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Das neue System "Solidarität"

Die Reden von Katharina Seewald (Kassel) und Gregor Böckermann beim Ostermarsch in Frankfurt a.M.

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Reden des Ostermarsches 2004 in Frankfurt a.M.:
  • von Katharina Seewald (DGB Vorsitzende der Region Nordhessen) und
  • Gregor Böckermann, Initiative Ordensleute für den Frieden.

Katharina Seewald

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

es ist ja schon üblich geworden, dass eine Gewerkschaftsvertreterin bei den Kundgebungen der Friedensbewegung spricht und nicht erst seit das Motto heißt: Für Frieden - Gegen Sozialabbau. Wir haben ja letzte Woche am 2. und 3. April hunderttausendfach gegen den Sozialkahlschlag in diesem Land demonstriert und ich bin mir sicher, dass darunter die meisten von euch waren.

Und das gehört ja auch zusammen: die Kriegstreiberei bzw. das Kriegeführen und der Sozialabbau in diesem Land - ich sage hier ganz deutlich: das ist die gleiche Seite des Kapitalismus. Und den lehnen wir ab, egal ob er weltweit auftritt als globale Ordnungspolizei oder als Hardliner, der Arbeitszeitverlängerung, Verkürzung der Sozialstandards oder ähnliches fordert.

Schließlich steht diese Art der Politik auch:
  • für eine Entwicklung der extremen Ungleichheit in der Welt in jeglicher Hinsicht
  • für eine Ausbeutung der Menschen weltweit
  • für eine Verschleuderung der natürlichen Ressourcen
  • für Gewalt und Rassismus und vieles andere mehr.
All das lehnen wir ab und für all das ist Georg Bush ein Synonym. Ich meine nicht, dass er die Verkörperung des Bösen ist - das ist eine Terminologie die ich Bush überlasse, der immer von Menschen oder Ideologien als Hort des Bösen spricht.

Ich weiß, dass er ein Mensch an der Spitze eines Staatengebildes ist, aber als Vertreter einer bestimmten Interessensgruppe in den USA an der Spitze dieser Regierung steht, einer Gruppe von Ölmagnaten und Industriellen aus der Rüstungsindustrie.

Aber, liebe Freundinnen und Freunde, ich lehne auch eine Schwarz-Weiß-Malerei innerhalb der eigenen Bewegungen ab und gestattet mir deshalb ein Wort zum Nah-Ost-Konflikt, der durch den nachfolgenden Redebeitrag von Abdull Alawi näher beleuchtet wird.

Im aktuellen Nahost-Konflikt bin ich durchaus für Zwischentöne und ich möchte nicht die eine Seite von der anderen ausblenden. Ich billige keine Angriffskriege oder staatlich sanktionierten Mord aber auch keine Selbstmordattentate und ich kann nicht das eine ohne das andere nennen. Und wer Befreiung auf Antisemitismus baut, der meint nicht Befreiung. Ich halte es da lieber mit dem ehemaligen israelischen Botschafter in der Bundesrepublik, Avi Primor, der die Bedingungen für eine Lösung klar und deutlich formuliert: "Ende der Besatzung, Auflösung der israelischen Siedlungen, Errichtung eines Palästinenserstaates. Das muss natürlich mit der Garantie eines dauerhaften Friedens und vor allem mit einer Sicherheitsgarantie für Israel verbunden sein."

Liebe Freundinnen und Freunde,

zur Zeit befindet sich die Weltwirtschaft in einem dramatisch zyklischen Abschwung. Keine Regierung, weder die der USA oder auch bei uns haben es tatsächlich geschafft diese zyklischen Abschwünge zu verhindern bzw. die Folgen effektiv zu bekämpfen. Ihre Bekämpfung bestand u.a. in der Umverteilung der Lasten zuungunsten der in Unterentwicklung gehaltenen Länder.

In den letzten Jahren haben die gravierenden Ungleichheiten und Schwächen dieser Wirtschaftsordnung vehemente Reaktionen hervorgerufen. Diese Reaktionen zeigen sich in unterschiedlichen sozialen Bewegungen:
  • z. B. gegen die wachsende Armut in der Welt,
  • gegen die fortschreitende Umweltzerstörung,
  • und eben auch in der von letzter Woche in Berlin, Stuttgart und Köln.
Einige davon haben tatsächlich den Kapitalismus als strukturellen Kern der Weltwirtschaft ausgemacht.

