung, die das Regime in Teheran für die Existenz Israels darstellt.

Strategien

Kein Land wird schließlich offiziell wegen seiner geostrategischen Bedeutung militärisch angegriffen. Hier müssen andere - ideologische, moralische oder politische - Begründungen für Interventionen herhalten. Bemerkenswert ist indessen, daß geostrategische und Ressourcen-Interessen zwar nie als Interventionsgrund im konkreten Fall genannt werden, daß aber beide Aspekte in den Sicherheitsstrategien der Großmächte eine Rolle spielen und dort auch ungeschminkt artikuliert werden. Dies ist der Fall in der Nationalen Sicherheitsstrategie des US-Präsidenten, in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) wie in den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesregierung (VPR). Die dabei immer wieder auftauchenden Topoi sind der Schutz wirtschaftlich bedeutender Transportwege, der freie Zugang zu Ressourcen, die Aufrechterhaltung des freien Welthandels, die Herstellung politisch stabiler Verhältnisse im Umkreis der Europäischen Union, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in aller Welt sowie die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln. Regimewandel, Demokratieexport und die Ausbreitung von Freiheit und Menschenrechten sind weitere Ziele, die formuliert werden, in der US-Strategie unverhohlen als Aufgabe der Außen- und Militärpolitik, in der ESS und den VPR eher als abstrakt politischer Anspruch.

Öl und Taliban

Die Besetzung oder Kontrolle eines Landes wie Afghanistan, das immerhin fast doppelt so groß ist wie Deutschland, ansonsten aber nichts zu bieten hat, kostet also mehr, als es abwerfen könnte. Wirtschaftliche Interessen dürften also bei der Invasion der USA und der NATO im Oktober 2001 kaum eine Rolle gespielt haben. Mittelbar aber durchaus. Afghanistan ist für den NATO- und EU-Westen als mögliches Transitland von Interesse. Die im kaspischen Raum, nördlich von Afghanistan gelegenen Republiken Kasachstan, Aserbaidschan, Turkmenistan und Usbekistan verfügen über gigantische Erdöl- und Erdgasvorräte. Die gegenwärtig geförderte Menge soll in den nächsten 13 Jahren verdoppelt werden. Stuart Eizenstat, Staatssekretär in der Clinton-Administration, wies schon vor zehn Jahren im US-Kongreß darauf hin, daß »das Kaspische Meer potentiell eine der wichtigsten neuen energieproduzierenden Regionen der Welt« sein würde. Und die Bemühungen US-amerikanischer Ölgesellschaften (z.B. UNOCAL), mit der afghanischen Regierung wegen einer Pipeline ins Geschäft zu kommen, die das bisherige Transportmonopol Rußlands brechen, d.h. nach Süden über Afghanistan und Pakistan an den Indischen Ozean führen sollte, gehen in die Zeit der Taliban-Herrschaft Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Verwirklichen ließ sie sich erst nach deren militärisch erzwungenem Sturz. 2002 wurde ein entsprechender Vertrag über den Bau der Afghanistan-Pipeline von den Staatschefs Turkmenistans, Afghanistans und Pakistans unterzeichnet. Wenn das Projekt bis heute noch nicht realisiert werden konnte, dann liegt das daran, daß die Pipelinetrasse Gebiete durchqueren soll, die immer noch bzw. wieder von den Taliban kontrolliert werden.

Bündnissolidarität

Hinzu kommen rein strategische Interessen. Die zentrale Bedeutung Afghanistans veranlaßte den US-amerikanischen Vordenker Zbigniew K. Brzezinski schon in den 90er Jahren zu der Feststellung, das Zentrum der »eurasischen Landmasse« sei wie ein »Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft die globale Vorherrschaft abspielen« werde. In der Tat kann das Land am Hindukusch als eine Art terrestrischer Flugzeugträger benutzt werden mit den strategischen Zielen in unmittelbarer Reichweite: Pakistan/Indien im Süden, Rußland im Norden und China im Osten.

