Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik

Eine neue Regierung - eine neue Politik?

Würdigung und Kritik des außenpolitischen Teils der Koalitionsvereinbarungen

Der Regierungswechsel in Bonn hat in Kreisen der Friedensbewegung zwar ungeteilte Zustimmung, aber keineswegs überschäumende Freudenstürme ausgelöst. Dazu waren schon während des Wahlkampfs von SPD und Bündnis 90/Die Grünen außen- und sicherheitspolitische Positionsbestimmungen vorgenommen worden, die eine zunehmende Distanz zur Friedensbewegung erkennen ließen. Im Zentrum stand dabei die Frage nach der Legitimität und Zweckmäßigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die Ereignisse im Kosovo bildeten den Hintergrund, vor dem die Weigerung, Kampfeinsätzen zuzustimmen, mit der Verweigerung jeglicher humanitären Hilfe gleichgesetzt wurde. Während die SPD schon seit zwei Jahren ihre programmatischen Positionen mehr und mehr CDU-kompatibel machte, überraschten die Grünen mit einer neuen wahlstrategischen Variante: Ihr mehrheitlich beschlossenes Wahlprogramm, das noch pazifistischen Geist atmete, wurde in eine koalitionskonforme Kurzfassung transformiert, in der dieser Geist nur noch in Spurenelementen vorkommt.

Dies ließ ebenso wenig Gutes erwarten wie das weitgehende Ausblenden außen- und sicherheitspolitischer Themen aus dem Wahlkampf selbst. Gewiss: Die Friedensbewegung war mit einem beachtlichen Forderungskatalog in die Wahlauseinandersetzung hinein gegangen und konnte hier und da die Kandidatinnen und Kanditaten in öffentliche Diskussionen verwickeln. Der vierte Friedenspolitische Ratschlag im Dezember 1997, der sehr frühzeitig eine Art Wahlplattform herausgebracht hatte, war hierfür genauso hilfreich wie der vielbeachtete Internationale Friedenskongress in Osnabrück im Mai 1998 oder die bundesweite Veranstaltungskampagne von medico international zum vollständigen Verbot aller Landminen oder die an Hunderten von Orten durchgeführten Aktionen und Veranstaltungen zum Anti-Kriegs-Tag am 1. September. Auch um die Kluft zwischen dem friedenspolitischen SOLL und dem sicherheitspolitischen IST deutlich zu machen, soll noch einmal an die wichtigsten Forderungen der Friedensbewegung des vergangenen Jahres erinnert werden. Ihr ging es u.a. darum,

  • den von der CDU-FDP-Regierung beschlossenen Bau des Eurofighter 2000 zu stoppen, die in Calw ausgebildete Elitekampftruppe "Kommando Spezialkräfte" aufzulösen,
  • die Verteidigungsausgaben spürbar und dauerhaft zu senken (mindestens um 5 Prozent jährlich),
  • Waffenexporte zu verbieten und Militärhilfe an Staaten wie die Türkei einzustellen,
  • einen deutschen Beitrag zur weltweiten Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen zu leisten (z.B. sich aktiv für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa einzusetzen),
  • die Osterweiterung, aber auch jegliche weitere Ausdehnung der NATO zu stoppen und stattdessen zivile überstaatliche Strukturen (OSZE, Vereinte Nationen) zu stärken,
  • den Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee zu stoppen und rückgängig zu machen und als ersten Schritt die Krisenreaktionskräfte abzubauen,
  • die Bundeswehr personell und ausrüstungsmäßig drastisch zu verkleinern,
  • einen freiwilligen zivilen Friedensdienst als bewusste Alternative zum Kriegsdienst aufzubauen.

Trotzdem: Es war der Friedensbewegung nicht gelungen, ihre Anliegen und Themen in den Wahlkampf so einzubringen, dass sie spürbare öffentliche Resonanz gefunden hätten. Die öffentliche Diskussion war ganz überwiegend von sozialen und wirtschaftspolitischen Themen beherrscht. Ausschlaggebend für die erdrutschartige Wahlniederlage der konservativen Langzeitregierung war das verloren gegangene Vertrauen der Wähler in deren Fähigkeit, Massenarbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen. Umgekehrt konnten sich die Oppositionsparteien, insbesondere die SPD, als sachkundigere Anwälte der Interessen der lohnabhängigen und erwerbslosen Bevölkerung darstellen. Alle anderen Themen, von der Ökologie bis zum Frieden, spielten keine Rolle.

Daher wäre es auch verkehrt, das Wahlergebnis nun als eine Art Plebiszit für oder gegen eine bestimmte friedenspolitische Konzeption aufzufassen. Der Eurofighter z.B. war im Wahlkampf kein Thema. Dies gibt der neuen Bundesregierung aber noch lange nicht das Recht, an diesem teuersten deutschen Rüstungsprojekt aller Zeiten festzuhalten. Denn die einhellige Ablehnung, auf die der Eurofighter noch im Herbst 1997 in der Bevölkerung gestoßen war, dürfte sich in der Zwischenzeit kaum in ein Mandat für den Eurofighter gewandelt haben. Abgesehen davon geht es auch um die politische Glaubwürdigkeit von SPD und Grünen,

  • die noch vor einem Jahr mit großer Einmütigkeit den Eurofighter abgelehnt haben,
  • die vor nicht so langer Zeit Auslandseinsätze der Bundeswehr strikt von einem eindeutigen Beschluss des UNO-Sicherheitsrats abhängig machen wollten,
  • die sich lange Zeit gegen die Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee gewandt haben (zu erinnern ist an den schönen Begriff von der "strukturellen Nichtangriffsfähigkeit"), und
  • die einer personellen Verkleinerung der Bundeswehr das Wort geredet haben.