Aber es gibt auch andere Antworten auf die ungleiche Entwicklung:
  • z. B. innerhalb der USA hat selbst während des wirtschaftlichen Booms die private Verschuldung zugenommen und die Reallöhne sanken.
  • Ganz zu schweigen von der alltäglichen Gewalt und dem alltäglichen Rassismus, noch von der teilweise verzweifelten Vereinsamung, die auch noch beschönigend Individualisierung genannt wird.
  • Ein Teil derjenigen, die den kapitalistischen Aufschwung verpasst haben bzw. die ihn gar nicht erreichen konnten, finden u.a. ein Ventil, wenn auch keine Lösung in der Umarmung von fundamentalistischen Bewegungen aller Art. Wo radikale und wirkliche politische Lösungen unmöglich gemacht werden, bietet er eine Alternative, die leider viele anzieht.
  • Und es gibt noch eine Antwort auf diese ungleiche globale Entwicklung, das was jetzt überall seit dem 11. September 2001 als Terrorismus gehandelt wird. Natürlich ist diese Entwicklung nicht neu. In vielen Teilen der Welt hat sich das Elend nicht in Richtung radikaler politischer Aktionen oder nach innen gewendet, sondern vielmehr in Richtung explosiver ethnischer Phobien und Gewalt, das haben wir gesehen in Ruanda vor 10 Jahren, in Teilen des ehemaligen Jugoslawien und anderswo.
Hier ist diese Saat der Gewalt aufgegangen und viele sehen in den USA den Grund für ihr Elend. Die Außenpolitik der USA, ihr Reichtum und ihr Militär erfüllen für sie die Rolle des absoluten Bösen, gegen den sie auch eine Art Kreuzzug führen.

Aber in dem weltweiten ökonomischen System, in dieser Dauerkonkurrenz um Gewinn und Verwertung, wo Menschen und die Umwelt auf der Strecke bleiben wegen einer Gewinnwarnung an der Wall Street, genau hier im Herzen dieses Systems weigern sich die Repräsentanten beharrlich die sozialen Kosten der ungleichen Entwicklung anzuerkennen, geschweige sie angemessen zu bezahlen, denn etwas dagegen zu unternehmen.

Natürlich - Warum sollte Präsident Bush an seinem System der Freiheit etwas ändern? - Seine Geschäfte im Kapitalismus z.B. im Öl, die laufen bestens. Deshalb findet er den Kapitalismus toll und redet von seiner "free world" - er meint für diese Freiheit des skrupellosen Geldverdienens einen Kreuzzug führen zu müssen.

Mit noch mehr Tod und Zerstörung. Die grundlegenden Probleme dagegen werden nicht angetastet, nicht mal benannt, aber die Spirale von Verlieren, von Elend, Angst, Terrorismus, Reaktion und Gegenreaktion dreht sich weiter und weiter und weiter.

Die grundlegende Lösung dieser ungleichen Entwicklung heißt aber nicht Krieg sondern Frieden, heißt nicht nur fair teilen sondern eine gerechte Wirtschaftsordnung global und auch hier. Es braucht ein Wirtschaftssystem, das auf die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen eingeht, die mehr sind als Kaufen und Verbrauchen und Fernsehen. Ein System muss das sein, in dem die Solidarität untereinander Grundlage des Zusammenlebens ist.

Nur wenn das neue System Solidarität als politische Überschrift hat, kann es wirkliche und dauerhafte globale Gerechtigkeit und Gleichheit einleiten und entwickeln.

Und das heißt vor allem auch hier in diesem Land, in dem sich die wirtschaftliche Krise eben auch immer mehr zuspitzt, dass wir nicht den Gürtel enger schnallen müssen, nicht den Abbau der Sozialleistungen sozial verträglicher gestalten müssen, sondern eine fundamentale Kritik an diesem System wagen müssen.

Dazu gehört auch, dass wir beim 3. April nicht stehen bleiben dürfen, der 1. Mai muss wieder zu einem wirklichen Kampftag gemacht werden und nicht zu einer Auftaktveranstaltung für die Europawahl und wir müssen von unseren europäischen Nachbarn Frankreich und Italien noch viel lernen, - z.B. wie man auch tatsächlich streikt nicht nur in Zeiten der Tarifauseinandersetzung. Ich hoffe, dass wir es schaffen Anfang Juni so ein Zeichen zu setzen.

Ich fordere euch auf, macht alle mit und sagt es laut und deutlich, was ihr wollt, sonst tun es andere für uns.

Gregor Böckermann

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde!