Für die Bundesrepublik spielt noch ein anderer Gesichtspunkt eine Rolle: die Bündnissolidarität. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war es für die Bundesregierung klar, sich nicht nur rhetorisch, sondern auch praktisch an die Seite der USA in deren »Krieg gegen den Terror« zu stellen. Im Wettlauf um die Neuvermessung der Welt dürfen die wichtigsten globalen Akteure der westlichen Führungsmacht nicht von der Seite weichen. Nachdem Bundeskanzler Schröder dem US-Präsidenten seine »uneingeschränkte Solidarität« in die Hand versprach, gab es kein Zurück mehr. Das geflügelte Wort des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, wonach Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde, hat das dauerhafte Engagement in Afghanistan erst recht unterstrichen. Und dabei möchte die Bundesregierung bleiben. Dazu werden auch bei der nächsten parlamentarischen Beratung um die Verlängerung und Erweiterung des Bundeswehreinsatzes die alten Lügen von der »Stabilisierung der Demokratie«, der militärischen »Absicherung des Wiederaufbaus« und der »Verteidigung der Menschenrechte«, insbesondere der Rechte von Frauen und Mädchen aufgetischt. Die glaubt heute aber kaum noch jemand.


Rohstoffimperialismus. Das Great Game um Afghanistan

Conrad Schuhler

Erstens. Grundlagen: Schlagworte wie »Wissens«- oder »postindustrielle Gesellschaft« verdunkeln bisweilen die Tatsache, daß die Marxsche Erkenntnis, wonach der stoffliche Reichtum einer Gesellschaft stets auf der Verbindung von zwei Elementen beruht, nämlich der Arbeit und den Stoffen der Natur, nach wie vor ihre Gültigkeit hat.

Kein Auto ohne einen ganzen Katalog von Metallen; kein Computerchip ohne Silizium oder Kupfer; kein Flugzeug oder Kraftwerk ohne Nickel. Die meisten Kunststoffe brauchen Rohöl. Chemie und Elektrotechnik verwenden Silber. Massenkommunikations- und Transportmittel beruhen wie die Mehrzahl der Maschinen in Produktion und Haushalt auf Energie. Die Energieträger bilden die grundlegende Basis der modernen Wirtschaftsweise.

Rechnet man die Verbrauchszahlen auf den durchschnittlichen Deutschen um, dann verbraucht dieser im Laufe seines Lebens: 225 Tonnen Braun- und Steinkohle, 116 Tonnen Mineralöl, 40 Tonnen Stahl, 1,1 Tonnen Kupfer und 200 Kilogramm Schwefel.

Zweitens. Rohstoffe werden knapper und teurer. Der moderne Wachstumskapitalismus hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr Rohstoffe verbraucht als die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte zuvor. Die moderne kapitalistische Lebensweise mit ihrem ungebremsten Rohstoffverbrauch triff auf die Tatsache der Endlichkeit, der Erschöpfbarkeit der meisten Rohstoffe. Dies gilt vor allem für den wichtigsten Rohstoff, die Energieträger. Im nächsten Jahrzehnt soll nach den Berechnungen der meisten Experten der Peak, der Gipfel der Erdölproduktion, erreicht sein. Ab dann werden die Quellen knapper und die Förderung teurer.

Die wachsende Nachfrage und Strategien der »künstlichen« Verknappung und der Naturzerstörung haben schon in den letzten Jahren zu gewaltigen Preissprüngen geführt. Nimmt man alle Rohstoffe zusammen -Energie, Edelmetalle, Industriemetalle, soft commodities (Nahrungsmittel) -dann haben sich die Preise von 2001 auf 2008 um fast das Dreifache erhöht. Die Preise für Getreide haben sich 2007 verdoppelt. Rohöl ist von Anfang 2008 bis Mai 08 um 30 Prozent teurer geworden.

Drittens. Die Industrieländer, die am meisten verbrauchen, haben nur geringe eigene Vorkommen. Eine Übersicht über die Vorkommen erweist, daß der Großteil der Rohstoffe sich in den Ländern der armen Welt bzw. in den Schwellenländern befindet. Von den Industriestaaten verfügen nur die USA über größere Ressourcen, die jedoch in der Regel weit unter dem Niveau des Eigenverbrauchs der USA liegen. Der größte Goldförderer z. B. ist Südafrika. Beim Eisenerz führen China und Brasilien, beim Kupfer liegt Chile vorn. Vor allem auch bei der strategischen Ressource Erdöl sind die USA (Anteil Eigenförderung: 33 Prozent) und EU-Europa (Anteil Eigenförderung 37 Prozent) auf den Zugriff auf die globalen Reserven »angewiesen«.

