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"Atomwaffen und Raketen abrüsten statt abwehren!"

Regina Hagen vom Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space auf dem Ostermarsch 2002 in Stuttgart

Wir dokumentieren die folgende Ostermarschrede in der uns übermittelten Fassung.


„Es ist sieben Minuten vor zwölf“, erklärte das Bulletin of the Atomic Scientist (http://www.bullatomsci.org) vor kurzem. Die die Fachzeitschrift für nukleare Themen rückte den Minutenzeiger der Doomsday Clock um zwei Minuten vor. Die „Doomsday Clock“, die „Uhr des Jüngsten Tages“, wird immer dann vor- oder zurückgestellt, wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges deutlich geändert hat.

1991 unterzeichneten die USA und die Sowjetunion START-I, und wir alle hofften, daß mit diesem Abrüstungsvertrag das nukleare Wettrüsten endgültig vorbei sei. Inzwischen ist die Sowjetunion auseinandergefallen und der Warschauer Pakt wurde aufgelöst –die Atomwaffen aber, die sind geblieben. Damals wurde die Doomsday Clock auf 17 Minuten vor zwölf gedreht – dabei ist es aber nicht geblieben. Zum dritten Mal schon wurde sie nun vorgestellt[1], um insgesamt zehn Minuten – die Gefahr der nuklearen Katastrophe ist also keineswegs gebannt.

Ganz im Gegenteil: 31.000 nukleare Sprengköpfe gibt es zur Zeit, davon sind 16.000 einsatzbereit. Die meisten gehören den USA und Rußland, hunderte China, Frankreich und Großbritannien; auch Israel, Indien und Pakistan sind inzwischen Atomwaffenstaaten.
Selbst hier bei uns, in Deutschland, werden weiterhin Atomwaffen des US-amerikanischen Militärs gelagert. Die zugehörige Einsatzzentrale ist gar nicht weit von hier, im EUCOM, in Stuttgart-Vaihingen.

Das wäre übrigens ein gutes Thema für die deutsche Regierung, um ihrer gewachsenen Verantwortung gerecht zu werden: Herr Schröder, Herr Fischer, fordern Sie Ihre Freunde in der Regierung Bush auf, endlich alle Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen!

Gelegentlich wird gesagt, das sei doch alles gar nicht so schlimm, schließlich hätten Atomwaffen seit Hiroshima den Schlagabtausch der Weltmächte verhindert und den Frieden gesichert. Kein Land würde wagen, Atomwaffen einzusetzen, weil es schreckliche Vergeltung riskiere.

Die Pläne der Militärs sprechen eine andere, bedrohliche Sprache. Kaum hatten die Präsidenten der USA und Rußlands die Reduzierung ihrer strategischen Nukleararsenale verkündet, stellte das Pentagon im Januar (2002) seine neue Strategie vor. Seit dem Nuclear Posture Review, der Überprüfung des Atomwaffendispositivs der USA, sind Atomwaffen auch in der Öffentlichkeit und in den Medien wieder ein Thema. Und zu recht – wir haben Grund zur Wut!

Die USA wollen zwar auf höchstens 2.200 strategische Atomsprengköpfe reduzieren, die meisten ausgemusterten Waffen aber im Lager behalten. Als „Absicherung“ gegen „unerwartete Umstände“ wird das Reservearsenal bei Bedarf wieder aus den Hallen geholt und für den Einsatz vorbereitet. Die nukleare Technikplanung ist für die nächsten 50 Jahre ausgelegt!

Was für eine Schande! Vor über 30 Jahren, beim Abschluß des Atomwaffensperrvertrags, wurde der Welt die vollständige Abrüstung sämtlicher Atomwaffen versprochen. Mit dem Nuclear Posture Review ist der Sperrvertrag das Papier nicht mehr Wert. So war das damals nicht gemeint!

Auch die Modernisierung der abgerüsteten Atomwaffen – allein die Kombination ist ja absurd: entweder ich modernisiere oder ich rüste ab – also: auch die Modernisierung oder die Entwicklung neuer Waffen mit „neuen Fähigkeiten“ ist vorgedacht. „Neue Fähigkeiten“ für „eine breite Bandbreite von möglichen Zielen“.