So gesehen stehen wir nach den Wahlen nicht am Ende, sondern gerade erst am Anfang der Auseinandersetzung um eine Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir beginnen diese Diskussion mit einer kritischen Würdigung der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.

Prävention: Ein neues Leitbild oder Lippenbekenntnis?

"Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik."

Mit diesem großen Wort beginnt Kapitel XI der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen (im Folgenden: KV) und weckt entsprechend hohe Erwartungen. Dies auch deshalb, weil in der Einleitung zu diesem Kapitel eine Standortbestimmung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik vorgenommen wird, in der eine Reihe zentraler Begriffe aus dem Vokabular der Friedensforschung verwendet werden und die in ihrem Charakter und Duktus von political correctness nur so strotzt. Es heißt dort:

"Angesichts der neuen ökonomischen, technologischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen wird sie (die neue Bundesregierung, d. Verf.) ihre Außen- und Sicherheitspolitik als Beitrag zur globalen Zukunftssicherung entwickeln. Sie wird sich mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung bemühen. Sie wird sich dabei von der Verpflichtung zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, zu einem ökonomischen, ökologischen und sozial gerechten Interessenausgleich der Weltregionen und zur weltweiten Einhaltung der Menschenrechte leiten lassen."

An mindestens drei weiteren Stellen taucht in unterschiedlichen Zusammenhängen der Begriff der "Krisen"- oder "Konfliktprävention" auf. Dadurch entsteht der Eindruck, als wollte die rot/grüne Bundesregierung ein neues Leitbild für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kreieren. Dieses Leitbild stammt ganz offenkundig nicht aus dem Arsenal der Vorgängerregierung und ihres Verteidigungsministers, sondern aus dem Vokabular und der Philosophie ziviler Unterorganisationen der Vereinten Nationen, des Mainstreams der Friedens- und Konfliktforschung sowie der internationalen Friedensbewegung. Insoweit verdient die KV auch unsere volle Zustimmung. Nicht nur die übrigen Festlegungen der KV, auch die Politik der neuen Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob hier tatsächlich ein Vorrang der nichtmilitärischen Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung für deutsche Außenpolitik formuliert wurde, oder ob es sich lediglich um wohlfeile Lippenbekenntnisse handelt.

Positiver Ansatz: Stärkung der OSZE

Mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE, vormals KSZE) wurde Mitte der 90er Jahre eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur geschaffen, die einzigartig in der Welt ist: Zum ersten Mal existiert neben den Vereinten Nationen eine regionale Staatengemeinschaft, die – ausgehend von den Prinzipien der Demokratie, der Menschenrechte und der territorialen Souveränität der Mitgliedstaaten – den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die "Verhütung immer noch möglicher Konflikte durch politische Mittel" sowie auf die "friedliche Beilegung eventueller Streitfälle" setzt (vgl. die KSZE-Charta von Paris, November 1990). Die OSZE ist ein "kollektives Sicherheitsbündnis", weil in ihr alle Staaten, also auch potentielle Gegner, Mitglied sind. Dies macht sie für den gesamteuropäischen Integrations- und Friedensprozess, wie es in der KV heißt, "unersetzlich". Das Problem der OSZE besteht allerdings bisher darin, dass ihre Ausstattung mit Personal, Finanzen und politischer Macht beschämend gering ist. Die neue Bundesregierung will "Initiativen ergreifen", um die "Instrumente und Kompetenzen" der OSZE zur friedlichen Streitschlichtung "durch bessere personelle und finanzielle Ausstattung zu stärken und ihre Handlungsfähigkeit auf dem Feld der Konfliktprävention und Konfliktregelung zu verbessern."

Friedensforschung

Des weiteren sprechen sich Rot-Grün für die Entwicklung eines "Instruments nicht-militärischer internationaler Polizeieinsätze" ein, die - "im Rahmen der Friedenskonsolidierung" - "zur Schaffung einer stabilen Ordnung" genutzt werden sollten. In diesem Zusammenhang kommt auch der "Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen" (NRO) eine "besondere Bedeutung" zu. Der "Aufbau einer Infrastruktur zur Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung" gehört ebenso hierzu wie die "finanzielle Förderung der Friedens- und Konfliktforschung", die "Vernetzung bestehender Initiativen" sowie "die Verbesserung der juristischen, finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen für die Ausbildung und den Einsatz von Friedenfachkräften und –diensten (z.B. ziviler Friedensdienst)."

Hier werden in der Tat neue Akzente gesetzt. Die finanzielle Förderung der Friedensforschungsinstitute war 1996 von der alten Bundesregierung ganz eingestellt worden, was zu erheblichen Problemen in deren wissenschaftlicher Arbeit geführt hat. Eine Wiederaufnahme der Förderung ist genauso zu begrüßen wie die Unterstützung eines zivilen Friedensdienstes durch den Bund – bisher hat sich erst die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen an einem Projekt zur Ausbildung von zivilen Friedensdienstleistenden beteiligt.

