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Ringen um die Rehabilitierung

In Baden-Württemberg trafen sich Opfer der Berufsverbote mit Landtagsabgeordneten von SPD und Grünen

Von Johannes Supe *

Über vier Jahrzehnte nach der Einführung des »Radikalenerlasses« beschäftigen sich auch Politiker Baden-Württembergs mit den Opfern der Berufsverbote. Ein erster runder Tisch zwischen Betroffenen und Landtagsabgeordneten von SPD und Grünen fand am 19. Juni statt.

»Dieser Austausch war ein erster Schritt«, sagte Klaus Lipps, Sprecher der Initiative »40 Jahre Radikalenerlass«, auf Nachfrage von junge Welt. Die Landtagsabgeordneten Ulrich Sckerl und Beate Böhlen (beide Grüne) sowie das SPD-Fraktionsmitglied Rita Haller-Haid nahmen an dem Treffen teil. Ihnen schilderten die Opfer der Berufsverbote ihre Fälle. Und sie nannten ihre Forderungen: Die rot-grüne Landesregierung müsse eine Entschuldigung aussprechen und sie vollständig rehabilitieren. Zudem müssten jene Personen eine Entschädigung erhalten, für die das Berufsverbot Altersarmut zur Folge hat.

Bereits im Dezember vergangenen Jahres versammelten sich gut zwei Dutzend Betroffene und Gewerkschafter vor dem baden-württembergischen Landtag. In der Folge wurden die Abgeordneten mit Briefen und E-Mails überhäuft. Ohne die Aktionen, erklärte Lipps, wäre es ein halbes Jahr später wohl nicht zum runden Tisch gekommen.

Es sei allerdings mit Gegenwind zu rechnen, sagte Martin Hornung, der sich auch bei »40 Jahre Radikalenerlass« engagiert. Während frühere Bemühungen um die Rehabilitierung der Geschädigten in Bremen und Niedersachsen auch von der CDU mitgetragen wurden, mauerten die Christdemokraten in Baden-Württemberg. Hornung befürchtet zudem, dass die Anliegen der Betroffenen auf die lange Bank geschoben würden. »Man hat uns beim runden Tisch erklärt, die Aufarbeitung unserer Fälle dauere ein Jahr. Das ist zu lang.« Die Umsetzung der Forderungen müsse sofort angegangen werden.

Infolge des Ministerpräsidentenerlasses vom 28. Januar 1972 wurde in den Ländern und auf Bundesebene die Möglichkeit von Berufsverboten für politisch missliebige Staatsbedienstete geschaffen. In Baden-Württemberg kam es zu mehreren hundert Verfahren. In der Regel trafen sie Lehrer, jedoch auch Post-Beamte. Besonders oft wandte man den Erlass gegen Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), aber auch gegen Friedensaktivisten an. Noch 2004 schlossen Baden-Württemberg und Hessen einen Realschullehrer aus dem Staatsdienst aus, weil er sich in der Antifaschistischen Initiative Heidelberg und in der Roten Hilfe engagierte. Erst drei Jahre später wurde der Entscheid für unrechtmäßig erklärt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. Juli 2015


»Die Behörden machten Jagd auf Linke«

Wer sich in Baden-Württemberg gegen Berufsverbote aussprach, dem wurde die Karriere im Staatsdienst verwehrt. Rehabilitiert sind die Betroffenen bislang nicht. Ein Gespräch mit Martin Hornung **

Eingeschränkte Grundrechte

Am 11. März 2015 beschloss die Delegiertenversammlung der IG-Metall-Verwaltungsstelle Frankfurt am Main einstimmig folgenden Antrag an den 23. ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall:

Die IG Metall fordert, dass in allen Bundesländern umgehend sämtliche Erlasse und Regelungen aufgehoben werden, die im Zusammenhang mit dem Ministerpräsidentenerlass vom 28. Januar 1972 (sogenannter »Radikalenerlass«) erlassen wurden. Gegenüber den von Berufsverbot Betroffenen ist eine entsprechende Entschuldigung vorzunehmen. Sie sind umfassend zu rehabilitieren und gegebenenfalls zu entschädigen. Der Vorstand wird aufgefordert, entsprechende Schritte bei den Bundesländern und Bundesbehörden einzufordern.