Viertens. Was die Konkurrenz um die knapper werden Ressourcen verschärft: Das schnelle Wachstum der Schwellenländer. Nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas bis 2050 fast um das Fünffache vergrößern. Die gesicherten Erdölreserven Chinas würden aber nicht einmal für zehn Jahre des jetzigen Verbrauchs ausreichen. Ähnliches gilt für Indien, dessen BIP nach den Prognosen sogar um das Siebenfache wachsen soll, ohne daß es über nennenswerte Ölreserven verfügt.

Bedenkt man, daß das BIP der USA im genannten Zeitraum um das Dreifache, das der EU immer noch um die Hälfte steigen soll, dann müssen wir von einem sich zuspitzenden Kampf um Öl, den Rohstoff Nr. eins, ausgehen.

Noch ein verschärfender Faktor: Die Ölreserven liegen meist in Ländern, die den USA und ihren EU-Partnern politisch als »instabil« oder sogar als »feindlich« oder »mißraten« gelten.

Die sieben Länder bzw. Regionen mit den mit Abstand größten Ölreserven sind: Saudi-Arabien, Irak, Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate, Iran, Venezuela, Rußland und die früheren kaspischen Sowjetrepubliken. Die arabischen Feudalstaaten sind innerlich morsch, z.T. islamistisch-fundamentalistisch, offen und aggressiv undemokratisch. Iran und Irak gehörten bzw. gehören zur »Achse des Bösen«, Venezuela bildet das Hauptgewicht gegen die USA in Lateinamerika. Rußland entwickelt sich immer mehr -neben China -zum weltpolitischen Gegenspieler des »Westens«. Die kaspischen Staaten sind ohne die Hilfe von CIA und NATO nicht auf westfreundlichen Kurs zu bringen.

Fünftens. Die Umstellung der Militärdoktrinen auf »Sicherheit des Welthandels« und der Öl/Energieversorgung. Die sichere Rohstoffversorgung -wozu auch der weltweite Transport per Pipelines, Tanker usw gehört -wurde in den letzten Jahren in den USA/NATO wie auch parallel und komplementär in EU-Europa und Deutschland in den Mittelpunkt der Militärdoktrinen und -organisationen gerückt..

1999 (noch mit US-Präsident Clinton) wurde die militärische Funktion der NATO um den »Auftrag zur Krisenbewältigung« erweitert. Eine solche Krise ist ausdrücklich gegeben bei der »Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen«. Im US National Energy Report vom Juni 2001 (also noch vor dem 11. September 2001) heißt es: »Wir sehen es als unseren Auftrag an, die Schaffung von Energiesicherheit zur obersten Priorität unserer Außenhandels- und Außenpolitik zu machen«. In der »Nationalen Sicherheitsstrategie« vom September 2002 wird der Zugang zum Öl des Persischen Golfes als für die Sicherheit der USA von entscheidender Bedeutung bezeichnet: »Falls erforderlich werden wir diese Interessen auch mit militärischer Gewalt verteidigen.«

Entsprechend der neuen Doktrin wird die US-Armee zu einer globalen Interventionsarmee umgebaut. Die NATO wird im selben Stil reorganisiert, ihre NATO Response Force verfügte bis Ende 2006 über schnelle Eingreiftruppen von 25000 Männern und Frauen.

Das US-Central Command (Centcom ist die größte der fünf Kommandozonen, in die die USA die Welt aufgeteilt haben) ist verantwortlich für 26 Länder von Zentralasien bis Ostafrika (seit letztem Jahr ist Afrika, mit Ausnahme Ägyptens, in ein eigenes Africom überführt). In dem Gebiet von Centcom liegen 70 Prozent der Ölreserven der Erde.