Worüber sich die KV aber völlig ausschweigt, ist der angedachte finanzielle Rahmen, in dem eine solche Förderung stattfinden soll. Mit symbolischen Gesten oder moralischer Unterstützung ist es ja nicht getan. Auch die "bessere personelle und finanzielle Ausstattung" der OSZE ist nicht konkretisiert. Hier muss nachgehakt werden. Die Devise kann nur lauten: "Klotzen, nicht kleckern!", denn mit der Stärkung der OSZE, der Strukturen ziviler Konfliktprävention und ihrer wissenschaftlichen Begleitung werden Grundlagen zur Zivilisierung der Außenpolitik und zur Delegitimierung des Militärs gelegt.

 

 

Wie gehabt: NATO und WEU

Militarisierung der EU?

Aber auch in der Sache werden die hehren Grundsätze über eine OSZE-vermittelte europäische Sicherheitspartnerschaft zum Teil wieder entwertet. So wenn im Abschnitt über die "Europäische Außen- und Sicherheitspolitik" einer Weiterentwicklung der WEU (Westeuropäische Union) – jenes schlummernden Militärbündnisses, dem offenbar künftig die Rolle eines militärischen Arms der EU zufallen soll – und der Durchsetzung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU das Wort geredet wird. Die neue Bundesregierung will sich "für Mehrheitsentscheidungen, mehr außenpolitische Zuständigkeiten und die Verstärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität einsetzen." In den "Mehrheitsentscheidungen" liegt der Hase im Pfeffer: Europäische Politik beruhte bisher immer auf dem Konsensprinzip, d.h. Entscheidungen sollten nicht gegen den Willen auch nur eines EU-Mitglieds getroffen werden. Ein solcher Zwang zur Einigung garantierte bisher, dass nicht gegen die Interessen einzelner Mitglieder gehandelt werden konnte - ein Prinzip, das gerade für die Außenpolitik gültig bleiben müsste. Mehrheitsentscheidungen könnten dazu beitragen, das Gewicht einiger führender Staaten in der EU (man denke z.B. an den von der CDU ins Spiel gebrachten Begriff vom "Kerneuropa") zu erhöhen und andere Staaten zu marginalisieren. Die von Rot/Grün intendierte Außerkraftsetzung dieses Prinzips könnte auch bedeuten, dass es in nicht allzuferner Zukunft zu militärisch wirksamen Mehrheitsentscheidungen bestimmter Staatenkonstellationen in der EU kommen könnte (z.B. Kampfeinsätze der WEU). Nicht "mehr Vergemeinschaftung" der EU wäre die Folge, sondern das genaue Gegenteil: Eine GASP, die nicht mehr auf dem Konsensprinzip, sondern auf dem Mehrheitsprinzip beruhte, trüge bereits den Keim zum Auseinanderbrechen der EU in sich. (Von anderen Problemen, etwa dem der Allianzfreiheit und der Neutralität einiger Staaten der EU, die in eine neue "Verteidigungsidentität" hineingezwungen würden, soll hier nicht gesprochen werden.)

In solchen Vorschlägen sehen wir eine gefährliche Tendenz zur Militarisierung der Europäischen Union. Daran ändert auch nichts die Formulierung in der KV, wonach die GASP "in ihrer weiteren Entwicklung verstärkt dazu genutzt werden (soll), die Fähigkeit der EU zur zivilen Konfliktprävention und friedlichen Konfliktregelung zu steigern." Wenn es wirklich nur darum ginge, bräuchte man weder das Mehrheitsprinzip bei der GASP noch eine Revitalisierung der WEU!

"Atlantische Partnerschaft"

Die "atlantische Partnerschaft" gilt auch für die neue Bundesregierung als conditio sine qua non deutscher und europäischer Außenpolitik. Das "atlantische Bündnis", das heißt die NATO, ist ein "unverzichtbares Instrument für die Stabilität und Sicherheit Europas sowie für den Aufbau einer dauerhaften europäischen Friedensordnung", heißt es in der KV. Daraus leitet sich zuallererst die dauerhafte Militärpräsenz der USA in Europa und Deutschland ab. Gleichzeitig wird die "Partnerschaft mit Russland" beschworen und die "Zusammenarbeit mit der Ukraine und den übrigen Teilnehmern der Partnerschaft für den Frieden soll ausgebaut werden". Die Hervorhebung der Ukraine (im Abschnitt über "Gute Nachbarschaft und historische Verantwortung" wird ebenfalls die Ukraine gesondert genannt) macht stutzig. Soll hier eine neue Achse geschmiedet werden? Soll die Ukraine als Vorposten gegen Russland ausgebaut werden? Warum sind die deutsch-ukrainischen Beziehungen von besonderer Bedeutung? Eine Antwort auf diese Fragen wird nicht gegeben.

