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OstermarschiererInnen: "Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen"

Von Reiner Braun *

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!

Als vor 50 Jahren Ostern 1958 der erste Ostermarsch in Großbritannien von London nach Aldermaston stattfand, leckten wir noch die Wunden der gescheiterten oder besser von der SPD aufgegebenen großen Außerparlamentarischen Anti- Atombewegung der 50er Jahre.
Trotzdem hinterließ er diese Spuren, war Humus der Ostermärsche.

Ab 1960 hieß es auch in West-Deutschland "Unser Marsch ist eine gute Sache". Ostermärsche fanden bis 1969 gegen die atomare Bedrohung, zunehmend aber auch zur Verteidigung der Demokratie (Stichwort Notstandgesetzgebung) und gegen das barbarische US-Engagement in Vietnam statt.

Eine würdige Tradition, aber leider auch vieles mehr: eine brennende Aktualität.

Erinnert der verbrecherische Vietnamkrieg nicht in vielem an die völkerrechtswidrigen Kriege in Irak und Afghanistan?
Erinnert nicht aber auch der Widerstand von damals nicht an vieles von heute: es waren nicht immer und sofort Hunderttausende oder Millionen, die demonstrierten. Beim ersten Ostermarsch waren es wenige Hunderte, aber es war der lange Atem, der Mut und die Zivilcourage manchmal auch von wenigen, die dann auch die Unterstützung von vielen mobilisieren konnten.

Bewegung entwickelt sich, sie brauchen aber immer wieder Motoren: das waren die Ostermarschiererinnen und Ostermarschierer immer, sie waren Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen und haben diese befördert und mitgestaltet.

Dies gilt auch für den vielleicht legendärsten Ostermarsch in (West)Berlin 1968.

Als Folge des Mordanschlages auf Rudi Dutschke kam es nach dem Ostermarsch zu den Protestaktionen und Blockaden von dem Axel Springer Haus, dem Ort der geistigen Brandtstifter.

Es ging auch damals um fundamentale gesellschaftliche Auseinandersetzungen: Demokratie und Freiheit gegen den Obrigkeitsstaat und Disziplinierungen, Unterwürfigkeit und Unterstützung der imperialen US-Politik, Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung.

2008: 40 Jahre danach geht es bei dieser Betrachtung nicht um historische Reminiszenzen, sondern viele von uns sind Teil dieser Geschichte, sie hat uns geprägt, in vielen Niederlagen aber auch in den Erfolgen:

Die Verhinderung eines Atomkrieges ist dabei sicher der größte Erfolg!

Nicht genug aber die Vorrausetzung für alles weitere oder wie Willy Brandt es einmal gesagt hat: Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg:
Deshalb demonstrieren wir an Ostern 2008 auch für weltweite soziale Gerechtigkeit.

1,1 Milliarden Menschen leben von weniger als 1 Dollar pro Tag, während die Rüstungsausgeben 2007 auf 1.500 Milliarden Dollar stiegen. Tendenz steigend. Das ist und bleibt ein Skandal.

Mit den bisherigen Ausgaben von ca. 700 Milliarden Dollar in dem Kriege gegen den Irak könnten alle sogenannten Volkskrankheiten beseitigt werden, könnte eine vierjährige Schulpflicht für alle Kinder der Erde sozial abgesichert werden. Bis 2017 soll der Krieg unvorstellbare 1,7 Trillionen Dollar verschlingen. Wer sich nicht aktiv für Abrüstung einsetzt, macht sich mitschuldig an den Kindern, an den Hungernden und Leidenden: dieser Vorwurf von Rudi Dutschke an die Bundesregierung vom Vietnamkongress 1968 angesichts ihrer Unterstützung für den Vietnamkrieg gilt auch heute: Frau Merkel und Herr Steinmeier: wo sind neben ihren Sonntagsreden die Taten: umfassende weltweite Abrüstung, eine der Forderungen des ersten Ostermarsches ist vielleicht aktueller denn je und fängt bei uns an.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Die atomare Abrüstung bleibt auf der Tagesordnung: für uns seit dem ersten Ostermarsch, so auch heute. Die Atomwaffen, dieses Teufelszeug zur Vernichtung des Planeten, muss verschwinden. Dies war richtig auch als die neuen "Abrüster" Kissinger, Shults und Perry noch glaubten, mit Vernichtung Politik gestalten zu können.