Deutschland wie auch die EU haben in denselben Jahren dieselbe Entwicklung genommen. Im Weißbuch der Bundeswehr 1994 wird der Begriff der Verteidigung ersetzt durch »Krisenbewältigung«. Dementsprechend sollen »Krisenreaktionskräfte« aufgebaut werden. Im Weißbuch der Bundeswehr 2006 wird eine sichere Energieversorgung in den Mittelpunkt gerückt: »Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen«. Für die EU gelten dieselben Prioritäten der Energiesicherheit. Im European Defence Paper -im Auftrag der EU erstellt -wird gefordert, so schnell wie möglich 150000 bis 200000 Soldatinnen und Soldaten permanent für Auslandseinsätze zur Verfügung zu stellen.

Die USA mit der NATO auf der einen und die EU und Deutschland auf der anderen Seite führen ihren Kampf um »Energiesicherheit« (bisher) nicht etwa gegeneinander, sondern im engen Verbund abgestimmt. So »berichtet« z.B. die ISAF wie die Operation Enduring Freedom in Afghanistan -an beiden sind Bundeswehrtruppen beteiligt -an US Centcom. Die elf Auslandseinsätze der Bundeswehr 2007 fanden allesamt in enger Koordination, oft unter gemeinsamen Kommando, mit den US-Militärs statt.

Sechstens. Im Great Game um Afghanistan treffen die globalen Gegenspieler aufeinander. Beim Transport von Öl und Gas aus den kaspischen Staaten und Iran nach Pakistan, Indien, China und zum Arabischen Meer spielt Afghanistan als Durchgangsland ebenso eine entscheidende Rolle wie für die allgemeine Kontrolle Zentralasiens. Afghanistan grenzt an Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und China. Der Westen unter Führung der USA hat sich militärisch in der Region umfangreich positioniert. Iran, der noch nicht unter Kontrolle gebracht worden ist, wird von den US-Militärprovinzen Irak im Westen und Afghanistan im Osten eingeklammert. Ein Rückzug aus diesen Gebieten wäre für das zentrale wirtschaftspolitische und militärische Dogma der »Energiesicherheit« ein herber Rückschlag. Dies wird von der deutschen Politik genauso gesehen. Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt, sagte der damalige Verteidigungsminister Struck. Deutschland stellt hinter den USA und Großbritannien das drittgrößte ISAF-Kontingent. Es gibt, bei allen Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen, eine globale sicherheitspolitische Allianz der westlichen Industriestaaten gerade im Hinblick auf die »Energiesicherheit«.

Ihnen gegenüber stehen im »Großen Spiel« heute die neuen Global Player, die sich zunehmend dem Diktat von USA-EU widersetzen. In der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) haben sich China, Rußland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zusammengefunden. Staaten mit Beobachterstatus sind die Mongolei, Indien und Pakistan. Die SCO ist mit einem Viertel der Weltbevölkerung die größte Regionalorganisation der Welt. Die Organisation ist u.a. dabei, ein regionales Antiterrornetzwerk einzurichten und hat bereits zwei Antiterror-Großmanöver -sowohl in China wie in Rußland � durchgeführt. Nimmt man die Zusammenarbeit im Rahmen der BRIC-Staaten � Brasilien, Rußland, Indien, China � hinzu, die u.a. gegen den US-Boykott regen Handel mit Iran betreiben, dann wird noch offensichtlicher, daß das »Great Game« um Afghanistan nicht nur wegen der fehlschlagenden militärischen Besatzung durch die USA und ihre Alliierten noch offen ist.


Unterwäsche in Ruinen

Wie dieses Jahr in Afghanistan begann

Matin Baraki


Die Luft hat sich in Kabul dramatisch verschlechtert. Staub und Verkehrschaos prägen das Bild. Viele Kabulis klagen über gesundheitliche Probleme.

Gharzai Zazai, Stellvertreter des Bürgermeisters von Kabul – nach seinen eigenen Angaben ein ehemaliger Mitarbeiter des pakistanischen Geheimdienstes – ordnete die Zerstörung von Häusern an, die von obdachlosen Rückkehrern aus den pakistanischen bzw. iranischen Flüchtlingslagern errichtet worden waren.

Das Vorgehen von Zazai paßte gut ins Bild, als Aryana-TV am 24. Februar darüber informierte, daß in Afghanistan in den ersten sechs Wochen des Jahres insgesamt 1200 Menschen, meistens Frauen und Kinder, erfroren waren. Mehr als 316000 Tiere kamen ums Leben. 833 Häuser wurden zerstört.