Dafür wird uns gesagt, warum die USA für Deutschland "der wichtigste außereuropäische Partner" sind: "Die enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen." Bei den "gemeinsamen Werten" mag man, wenn man es gut meint, an Demokratie, Freiheit und materiellen Wohlstand denken und kritische Fragen nach dem Realisierungsgrad dieser Werte hintanstellen. "Gemeinsame Interessen" dagegen sind schwerer auszumachen. Überall in der Welt vertreten die USA als einzige Weltmacht doch ausschließlich ihre eigenen Interessen (bzw. was sie dafür halten), die nicht unbedingt mit denen Deutschlands oder der Europäischen Union übereinstimmen müssen. Der von den USA angeführte Krieg der Alliierten gegen den Irak 1991 und das außerordentlich starke Engagement der USA im Nahen Osten seither ist nur ein Beispiel für die Rivalität zwischen den USA und Europa, ging es doch hier weniger um die Befreiung Kuwaits als um die Kontrolle arabischer Ölquellen. In anderen Fällen wie z.B. in Zentralasien geht es um die Öl- und Gasvorräte des Kaspischen Meeres und deren Transport ans Mittelmeer und nach Süd- und Ostasien. Auch hier ist die Situation eher durch Konkurrenz zwischen US-amerikanischen und europäischen Firmen geprägt.

NATO "jenseits der Bündnisverteidigung"

Wichtigstes Instrument der "atlantischen Partnerschaft" ist natürlich die NATO. Dies soll nach dem Willen der Koalition auch so bleiben. Im Rahmen der 1999 anstehenden NATO-Reform will die neue Bundesregierung "darauf hinwirken, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverteidigung an die Normen und Standards von VN und OSZE zu binden." Das klingt harmloser als es ist. Soweit es nämlich um die eigentlichen Aufgaben des reinen Verteidigungsbündnisses NATO geht (nach Artikel 5 des NATO-Vertrags leisten sich die Vertragsstaaten im Falle eines Angriffs Dritter Beistand), sind auch ihre militärischen Verteidigungsvorkehrungen von der Charta der Vereinten Nationen gedeckt (Selbstverteidigungsrecht der Staaten gemäß Art. 51 der Charta der VN). Aufgaben der NATO an Normen der VN zu binden, macht also nur Sinn, wenn sie "jenseits der Bündnisverteidigung" liegen, d.h. es geht um Militäreinsätze, die vom NATO-Vertrag nicht gedeckt sind, Militäreinsätze "out of area". Im Klartext heißt das:

  • Die neue Bundesregierung wirft alle ihre in bisherigen Partei- und Wahlprogrammen formulierten Absagen an "Out-of-area-Kampfeinsätze" über Bord.
  • Die Bindung an "Normen und Standards" der VN bzw. der OSZE ist eine Beruhigungspille an jene, die NATO-Kampfeinsätze nur auf der Grundlage eindeutiger Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats befürworten. Doch selbst ihnen ist mit der vorliegenden Formulierung nicht Genüge getan, denn hier ist nur von der Bindung an "Normen und Standards" (wer setzt sie, wer definiert sie?) die Rede und nicht, was eindeutiger wäre, von der Bindung an "Beschlüsse" der Vereinten Nationen.

Schröder und Fischer wurden während des Wahlkampfs und nach dem Wahlsieg für Rot-Grün nicht müde, die "Kontinuität" und "Zuverläsigkeit" in der Außen- und Sicherheitspolitik zu betonen. Dieses Versprechen wurde praktisch eingelöst mit dem Kosovo-Einsatzbeschluss – dem kein Mandat des UN-Sicherheitsrats zugrundeliegt - und politisch-ideologisch untermauert in der KV. Damit beteiligt sich auch die neue Bundesregierung an der Aushebelung des Völkerrechts und an der Unterminierung der Autorität der Vereinten Nationen. Der beschrittene Weg führt zurück in eine Zeit, in der das Faustrecht die internationalen Beziehungen beherrschte.

Deutschland und die Vereinten Nationen: Licht und Schatten

Im Abschnitt über die Vereinten Nationen liest sich das zunächst etwas anders. Dort werden die Vereinten Nationen zur "wichtigsten Ebene zur Lösung globaler Probleme" erklärt. Sie "politisch und finanziell zu stärken", sie "zu reformieren und zu einer "handlungsfähigen Instanz für die Lösung internationaler Probleme auszubauen", zählt zu den "besonderen Aufgaben" der Bundesregierung. Für die Durchführung von "Missionen mit dem Ziel, den Frieden zu sichern" werden den Vereinten Nationen "eigenständige Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen (peacekeeping) als ‚stand by forces‘ angeboten." Friedenserhaltende Maßnahmen werden nach Kapitel VI der Charta der Vereinten Nationen durchgeführt; in diesem Kapitel werden ausschließlich nicht-militärische Maßnahmen genannt (Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedspruch usw., Art. 33). Hierfür können auch "Blauhelme" herangezogen werden, die zwar in der Charta nicht vorgesehen waren, sich aber in der über 50-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen als nützliches Instrument beispielsweise zur Beobachtung und Sicherung von Demarkationslinien oder prekären Grenzen erwiesen haben (z.B. Cypern). Bei der Zusammensetzung von Blauhelmeinheiten muss darauf geachtet werden, dass die beteiligten Streitkräfte und die sie entsendenden Regierungen keine eigenen Interessen in dem Konflikt verfolgen. In der Regel kamen bisher Blauhelme vornehmlich aus kleineren blockfreien Staaten. Staaten, die einem Militärbündnis angehören und Großmächte, die ihre Interessen weltweit verfolgen, sollten sich aus diesem Grund an Blauhelmeinsätzen nur in Ausnahmefällen beteiligen. Aus diesem Grund halten wir das Angebot in der KV, den Vereinten Nationen Bundeswehreinheiten als "stand by forces" zur Verfügung zu stellen, für falsch.