Ordensleute stehen für Meditation und Nachdenklichkeit, hat sich Willi van Ooyen wohl gedacht, als er mich für heute engagierte. Lieber Willi, ich gebe dir gerne Recht und beginne deshalb mit einem wunderbaren Gedicht. Es wurde im Dezember 1999 beim Weltwirtschaftsgipfel in Seattle vorgetragen. Der Autor ist leider unbekannt. Es war aber sicher kein Ordensmann.

Warum wir hier sind

1.
Weil die Welt, von der wir träumten,
die eine, auf die wir zählten
ähnlich verschwindet.
Weil die Sonne zum Krebserreger wurde
Und der Planet immer wärmer wird,
Weil Kinder verkümmern im Schatten
Von Yachten und Wirtschaftsgipfeln
Weil schon jetzt zu viele Flugzeuge im Himmel sind.

Diese Welt ist von Menschen gemacht.
Ihr wollt, dass es so bleibt und noch schneller vorangeht.
Wir sind gekommen, Euch zu sagen:
Es gibt ganz andere Dinge, für die wir Gold anlegen wollen.

2.
Das Geld dient schon lange nicht mehr diesen Werten:
Lebenskraft der Natur, Integrität der Arbeit.
Nicht noch billigeres Holz wollen wir, sondern lebende Bäume.
Nicht Designerobst wollen wir, sondern Früchte sehen und schmecken,
die gereift sind in unsrer eigenen Nachbarschaft.

Wir sind hier, weil in uns Stimme ist, eine Erinnerung in unsrem Blut, die uns sagen:
Euer Körper ist nicht nur eine Ware, ihr reitet blind mit
Auf einer Welle, die ihre Quelle vor langern vergaß.
Wir sind hier, um zu verteidigen, zu ehren,
was wirklich ist, natürlich, human und notwendig,
gegen die steigende Flut der bloßen Gier.

3.
Wir sind hier, weil uns der Geist der Natur es befiehlt,
ihre Autorität.
Zweifelt ihr auch nur eine Minute an der Macht der Wahrheit,
am Primat der Natur,
so haftet doch einmal für diese Zeitspanne Euren Atem ein.

Ihr kennt jetzt die Kraft unseres Begehren.
Wir sind nicht hier, um an Euren Gesetzen zu manipulieren.
Wir sind hier, um Euer innerstes nach Außen zu kehren.
Und Euch so zu verwandeln.
Dies ist kein politischer Protest,
dies ist ein Aufstand der Seele!


Ordensleute stehen für Meditation und Nachdenklichkeit, aber auch für Widerstand gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem. Deshalb habe ich das Motto der Ordernleute für den Frieden vom letzten Jahr, dem Jahr des Irak-Krieges, mitgebracht:
Krieg braucht Kapital - Kapital braucht Krieg.

1) Krieg braucht Kapital
  • Das wissen wir, seit Kohl 17 Mrd. DM für den 1. Golfkrieg zahlte.
  • Das wissen wir, seit bekannt wurde, dass die USA täglich 1 Mrd. Dollar für Rüstung ausgeben. Ganz zu schweigen von den Kosten für den derzeitigen Besatzungskrieg im Irak
  • Was der Bundeswehreinsatz im Kosovo, in Afghanistan und am Horn Von Afrika kostet, weiß ich nicht.
Aber ich weiß, dass unsere Interessen nicht am Hindukusch und nicht im Wüstensand verteidigt werden.

5 Millionen Arbeitslose in Deutschland haben nichts von diesen Kriegseinsetzen, auch nicht die 3 Millionen Haushalte, die so überschuldet sind, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr aus der Schuldenfalle rauskommen.

Deshalb fordern wir:
  • Bundeswehr raus aus Afghanistan, raus aus dem Kosovo, raus aus Afrika. Bundeswehr raus aus allen Konflikten, die mit dem Grundgesetz und dem Völkerrecht unvereinbar sind.
  • Setzt das Geld für nützlichere Dinge ein: für Bildung, für gesicherte Renten, oder auch für mehr Entwicklungshilfe.
2) Kapital braucht Krieg

Der 2. Teil unseres Mottos ist uns immer wichtiger geworden. Der Krieg, den das Kapital auch ohne Waffen führt ist durch die Verselbständigung und Globalisierung der Finanzströme in den letzten Jahren übermächtig geworden.