Gegen solches Elend unternimmt die Karsai-Administration fast nichts. Die »Gesellschaft der afghanischen Frauen« warf ihr Anfang März vor, keinen Plan zur Durchsetzung der Rechte von Frauen zu haben. Nur die privaten Stiftungen wie die des Unternehmers Ehsanullah Bayat und des verstorbenen Warlords der Nordallianz, Ahmad Schah Masud, spendeten Lebensmittel und Decken. Am 26. Februar 2008 berichtete Tolo-TV, daß in der nordafghanischen Provinz Sarepul eine junge Frau, die auf Hilfsgüter wartete, von einem Sohn des dortigen Parlamentsabgeordneten in ein Hinterzimmer gelockt und vergewaltigt worden war. Zwei Tage zuvor waren in den Abendsendungen von Aryana und Tolo Bilder einer Frau aus dem westafghanischen Herat zu sehen, die von ihrem Mann mit kochendem Wasser übergossen worden war.

Als Rechtfertigung für den Kolonialkrieg gegen Afghanistan war 2001 hauptsächlich die Befreiung der Frauen vom Joch der Taliban ins Feld geführt worden. Mittlerweile verbrennen sich manche Frauen aus Verzweiflung. In der Stadt Herat sind mehrere Dutzend verstümmelte Frauen in den Krankenhäusern untergebracht. Der Sprecher des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen gab am 3. März 2008 in Kabul bei einer Pressekonferenz bekannt, daß in Afghanistan jährlich 24 000 Frauen bei der Geburt ihrer Kinder sterben. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Eine Familie verkaufte sogar ihr Kind in der deutschen Besatzungszone Kundus für 500 Afghanis, umgerechnet sieben Euro.

Eine Armada von Propagandisten redet die Besatzerpolitik schön. Sie berichten von Fortschritten im Bildungs- und Erziehungswesen. Nach Angaben der UNESCO sind über 75 Prozent der Bevölkerung weder des Lesens noch des Schreibens kundig. Auch hier dürften die wahren Zahlen die Angaben weit übertreffen.

Ersatzweise ist die Macdonaldisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens voll im Gange. Bollywoods TV-Serien, Krimis und andere billige Unterhaltungssendungen dominieren das Fernsehen. Der Drogen- und Alkholkonsum erreicht Rekordwerte. Minderjährige Frauen verkaufen ihre Körper in Häuserruinen, verlassenen Gebäuden oder auf Baustellen, selbst in besonders traditionellen und religiös geprägten Dorfern. Am nächsten Tag sammeln die Bauarbeiter bzw. die Besitzer dann die Unterwäsche und BHs ein. Das berichteten mir Bewohner des etwa 15 Kilometer östlich von Kabul gelegenen Dorfes Schina, wo ich geboren und aufgewachsen bin. So etwas war mir zuvor völlig unbekannt gewesen. Das sind die Errungenschaften der kapitalistischen Zivilisation.

Nach Angaben der Vereinten Nationen hat Afghanistan im Jahre 2007 insgesamt 8200 Tonnen Rohopium produziert, das ist die größte Ernte, die jemals eingefahren worden ist. Die Bush-Administration beschuldigt Präsident Karsai persönlich, dagegen zu wenig zu unternehmen. Allerdings fungiert ein Bruder von ihm, Ahmad Wali Karsai, als Ratsvorsitzender von Kandahar und kassiert jährlich zehn Millionen US-Dollar Schutzgelder von den Drogenhändlern.

Hamid Karsai hat zwar mittlerweile ein Ministerium für Drogenbekämpfung geschaffen. Die Stelle war sieben Monate vakant und wurde erst Anfang März besetzt. Den Bauern wurden finanzielle Hilfen versprochen, wenn sie keinen Mohnanbau mehr betreiben. Passiert ist jedoch nichts. Obwohl im Bezirk Mohmanddarah in der Provinz Nangrahar die Landwirte keinen Mohn mehr anbauen, erhalten sie von der Kabuler Administration keinerlei Unterstützung, berichtete Tolo-TV. Die Bauern sind darüber verbittert. So kann davon ausgegangen werden, daß es nicht allzu lange mehr dauern wird, bis sie den Mohnanbau wieder aufnehmen.