"Stand by forces" sind nach der Charta der VN eigentlich nur für militärische Sanktionsmaßnahmen nach Kapitel VII vorgesehen. So heißt es in Art. 45: "Um die Vereinten Nationen zur Durchführung dringender militärischer Maßnahmen zu befähigen, halten Mitglieder der Organisation Kontingente ihrer Luftstreitkräfte zum sofortigen Einsatz bei gemeinsamen internationalen Zwangsmaßnahmen bereit." Auch soll ein "Generalstabsausschuss" eingesetzt werden, der die "strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte" innehaben soll (Art. 47). Ein solcher Generalstabsausschuss ist noch nie zustande gekommen – obwohl der UN-Sicherheitsrat Kampfeinsätze angeordnet hat (Irak, Somalia). Die US-Regierung hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie ihre Streitkräfte unter keinen Umständen einem VN-Oberkommando unterstellen würde. Die neue Bundesregierung scheint dieser Linie zu folgen. Zwar wird in der KV davon gesprochen, dass die Koalition "das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen .. bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen .. stärken" wolle, doch von einer Bereitstellung von "stand by forces" zu diesem Zweck ist nicht die Rede. "Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden", heißt es in der KV. Papier ist geduldig. Zur gleichen Zeit, als die Koalitionäre ihr Regierungsprogramm verfassten, verstießen sie bei ihrer Zustimmung zum Kosovo-Einsatz gegen beides.

Reform der UNO oder Sitz im Sicherheitsrat

Enttäuschend fallen auch die Vorstellungen über eine Reform der UNO aus. Jahrelang ging Außenminister Kinkel mit der Idee hausieren, dass doch das wirtschaftlich starke und territorial größer gewordene Deutschland nun auch einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat beanspruchen könne. Er stieß weitgehend auf taube Ohren. Vor allem in der Dritten Welt vermag man nicht einzusehen, warum dem exklusiven Klub der Großmächte ein weiterer Staat aus dem Kreis der hochentwickelten Industrienationen beitreten sollte, während bevölkerungsreiche Staaten wie Indien oder ganze Kontinente wie Afrika weiterhin außen vor bleiben sollen. Reserven gibt es aber auch bei manchen Verbündeten, die ein stärkeres weltpolitisches Gewicht Deutschlands schon allein aus Konkurrenzgründen für nicht wünschenswert halten. Die neue Bundesregierung weiß um solche Verbehalte und schlägt einen anderen Weg ein: Eine "Reform des Sicherheitsrats" solle eine "größere regionale Ausgewogenheit" herstellen und dabei einen "europäischen Sitz im Sicherheitsrat" garantieren (gemeint ist vermutlich ein Sitz für die EU). Unklar bleibt, ob dann Frankreich und Großbritannien auf ihren Sitz im Sicherheitsrat verzichten sollten, was durchaus logisch wäre, den beiden Staaten aber nicht ohne weiteres zuzumuten, geschweige denn plausibel zu machen ist. Wenn eine solche Reform nicht erreicht werden kann, wird Deutschland "die Möglichkeit nutzen, ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu werden". Das verstehe, wer mag. Wenn die rot-grüne Bundesregierung eine ausgewogenere regionale Zusammensetzung des Sicherheitsrats tatsächlich will, eine diesbezügliche Initiative aber nicht erfolgreich ist, würde ein deutscher Sitz im Sicherheitsrat das alte Machtgefälle zugunsten des "Nordens" nur noch verstärken. Fischer landete dann - ob ihm das lieb ist oder nicht - in den Fußstapfen seines Vorgängers.

Zu kritisieren ist auch, dass der Reformvorschlag in der KV ausschließlich auf das oberste Gremium der Vereinten Nationen fixiert bleibt. Es geht um die Besetzung des Sicherheitsrats und um die Stärkung des Generalsekretärs. Dass die Vereinten Nationen auch eine Generalversammlung haben, die mit viel zu geringen Kompetenzen ausgestattet ist, und dass darüber hinaus zahlreiche Unterorganisationen der VN existieren, die sich ihre Akzeptanz, ihren Aktionsradius und ihre finanziellen Mittel häufig selbst erkämpfen müssen, ist ein mindestens ebenso großes Problem für die Zukunft der VN. Anstatt einen Sitz im Zentrum der UNO-Macht, im Sicherheitsrat, zu ergattern, sollte deutsche Politik eher auf eine Demokratisierung dieses Gremiums gerichtet sein (Stichworte: Aufwertung der Generalversammlung zum obersten Organ mit quasi legislativer Funktion, Wahl des Sicherheitsrats als einer Art Exekutivorgan, Installation eines rechtlichen Kontrollorgans usw.).