Vergessen wir nicht: 700 Km von hier an der schönen Mosel in Büchel lagern noch amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden - weg damit.

Liebe politische Klasse in unserem Land, zeigt einmal nationale Verantwortung gegenüber den Vereinigten Staaten, nehmen Sie die Kronzeugen Kissinger und Shults und schicken sie die amerikanischen Atomwaffen nach Hause. 85% aller Deutschen werden Sie dafür loben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Afghanistan braucht Frieden, nach mehr als 30 Jahren Krieg.

Das bedeutet, jede weitere und zunehmende Verstrickung in den Krieg in Afghanistan schafft keinen Frieden, das galt und gilt für die Tornados, gilt für die Quick Reduction Force, für mehr Truppen im Süden (wir sind ja schon mit Ausbildern für Minderjährige da). Mehr Tote, mehr Verwüstung und Zerstörung, mehr Hass sind die Ergebnisse.

Es ist der erste Bodenkrieg in der Geschichte der NATO, geplant lange vor dem 11.09.2001.

Es gibt keine Trennung mehr zwischen ISAF und Enduring freedom, praktische Kriegsführung und Einsätze, Verflechtungen der Befehlsstrukturen und Einsatzplanungen, Aussagen der militärischen Führer aber auch führender Politiker Afghanistans belegen dies.

Wir sind Besatzungsmacht in Afghanistan, die wie jede halbwegs kluge Besatzungsmacht Zuckerbrot und Peitsche kombiniert. Wir zerstören, reglementieren, beherrschen lokale und regionale staatliche Strukturen und schützen Warlords, Drogenbarone. Wir nehmen alle Rechte einer Besatzungsmacht nach Genfer UN Besatzungsstatut wahr - und werden von der Bevölkerung (zunehmend mehr) abgelehnt und bekämpft.

Der Einsatz ist völkerrechtswidrig, denn die ersten Entscheidungen der UN vom Herbst 2001 sind längst ausgelaufen, überholt. Keine der militärischen "Eigen-Mandatierungen" der USA und NATO sind durch ein UN Mandat gedeckt.

Die Gefahr der Ausweitung ist latent vorhanden: selbst Obama droht Pakistan mit Krieg, eine militärische Aggression gegen den Iran ist nicht ausgeschlossen.

Die strategischen ökonomischen Interessen als Transitland für Öl und Gas oder Beobachtungsposten gegen Indien und China sind niemals unsere Interessen, sie bedeuten nur einen neoliberalen Ausverkauf des Landes.

Frieden und nur Frieden für dieses leidgeprüfte Land muss auf die Agenda. Diese Forderung richtet sich diamental gegen die Politik der großen Koalition, die an der Seite der NATO immer tiefer in dem militärischen Morast von Afghanistan zu (ver)sinken droht, jetzt wieder in Bukarest auf dem NATO-Gipfel.

Die Herausforderung des NATO-Gipfels ist nicht die Umstrukturierung und Erweiterung der NATO, sondern die Einsicht, dass die NATO auf den Misthaufen der Geschichte gehört. Salopp ausgedrückt: NATO-Offiziere in die Produktion.

Wir brauchen in Afghanistan die Umsteuerung zum Frieden, zu friedlichen Konfliktlösungsstrategien: Exit Strategien. Der Erfolg einer solchen Strategie hängt entscheidend von Europa ab.