Das afghanische Bildungswesen wird nach dem Vorbild der USA zunehmend privatisiert. Die neu entstandenen privaten Schulen und Hochschulen verlangen horrende Gebühren, die von Angehörigen der unteren Schichten nicht zu bezahlen sind. Die gut ausgebildeten Fachkräfte des Landes werden von den besser zahlenden NGOs, vom Militär oder von den privaten Bildungseinrichtungen absorbiert. Der staatliche Bildungssektor verkommt, da dort kaum investiert wird. Die normalen Schulen nehmen allmählich den Charakter von Koranschulen an.

Ein weiteres Produkt der westlichen Besatzungspolitik sind die im Lande marodierenden privaten Söldnerbanden, die im NATO-Auftrag foltern und morden. Der Kabuler Polizeikommandeur, Mohammad Salem Ehsas beabsichtigte, im Bezirk 10 eine solche Söldnerfirma zu schließen. Daraufhin verlangte der US-Botschafter in Kabul ultimativ vom Präsidenten, das Innenministerium anzuweisen, solche Aktionen zu beenden. Ehsas gab an, daß die Söldnergruppe keinerlei Arbeitserlaubnispapiere besitze, dafür aber nicht genehmigte schwere Waffen, wie Maschinengewehre, Raketen und Handgranaten, so ein Bericht der Tageszeitung Schahatat am 21. Februar 2008. Auch von vielen privaten Gefängnissen war darin die Rede.

Karsais Marionettenregime in Kabul, dem ein CIA-Bericht im März bescheinigt hat, nur 30 Prozent des Landes zu kontrollieren, betreibt eine Politik der offenen Tür. Dadurch ist die afghanische Wirtschaft zerstört worden. Sie ist nicht mehr in der Lage, der internationalen Konkurrenz standzuhalten. Afghanistan ist einer der Hauptproduzenten von Lapislazuli, Samoarot und Marmorsteinen. Die Produzenten können jedoch wegen billiger Importe den wichtigen Wirtschaftszweig des Landes nicht mehr am Leben halten.

Die Sicherheit im Lande verschlechtert sich immer weiter. In den letzten fünf Monaten gab es insgesamt 108 Entführungen. Nadjibullah Kabuli, Parlamentsabgeordneter aus Kabul, beschuldigte die Sicherheitskräfte, selbst in solche Fälle verwickelt zu sein. Im Jahre 2007 gab es insgesamt 160 Selbstmordattentate, meldete Tolo am 15. März 2008 in seiner Hauptnachrichtensendung. Am 11. März waren viele Geschäfte und Firmen aus Protest geschlossen, weil die Sicherheitsbehörden nichts gegen die Entführungen unternehmen. Die Polizei war nicht bereit, diesbezügliche Fragen von Journalisten zu beantworten.

In der zweiten Märzwoche hat der Kabuler sozialdemokratische Finanzminister Anwar Ulhaq Ahadi dem Parlament den Haushaltsplan vorgelegt. Viele Abgeordnete lehnten ihn als unausgeglichen, unseriös und als gegen die nationalen Interessen gerichtet ab. Sechzig Prozent des Haushaltes sollen durch Subventionen aus dem Ausland gedeckt werden. Nach einer drei Tage währenden Debatte verloren so viele Parlamentarier das Interesse an dem Thema, daß am 13. März 2008 das Unterhaus nicht mehr beschlußfähig war und die Sitzung vertagt werden mußte. Am 15. März wurde dann der Haushaltplan doch mit einer hauchdünnen Mehrheit verabschiedet.

Am 29. Februar 2008 berichtete CNN in einer Sondersendung über den Einsatz von Prinz Harry von Großbritannien in Irak und Afghanistan. Es hieß, der Prinz, der sich in seiner Freizeit auch schon mal mit Hakenkreuzbinde präsentiert hat, hätte bereits 30 Taliban getötet. Die afghanische Parlamentsabgeordnete Shukrya Barakzay bezeichnete den Kriegseinsatz von Prinz Harry als einen »Akt der Demokratie«.


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