Sanktionen und Menschenrechte

Ein Punkt findet unsere Zustimmung: "Die neue Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass das Instrumentarium zur Durchsetzung von Wirtschaftssanktionen ausgebaut und durch einen Sanktionshilfefonds untermauert wird." Erfahrungen zeigen, dass Staaten geholfen werden muss, die unschuldig unter verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Dritte zu leiden haben. Zu ergänzen wäre dieser Punkt aus unserer Sicht noch um den Gedanken, Staaten mit wirtschaftlichen Positivanreizen zum "Pfad der Tugend" zurückzuführen. Solche Ausgaben könnten sich lohnen, wenn man die Verluste gegenrechnet, die im Fall einer nachträglichen militärischen Intervention entstehen.

Besondere Beachtung schenkt die KV der Menschenrechtspolitik. "Leitlinien" für die internationale Politik der Bundesregierung seien die "Achtung und Verwirklichung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten und in den Menschenrechtsverträgen festgeschriebenen Menschenrechte". "Die neue Bundesregierung wird sich auch hier mit Nachdruck um international abgestimmte Strategien zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen und ihrer Ursachen sowie ihrer Prävention bemühen." Sofern diese "abgestimmten Strategien" auf humanitäre, ausschließlich zivile Instrumente zurückgreifen und auf militärische Maßnahmen verzichten, halten wir einen solchen Ansatz für positiv. Unter keinen Umständen dürfen Menschenrechtsverletzungen zum Anlass für militärische Kampfeinsätze genommen werden.

Rüstung und Abrüstung: Business as usual

Atomwaffen abschaffen

Dass die neue Bundesregierung am "Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen" festhält und sich an Initiativen zur "Umsetzung dieses Ziels beteiligt", findet unsere volle Unterstützung. Dass hierbei "in bestimmten Situationen" auch "ein einseitiger Abrüstungsschritt" in Erwägung gezogen wird, halten wir für eine Selbstverständlichkeit (die bisher allerdings nicht selbstverständlich war), zumal die Bundesrepublik und die NATO an einseitigen Abrüstungsschritten noch erheblichen Nachholbedarf haben. Auch werden wir uns dafür einsetzen, dass sich diese Überlegung nicht nur auf Massenvernichtungswaffen bezieht, sondern dass künftig auch bei konventionellen Waffen "einseitig" abgerüstet werden darf.

Für erfreulich halten wir auch das Versprechen, dass sich die Bundesregierung für "die weitere Reduktion strategischer Atomwaffen" und "für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen" wird. Letzteres ist längst überfälltig! Wir geben aber zu bedenken, dass in Europa und in der Welt nicht nur strategische Atomwaffen lagern, sondern auch Raketen kürzerer Reichweite, deren Abrüstung mit ähnlichem Nachdruck zu fordern ist. Dies müsste auch die noch auf deutschem Boden lagernden US-Atomwaffen einschließen. Leider schweigt sich die KV darüber aus.

Wenig klar und konsequent ist auch die Forderung nach der "Schaffung atomwaffenfreier Zonen". Wo sollen sie entstehen? Auch bei uns, auch in Mitteleuropa? Ist die Bundesregierung auch bereit, auf eine nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO-Strukturen ein für allemal zu verzichten? Ist sie bereit, sich dafür einzusetzen, dass die Staaten der Welt eine Konvention zur weltweiten Ächtung und Abschaffung der Atomwaffen beschließen? Initiativen anderer Staaten - die sich auf einen Beschluss des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag von 1997 stützen - gibt es hierzu. Will die Bundesregierung diesen Initiativen beitreten? Es wäre kein unbedeutender Schritt zu einer Welt ohne Atomwaffen.

Friedensfaktor Bundeswehr

Halten sich beim Thema "Massenvernichtungswaffen" die positiven Ansätze und die kritischen Punkte noch in etwa die Waage, so gerät der Abschnitt über die konventionelle Rüstung bzw. Abrüstung (Abschnitt 9: "Bundeswehr/Rüstungsexporte") in ein überwiegend negatives und gefährliches Fahrwasser. Hier wird voll und ganz auf die Kontinuität der Politik der konservativen Vorgängerregierung gesetzt.

Dies beginnt mit der bekannten Lobpreisung der angeblich so segensreichen Funktion von Bundeswehr und NATO: "Die Bundeswehr dient der Stabilität und dem Frieden in Europa. Als fest in das atlantische Bündnis integrierte Armee ist sie im Sinne von Risikovorsorge weiterhin zur Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen." Wenn wir das wohlwollend in die Rubrik "Phraseologie" gestellt und daran erinnert haben, dass frühere Verteidigungsminister die NATO sogar schon einmal als die "größte Friedensbewegung" bezeichnet haben, können wir - immer noch wohlwollend - registrieren, dass in dieser Positionsbestimmung nur von "-Verteidigung" die Rede ist und nicht von Interventionsfähigkeit, von Krisenreaktionskräften und weltweiten Militäreinsätzen. Doch damit ist keineswegs gesagt, dass sich die neue Bundesregierung mit der alten Rolle der Bundeswehr als Armee zur Landesverteidigung zufrieden gibt.