In Südostasien und Lateinamerika sind dadurch ganze Volkswirtschaften in den Ruin getrieben worden, Bei uns müssen Menschen, die noch Arbeit haben immer mehr leisten; 40, 50 und mehr Stunden pro Woche arbeiten. Trotzdem sind ihre Arbeitsplätze bedroht durch Fusionen, Firmenstilllegungen oder feindliche Übernehmen. Durch diesen Krieg des Kapitals werden mehr Menschen umgebracht, ihrer Menschenwürde beraubt, an den Rand gedrängt als durch die 50 heißen Kriege, die zur Zeit weltweit toben.

Deshalb fordern wir:
Stellt die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt, nicht den Profit. Dafür brauchen wir nicht nur ein Mindesteinkommen für alle. Dafür brauchen wir vor allem obere Einkommensgrenzen. Nicht jeder darf so viel verdienen wie er will und kann, schon gar nicht mit Finanzspekulationen. Die Tobin-Steuer muss her!

Und noch eins:
Wenn VW oder Siemens lieber in China oder der Slowakei produzieren, dann sollen sie. Aber dann sollen sie auch in China und der Slowakei. verkaufen. Wir boykottieren ihre Produkte, es bleibt uns ja nichts anderes übrig.

Gibt es Hoffnung, dass unser Motto in Zukunft hinfällig wird: Krieg braucht Kapital - Kapital braucht Krieg?

Ja, wenn 500.000 in Berlin, Stuttgart und Köln auf die Straße gehen, um gegen den Sozialabbau und die Agenda 2010 zu demonstrieren.

Ja, wenn viele von Euch bei den Aktionen der Ordensleute für den Frieden Anfang Juni mitmachen:
  • Am 2. Juni wollen wir auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank Herrn Ackermann das gespendete "Brot für die Bank" überreichen. Inzwischen über 4 Kilo Kleingeld. Jeder Cent ist ein Zeichen des Protests, dass es endlich aufhören muss, dass die Armen die Reichen finanzieren.
  • Am 3. Juni werden wir bei der Familie Quandt in Bad Homburg demonstrieren. Vier Quandts gehören zu den 30 reichsten Deutschen. Alles Milliardäre. Unsere Botschaft: "In euren Häusern ruht das geraubte Gut der Armee" (Jesaja 3,14)
  • Am 4. Juni ziehen wir vor den Landtag in Wiesbaden. Wir fordern die Politiker auf, das Eigentum der ganz Reichen als Raub zu bezeichnen und den Art. 14 GG zu überarbeiten, der unsere Milliarden schützt.
  • Am 5. Juni demonstrieren wir im Frankfurter Dom. Die Kirchen dürfen sich nicht mit Almosen, Diakonie und Caritas zufrieden geben, wenn Gerechtigkeit gefordert ist.
Also: herzliche Einladung zu diesen Protestaktionen!

Zum Schluss eine kleine Geschichte, warum ich der festen (Überzeugung bin, dass wir noch zu meinen Lebzeiten das kapitalistische Wirtschaftsystem kippen werden:
Seit gut 6 Jahren demonstriert eine Gruppe von Frankfurter Arbeitslosen an der Hauptwache gegen Sozialabbau und Bildungsklau. Und des jeden Mittwoch von 17 - 19 Uhr. Wenn ich Zeit habe, gehe ich hin und hänge mir dieses Schild um:
"Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen." Die Zahl derer, die sagen: "Das stimmt; das habe ich am eigenen Leibe erfahren", nimmt zu.

Dann komme ich mir vor wie so ein kleiner Verstärker, der sagt: Trau deiner inneren Stimme, Trau nicht denen, die dir aus den Chefetagen der Wirtschaft und Politik was anderes erzählen.
Und dann frage ich: Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass die Mauer in Berlin fallen würde? Lange klebte an einem gelben Briefkasten an der Konstabler Wache folgender Spruch: "Die BRD war schlauer - Das Geld ist jetzt die Mauer."

Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Geldmauer, die immer höher gezogen wird zwischen West und Ost, zwischen Reich und Arm, eines Tages fallen wird, wie die Berliner Mauer. Und zwar dann, wenn die Menschen, wie damals in Leipzig und Dresden, immer wieder auf die Straße gehen, gewaltfrei, mit Kerzen in den Händen, und sagen: Schluss jetzt mit dem Wahnsinn. Wir gehen einen anderen Weg.

Diese Revolution wird kommen, noch zu meinen Lebzeiten. Davon bin ich überzeugt. Sonst hat unser Planet keine Überlebenschance, sonst haben die kommenden Generationen keine Zukunft. Oder wie Erich Fried sagt:
"Wer will, das die Erde so bleibt wie sie ist, Will nicht, dass sie bleibt."


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