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Aufstand der Empörten

Jahresrückblick 2011. Heute: Die "Occupy"-Bewegung. Die Revolten in Nordafrika fanden ihr Echo in Europa und den USA

Von André Scheer *

Am 15. Mai griff der »arabische Frühling« auf Europa über. Für diesen Tag, eine Woche vor den Kommunalwahlen in Spanien, hatte die Vereinigung »Democracia Real Ya« (Wirkliche Demokratie Jetzt) vor allem über das Internet zu Protesten unter der Losung »Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern« aufgerufen. Von dem Echo auf diesen Aufruf waren auch die Veranstalter überrascht: landesweit gingen Schätzungen zufolge mehr als 130000 Menschen auf die Straße, so in Madrid, Barcelona, Murcia, Sevilla und vielen anderen Städten. Allein in der spanischen Hauptstadt waren es Polizeiangaben zufolge mehr als 20000 Menschen, die sich an der zentralen Puerta del Sol versammelten.

Die »Indignados«

War der Erfolg dieser Demonstrationen schon überraschend, so überrumpelte die herrschende Klasse Spaniens erst recht, was danach passierte. Rund 200 Menschen in Madrid entschieden, den Kundgebungsplatz nach Ende der Veranstaltung nicht zu verlassen und errichteten ein spontanes Camp am »Sonnentor«. Die Behörden gedachten, den Spuk schnell zu beenden: In den frühen Stunden des folgenden Morgens rückten Sondereinheiten der Nationalpolizei an und räumten den Platz. Gegen das gewaltsame Vorgehen der Beamten protestierten umgehend Tausende Menschen in Madrid und bauten das gerade zerstörte Zeltlager wieder auf. Zugleich griff eine Welle des Protests auf Barcelona und andere Städte über. Auch dort entstanden Camps. Dabei konnten die Aktivisten auf Unterstützung aus Nordafrika zählen, wie die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni gegenüber junge Welt berichtete. So hätten sie selbst und andere Internetpublizisten die Empörten in Spanien unterstützt und seien auch selbst auf den Plätzen dort gewesen. »Das Internet kennt keine Grenzen«, so die zwischenzeitlich als Kandidatin für den Friedensnobelpreis gehandelte Lina Ben Mhenni.

Die spanischen Behörden pochten auf die Gesetze: Vor Wahlen herrscht in Spanien ein generelles Verbot politischer Kundgebungen, um Raum zum »Nachdenken« über die persönliche Wahlentscheidung zu schaffen. Die Zentrale Wahlkommission in Madrid erklärte, das Camp an der Puerta del Sol sei eine »Behinderung der Abstimmung«, und lieferte der Polizei damit den willkommenen Vorwand für Räumung und Demonstrationsverbote. Hier und in anderen Städten wie Sevilla, Granada und anderswo wurden geplante Kundgebungen untersagt und Camps zerstört. Die Bewegung, die in Anlehnung an das Buch des französischen Resistance-Kämpfers Stéphane Hessel, »Empört Euch«, bereits »Die Empörten« (Los Indignados) genannt wurde, trotzte auch diesen Schwierigkeiten. So wurde in Madrid für den Samstag vor den Wahlen zwar nicht zu einer Demonstra­tion aufgerufen, niemandem könne aber verwehrt werden, »kollektiv nachzudenken«. Und so versammelten sich trotz des Verbots erneut Zehntausende Menschen auf dem Platz, der das Zentrum Spaniens symbolisiert.

Die Hoffnung der Regierenden, daß die spontane Bewegung nach den Wahlen abflauen würde, erfüllte sich nicht. Spanienweit entstanden weitere Camps, während die Teilnehmerzahlen in den bereits existierenden »Acampadas« anwuchsen. Nicht nur Studenten oder Jugendliche bevölkerten die zentralen Plätze der Städte, sondern auch ältere Erwerbslose, Hausfrauen oder Rentner, die sich als Opfer der Wirtschaftskrise begriffen, die Spanien fest im Griff hielt. Daran änderten auch Übergriffe der Polizei nichts, die etwa am 27. Mai mit brutaler Gewalt die Plaça Catalunya im Zentrum von Barcelona räumte, damit der Platz gereinigt werden könnte, oder Anfang August, als der bevorstehende Besuch des Papstes den Behörden in Madrid als Grund für Übergriffe auf die Demonstranten diente.