Weiterrüsten bis zur Wehrstrukturkommission

Was also will die rot-grüne Koalition? Zunächst einmal soll der Verteidigungsminister eine "Wehrstrukturkommission" einberufen. Diese soll "auf der Grundlage einer aktualisierten Bedrohungsanalyse und eines erweiterten Sicherheitsbegriffs Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte überprüfen und Optionen einer zukünftigen Bundeswehrstruktur bis zur Mitte der Legislaturperiode vorlegen." Das klingt nach einer grundlegenden Revision der politisch-strategischen Vorgaben für die Bundeswehrführung, wie sie etwa in den berühmt-berüchtigten "Verteidigungspolitischen Richtlinien" vom November 1992 und im "Weißbuch 1994" formuliert worden waren. Die damalige Bedrohungsanalyse entsprach der NATO-Doktrin von den überall auf der Welt lauernden, vornehmlich wirtschaftlichen, sozialen und politischen Risiken "einschließlich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen sowie von Terror- und Sabotageakten." (Das neue Strategische Konzept der NATO vom 8. November 1991) Gegen solche globalen und allgegenwärtigen Gefahren wappnen sich die NATO-Partner seither mit der Umwandlung ihrer Streitkräfte in interventionsfähige, jederzeit einsetzbare und hochmodern ausgerüstete Armeen, vor allem mit dem Aufbau von "Krisenreaktionskräften" (rapid reaction forces). Auch wenn die KV solche Vokabeln vermeidet, in der Sache stellt sie sich ganz auf diesen Boden. Denn: "Vor Abschluss der Arbeit der Wehrstrukturreform werden unbeschadet des allgemeinen Haushaltsvorbehalts keine Sach- und Haushaltsentscheidungen getroffen, die die zu untersuchenden Bereiche wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen." Mit anderen Worten:

  • Die neue Bundesregierung hält fest am Aufbau der Krisenreaktionskräfte und der in Calw stationierten Elitekampftruppe "Kommando Spezialkräfte".
  • Alle von der Kohl-Rühe-Regierung geplanten wesentlichen Neubeschaffungen, darunter die beiden zentralen Projekte zur Ausstattung der Krisenreaktionskräfte, der Kampfhubschrauber Tiger und das Gepanzerte Transport-Fahrzeug (GTK), werden realisiert.
  • Am von der alten Regierung durchgesetzten Eurofighter 2000, gegen den im November 1997 noch fast alle Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt hatten, wird nicht gerüttelt. In den nächsten zwei Jahren können "fahrplanmäßig" weitere Verträge mit den daran beteiligten Industriekonzernen abgeschlossen werden.
  • Der Verteidigungsetat wird nicht, wie viele gehofft hatten, gesenkt, sondern ganz nach den Wünschen der abgewählten CDU-FDP-Regierung im kommenden Jahr sogar noch erhöht.

Und dass der Stabwechsel auf der Hardthöhe von Rühe zu Scharping kein Politikwechsel, sondern nur ein Austausch von Personen ist, die mehr oder minder zufällig verschiedenen Parteien angehören, zeigte sich wenige Tage nach der Vereidigung des neuen Kabinetts. Bei seinem ersten Truppenbesuch vor Offizieren des Zentrums Innere Führung in Koblenz am 9. November betonte Scharping, die Bundeswehr müsse "im Bündnis voll handlungsfähig" sein und sich auf eine "wachsende Teilnahme an internationalen Friedensmissionen" (das ist das Orwell’sche Wort für Kriegseinsätze) einstellen. Deshalb müsste die Vorbereitung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze ein "fester Bestandteil der Soldatenausbildung" werden. (zit. n. Frankfurter Rundschau, 10.11.98)

Geburtshilfe für einen Rüstungsgiganten

Auch einen industriepolitischen faux pas erster Güte mit eminenten rüstungspolitischen Folgen hat sich die Koalition in ihrer KV geleistet. Dort heißt es: "Die Koalition unterstützt aktiv die Bemühungen um den Zusammenschluss der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie." Hier soll also mit staatlicher Unterstützung (auch Subventionen?) ein europäischer Rüstungsgigant, bestehend aus dem britischen Konzern British Aerospace, dem französischen Staatskonzern Aérospatiale und dem deutschen Daimler-Unternehmen DASA, zusammengeschmiedet werden, der nicht nur den mächtigen amerikanischen Luft- und Raumfahrtkonkurrenten Paroli bieten kann, sondern der auch für eine wachsende Auslastung seiner riesigen Kapazitäten sorgen wird. Das aber heißt: Hier werden gesetzmäßig neue Begehrlichkeiten in Richtung weiterer großer Rüstungsaufträge geweckt. Welcher Politiker von Rot-Grün wird sie dann verweigern?