Bunkerbrechende „Mini-Nukes“ zum Beispiel erweitern das Einsatzspektrum deutlich: Sie ermöglichen die „Dominanz der USA über das volle Konfliktspektrum“.[2] Stellen wir uns doch folgendes Szenario vor:

Die USA entwickeln „kleine Atomwaffen für tief verbunkerte Ziele“. Diese werden durch moderne Satellitentechnologie hochpräzise gesteuert und in einem Überraschungsangriff auf gehärtete Raketensilos eines Feindes gelenkt. Dort explodieren sie und zerstören die Waffen des Gegners. Einige mobil stationierte Raketen entkommen dem „Enthauptungsschlag“ und werden zur Vergeltung losgeschickt. Das hervorragende Aufklärungssystem der USA mit zahlreichen Frühwarnsatelliten meldet die Gefahr, die Raketenabwehr wird gestartet, fängt die anfliegenden Sprengköpfe ab. Unterdessen zerstören konventionelle Cruise Missiles und von Drohnen freigesetzte Bomben die wichtigsten Militäreinrichtungen des Feindes. Mini-Nukes ermöglichen auch die Lahmlegung verbunkerter Kommandoeinsatzzentralen. Binnen kürzester Zeit ist der Gegner entwaffnet, die USA bestätigen die „Dominanz“ auf dem Schlachtfeld.

Absurd? Science Fiction? Heute schon, aber in zehn Jahren kann das ganz anders sein. Mit der Entwicklung neuer Atomwaffen wurde bereits bgonnen. Die Wiederaufnahme von Atomwaffentests zu diesem Zweck ist nur noch eine Frage der Zeit – ganz so, wie es die nuklearen Falken wollen. Erfolgreiche Raketenabwehrtests werden bejubelt. Und Präzisionswaffen auch größter Sprengkraft sind in Afghanistan seit Monaten im Einsatz.

Ist das genug? Ja, aber noch nicht alles.

Selbst vor der Weltraumrüstung macht das US-Militär nicht Halt. Der Space-Based Laser, eine Laserkampfstation im All, ist in Entwicklung und wird aus dem Raketenabwehrbudget finanziert. In den bunten Broschüren des US-Weltraumkommandos allerdings ist der Strahl des Kampflasers in den Weltraum gerichtet – die Ausschaltung von gegnerischen Satelliten ist das Ziel.

Schöne neue Welt! Die USA beherrschen den Globus – oh nein, das ist keine Erfindung von mir. (Und schon gar nicht Beweis für meinen Anti-Amerikanismus!) „Dominanz über das volle Konfliktspektrum“, „Dominanz des Weltraums zur Kontrolle der Erde“, „Informationsüberlegenheit“, „freedom of action“, „Umsetzung der strategischen und politischen Ziele“ – das ist die Sprache der Atom- und Weltraumkrieger.

Wir sollten aber nicht glauben, daß die anderen Länder abwarten, bis es so weit ist. Die Pläne der USA führen zu einer weltweiten Rüstungsspirale – mit konventionellen Waffen, mit Flugzeugen und Flugzeugträgern, mit U-Booten und Cruise Missiles, mit Raketen und Raketenabwehrsystemen, mit Atom- und mit Weltraumwaffen.

Es scheint also, daß es stimmt: Die Doomsday Clock steht auf sieben vor zwölf. Wir aber, wir, die Friedensbewegung in Deutschland und in Europa, in Amerika und in Asien, in Stuttgart und in der Welt, wir wollen uns damit nicht abfinden! Wir wollen nicht zusehen, wie die Welt in Stücke geschossen wird – wir wollen Abrüstung.
  • Wir fordern, daß Atomwaffen und Raketen abgerüstet statt abgewehrt werden!
  • Wir fordern den sofortigen Abzug sämtlicher Atomwaffen von deutschem Boden.
  • Wir fordern einen sofortigen Stopp von Raketen- und von Raketenabwehrtests, und zwar weltweit.
  • Wir fordern ein Abkommen zur Abrüstung von Raketen!
  • Wir fordern das Verbot von Weltraumwaffen. Noch gibt es keine, stellen wir sicher, daß das auch so bleibt.
Bringen wir sie zu Gehör, unsere Forderungen, heute beim Ostermarsch und in den nächsten Monaten im Wahlkampf. Und sie sollten uns unterstützen – dieses Thema geht uns alle an.

Fußnoten
  1. 1995 um 3 Minuten, weil die nukleare Abrüstung keine Fortschritte erzielte und die Nuklearanlagen der ehemaligen Sowjetunion zu schlecht gesichert waren. 1998 um 5 Minuten, weil Indien und Pakistan Atomwaffen testeten und die USA und Rußland sich nicht über deutliche Abrüstungsmaßnahmen einigen konnten.
  2. Dieser Ausdruck stammt vom Generalstab der US-Streitkräfte und steht in Joint Vision 2010. Der englische Ausdruck lautet „Full Spectrum Dominance“.


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