Solche Attacken stärkten eher die Sympathie für die Empörten in Spanien – und über die Grenzen des Landes hinaus. In Athen entstand auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament ein wochenlang bestehendes Camp, während ähnliche Versuche etwa in Paris von der französischen Polizei mit äußerster Härte aufgelöst wurden. In Deutschland blieben Ansätze zu ähnlichen Aktionen, die vor allem von hier lebenden Spaniern getragen wurden, zunächst weitgehend ohne Echo.

Gegen Zwangsräumungen

Während sich die internationalen Medien auf das Phänomen der Camps stürzten, arbeiteten die Teilnehmer dieser Protest­aktionen an Themen, die weit über das Aufrechterhalten und Organisieren ihrer Zeltlager hinausreichten. So gelang es den spanischen »Empörten« über Monate hinweg, auch nachdem die Camps nach und nach wieder verschwanden, ihre Bewegung fortzusetzen. Hatte es sich ursprünglich um einen Protest gegen das ungerechte spanische Wahlrecht, das die beiden großen Parteien bevorzugt, gehandelt, dehnten sich die Ziele der Aktionen jetzt auf soziale Themen aus. So solidarisierten sich die »Empörten« mit den Opfern von Zwangsräumungen. Tausende Menschen sind in Spanien in den vergangenen Monaten aus ihren Wohnungen vertrieben worden, nachdem sie die Raten für Bankhypotheken nicht mehr bezahlen konnten. Mit dem Verlust ihrer Wohnung sind sie ihre Schulden jedoch meist noch nicht los, denn was nach der Zwangsversteigerung an Differenz zum ursprünglichen Kredit und den angefallenen Zinsen übrigbleibt, versuchen die Banken weiter von den Schuldnern einzutreiben. Parlamentarische Initiativen etwa der Vereinigten Linken (IU) zum Schutz der betroffenen Familien scheiterten wiederholt an der Ablehnung durch die sozialdemokratische PSOE und die rechte PP. Zugleich griffen die Regionalregierungen als Antwort auf die Krise zu massiven Einschnitten bei den Sozialausgaben und schlossen beispielsweise örtliche Gesundheitszentren, die wichtig für die medizinische Erstversorgung bei Notfällen sind. Mehrfach besetzten daraufhin die Beschäftigten diese Einrichtungen und hielten den Betrieb mit Unterstützung der Empörten aufrecht.

Internationale Bewegung

Im Herbst schaffte die Bewegung unter anderem Namen dann den Sprung über den Ozean und griff auf die Vereinigten Staaten über. Am 17. September folgten rund 1000 Menschen einem im Internet verbreiteten Aufruf, das Bankenviertel von New York zu besetzen: »Occupy Wall Street!« Mit Zelten und Planen errichteten sie ein Protestcamp im Zuccotti Park von Lower Manhattan, zunächst toleriert von der Polizei. Auch in den USA griff die Bewegung nahezu sofort auf andere Städte über, überschritt die Grenzen auf andere Kontinente und kehrte so auch nach Europa zurück. Deutschland erreichte die »Occupy«-Bewegung am 15. Oktober, als bundesweit rund 40000 Menschen gegen die Macht der Banken auf die Straße gingen. Frankfurt wurde das Zentrum dieser Bewegung, hier entstand das wichtigste Camp in der Bundesrepublik. Allerdings konnten die Aktivisten oft nicht den Eindruck zerstreuen, daß die Protestcamps zu einem Selbstzweck wurden, die zudem von obskuren Gruppierungen mißbraucht wurden. Während etwa in Oakland an der US-Westküste Anfang November die »Occupy«-Bewegung gemeinsam mit den Gewerkschaften mit einem Generalstreik auf das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen das örtliche Camp reagierte, waren bei den Aktionen in Deutschland zunächst sogar Fahnen und Symbole der Gewerkschaften verpönt. Bislang ist es »Occupy Germany« im Gegensatz zu den spanischen oder griechischen Empörten, der US-»Occupy«-Bewegung oder etwa den chilenischen Studierenden kaum gelungen, tatsächlich zu einer Stimme des sozialen Protestes zu werden.

* Aus: junge Welt, 29. Dezember 2011


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