Rüstungsexporte

Lasch bis nichtsagend sind die Passagen über den Rüstungsexport. Auf der europäischen Ebene wird zweierlei verlangt. Einmal soll die "transnationale europäische Rüstungsindustrie" .. für ihre Exporttätigkeit einem verpflichtenden europäischen Verhaltenskodex unterworfen werden." Zum anderen "wirkt" die Bunderegierung "darauf hin, dass ein Transparenzgebot und der Menschenrechtsstatus möglicher Empfängerländer dabei als Kriterien enthalten sein sollen." Zum Verhaltenskodex (code of conduct) ist zu sagen, dass er ja bereits existiert. Er wurde Ende Mai 1998 von den Außenministern der EU-Staaten vereinbart und enthält im Grunde genommen nur die Empfehlung, bei Rüstungsexporten geltendes internationales Recht zu beachten (also z.B. Sanktionsbeschlüsse der VN einzuhalten). Alle darüber hinaus gehenden Bestimmungen sind so schwammig formuliert, dass sie fast beliebig interpretierbar sind. Insofern geht die Forderung, diesen Kodex "verpflichtend" zu machen, ziemlich ins Leere. Übrigens untersagt der Kodex auch Exporte in Länder, die sich "schwerer Menschenrechtsverletzungen" schuldig machen, das in der KV verlangte Kriterium "Menschenrechtsstatus möglicher Empfängerländer" ist also schon enthalten. Nicht enthalten ist das geforderte "Transparenzgebot". Zwar vereinbarten die EU-Minister eine jährliche Überprüfung der Waffengeschäfte, diese sollte aber vertraulich stattfinden. Hier Transparenz zu schaffen, indem die EU-Regierungen der Öffentlichkeit gegenüber einen umfassenden Bericht erstatten über die Exporttätigkeiten, ist zweifellos ein wichtiger Schritt zur öffentlichen Kontrolle.

Den "nationalen deutschen Rüstungsexporte außerhalb der NATO und der EU" verspricht die Koalition "restriktiv" zu handhaben. Gleichzeitig will sie den "Menschenrechtsstatus möglicher Empfängerländer als zusätzliches Entscheidungskriterium" einführen. Das ist zu unterstützen. Noch besser wäre gewesen, die Rüstungsexporte generell zu stoppen. Und warum gilt das Kriterium "Menschenrechtsstatus" nur für Exporte außerhalb der NATO? Sind Menschenrechte nicht universell und unteilbar? Darf die Türkei, nur weil sie NATO-Mitglied ist, trotz ihrer schwersten Menschrechtsverletzungen am kurdischen Volk anders behandelt werden als Algerien, Indonesien, Sudan oder Myanmar oder die vielen anderen Staaten der Welt, die es nach Angaben von amnesty international mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen?

Bleiben zwei marginale Punkte positiv anzumerken: Erstens will die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag jährlich einen "Rüstungsexportbericht" vorlegen – darauf warten auch wir von der Friedensbewegung schon lange. Und zweitens will die Bundesregierung "die bestehenden Programme der militärischen Ausstattungshilfe überprüfen und grundsätzlich keine neuen Verträge in diesem Bereich abschließen. Stattdessen wird sie verstärkt Maßnahmen der Demokratisierungshilfe fördern und dafür zusätzliche Mittel bereitstellen."

Zusammenfassung

Aus friedenspolitischer Sicht ist die rot-grüne Koalitionsvereinbarung mehr als enttäuschend. Wenn die neue Bundesregierung insgesamt für Kontinuität und Erneuerung – ein beliebtes Wort von Bundeskanzler Schröder – eintritt, dann ist im außen- und sicherheitspolitischen Teil der KV von Erneuerung wenig, von Kontinuität dafür umso mehr zu finden. In fast allen wesentlichen Punkten haben sich die Befürworter einer bewaffneten Sicherheit durchgesetzt. Die in den 90er Jahren eingeleitete Militarisierung der internationalen Beziehungen wird nicht gebrochen, sondern fortgesetzt. Dies lässt sich festmachen

  • an den geläufigen politisch-ideologischen Bekenntnissen zu NATO, US-Militärpräsenz und WEU,
  • am Festhalten an den "neuen Aufgaben" deutscher Streitkräfte in aller Welt,
  • an der Durchsetzung wegweisender und strukturbildender Rüstungsbeschaffungsvorhaben,
  • an der stillschweigenden Fortsetzung des Eurofighter-Programms (vielleicht der eklatanteste Wählerbetrug von Rot/Grün),
  • an der Ausbildung und Aufrüstung der Krisenreaktionskräfte und des Kommandos Spezialkräfte,
  • an der Entscheidung für einen europäischen Rüstungsgroßkonzern und
  • am Festhalten einer nur leicht modifizierten Rüstungsexportpolitik.

Auch Auslassungen sind interessant: Kein Wort im KV zur Allgemeinen Wehrpflicht oder zur Reduzierung der Streitkräfte; kein Wort zur überfälligen Gleichstellung der Zivildienstleistenden mit den Wehrpflichtigen (die "Zivis" leisten immer noch 13 Monate Dienst gegenüber 10 Monaten der Soldaten)!

Lediglich in Bezug auf die Reduzierung von Massenvernichtungswaffen mit dem Ziel ihrer völligen Abschaffung gibt es hoffnungsvolle Ansätze zu einer neuen Politik. Darüber hinaus werden vage Versprechungen auf die Unterstützung der OSZE, der Friedenforschung, eines Zivilen Friedensdienstes oder eines jährlichen Rüstungsexportberichts dankbar registriert. Es wird aber darauf zu achten sein, ob und wie sie umgesetzt werden. Insgesamt wiegen die positiven Ansätze jedoch die negativen, die friedensgefährdenden, weil rüstungs- und militarisierungsfördernden Weichenstellungen nicht auf. Die Koalitionsvereinbarung entspringt altem Denken und entbehrt jeglichen friedenspolitischen Aufbruchs.


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