Jetzt ist es eine der großen - bewusst immer wieder verbreiteten -- Unwahrheiten, dass dazu keine Planungen und Überlegungen vorliegen:

Friedensforschungsinstitute haben sie entwickelt, afghanische Organisationen sie aufgestellt, sie sind Ergebnis von Konferenzen der Friedensbewegung wie der Jahrestagung der Kooperation für den Frieden, Ostermarschierer der ersten Stunde wie Andreas Buro arbeiten an ihnen mit.

Sie unterscheiden sich, sie widersprechen sich, aber sie haben vieles gemeinsam:
  1. Stufen- und Regionallösungen gegen kurzfristige Heilsversprechen.
  2. Zivile Faktoren überholen militärische bei Finanzen und Personal, sofort. Aus einem Verhältnis, das sich zur Zeit 8:1 zugunsten des Militärs beläuft, wird perspektivisch ein umgedrehtes.
  3. Abzug der Besatzungstruppen, die entweder Krieg führen oder zu 80% mit sich selbst beschäftigt sind. Über das wie ist zu reden.
  4. dezentrale Projekte unter UN-Führung und mit Unterstützung neutraler Länder. Schwerpunkte sind die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung und die Beseitigung kriegsbedingter Schäden.
  5. Landwirtschaft und Unterstützung von Selbstversorgung vor Kabuler Gigantenprojekte. Hilfe zur Selbsthilfe für die Bevölkerung.
  6. Stopp des neoliberalen Ausverkaufs des Landes durch Steuerfreiheit und hemmungslosen Import, der die dezentralen Strukturen zerstört.
  7. Alle, die aufbauen wollen, dürfen mitmachen und alle Beteiligte gehören an gemeinsame Tische. Dies gilt auch für die, was bei uns oft verallgemeinernd Taliban heißt.
  8. Eine oder mehrere Dschurga(s) ohne US-Kontrolle werden eingerichtet, und zwar von unten nach oben entwickelt.
  9. Der Prozess dauert lange, ist schmerzhaft und nicht frei von Rückschlägen. Er muss aber politisch gewollt werden, wenn er erfolgreich sein soll.
Eindeutig ist: fremde Truppen, die Krieg führten, haben in Afghanistan nichts verloren, sie müssen abziehen. Umsteuern heißt nicht, die Fortsetzung des verhängnisvollen militärischen Einsatzes garniert durch ein wenig zivile Soße. Auch die großen humanitären Organisationen lehnen dieses zivil-militärische Konzept immer deutlicher und einhelliger ab. Wo zivil draufsteht muss auch zivil drinnen sein, Herr Verteidigungsminister Jung.

Aber: wenn eine autonome Regierung in Afghanistan zur Stabilisierung, zur Unterstützung eines friedlichen Aufbaus Hilfe anfordert, wird die zivilisierte Welt, diese nicht verweigern. Menschen oder Truppen/Polizei, peacekorps oder auch Freiwillige vor allem aus neutralen oder der Kultur und Tradition Afghanistans verbundenen Staaten werden sicher, gern, freiwillig und viel billiger als die alles zerstörende NATO, helfen.

Es bleibt dabei: die Aufgabe des Jahres 2008 ist das weg vom Militärischen und hin zum Zivilen besonders in Afghanistan aber auch an vielen anderen Plätzen der Welt, wo noch die Waffen regieren. Dies gilt auch für Tibet.

Zivile Konfliktlösungen einfordern heißt die Herausforderung für uns, die wir hier heute sind, aber auch für die Vielen, die noch an unserer Seite stehen, oder die wir gewinnen können.

Lasst uns den ersten Bodenkrieg der NATO, den Krieg deutscher Truppen beenden. Das Völkerrecht muss wieder Priorität erhalten.

Deshalb:
Frieden heißt der kategorische Imperativ.

* Reiner Braun ist Geschäftsführer der IALANA ("Internationale Juristinnen und Juristen gegen den Atomkrieg, für zivile Konfliktlösungen") und Sprecher der "Kooperation für den Frieden"

Bei diesem Text handelt es sich um die Rede beim Ostermarsch in Berlin am 24. März 2008



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