Der sogenannte »Radikalenerlass« wurde 1972 von den Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit dem Bundeskanzler (Willy Brandt, SPD – Anm. d. Red.) beschlossen. Zur Abwehr von angeblichen »Verfassungsfeinden« sollten »Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich‐demokratische Grundordnung einzutreten«, aus dem Öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden.

Mithilfe der sogenannten »Regelanfrage« wurden etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber vom Verfassungsschutz auf ihre politische »Zuverlässigkeit« durchleuchtet. In der Folge kam es zu rund 11.000 Berufsverbots‐ und 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen.

Tausenden von Lehrerinnen und Lehrern, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Briefträgern, Lokführern und in der Rechtspflege Tätigen wurde auf diese Weise die berufliche Perspektive genommen. Der Erlass diente nicht nur der Einschüchterung von aktiven Linken, sondern führte auch zur Einschränkung von Grundrechten wie der Meinungs‐ und Organisationsfreiheit, zu Duckmäusertum und zur Vernichtung vieler Existenzen. (...)

Ende der 80er Jahre zogen die sozialdemokratisch geführten Bundesländer Konsequenzen aus dem von Willy Brandt später selbst eingeräumten »größten Irrtum« und schafften die Erlasse ab. (...)

Die Berufsverbotepraxis stellt einen Verstoß gegen die »Charta der Grundrechte der Europäischen Union« von 2010 dar. Sie verstößt gegen die EU‐Antidiskriminierungsrichtlinie zur Schaffung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung vom 27.11.2000 ‐ 2000/78/EG und deren deutsche Umsetzung, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006. (...)

Martin Hornung engagiert sich in der Initiative »40 Jahre Radikalenerlass«. Nachdem ihm 1975 der Beruf als Lehrer verwehrt worden war, arbeitete er in einem Heidelberger Metallbetrieb und wurde Mitglied der IG Metall. Mittlerweile ist Hornung in Rente.



Es tut sich was gegen Berufsverbote und Gesinnungsschnüffelei in der Bundesrepublik. Gegen den sogenannten Radikalenerlass, mit dem Linke und Kommunisten vom Staatsdienst ferngehalten wurden, verabschiedete die IG Metall Heidelberg im Februar einen Antrag an den Gewerkschaftstag. Den haben Sie initiiert. Wieso?

Für die IG Metall ist es ja eher die Ausnahme, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Trotzdem wurde mein Antrag einstimmig, bei nur einer Enthaltung, angenommen. Denn die Kollegen kennen mich als früheren Betriebsratsvorsitzenden und als Tarifkommissionsmitglied. Und als ich ihnen meinen eigenen Fall schilderte, war die Zustimmung schnell sehr groß.

Was ist Ihnen widerfahren?

Ich wollte Lehrer werden. Das lag schon in meiner Familie, meine Schwester war Lehrerin. Und ich dachte, als Lehrer könnte ich durch eine gute Bildung jungen Leuten Hilfe leisten, die ansonsten in dieser Gesellschaft benachteiligt werden. Deswegen wollte ich in der Grund- oder Hauptschule unterrichten. Doch dazu ist es nie gekommen, man übernahm mich nicht in den Staatsdienst.

Mit Bezug auf den Radikalenerlass?

Richtig. In Baden-Württemberg hieß der Schiess-Erlass, benannt nach dem Innenminister Karl Friedrich Schiess, ein CDU-Politiker und früheres NSDAP-Mitglied. Der Erlass wurde jedem Lehramtsprüfling zur Unterschrift vorgelegt. Man musste sich verpflichten, jederzeit aktiv für die sogenannte freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen. Als ich 1975 selbst meine Prüfung machte, musste ich den Schiess-Erlass unterzeichnen, sonst hätte ich nicht Lehrer werden können. Doch mit sieben anderen Prüflingen habe ich eine öffentliche Erklärung unterschrieben, in der wir diese Verordnung eine Erpressung nannten. Daraufhin wurde ich zu einer Anhörung nach Stuttgart einbestellt. Den anderen warf man noch vor, dass sie für linke Hochschulgruppen kandidiert hätten. Das genügte damals, um jemanden nicht in den Schuldienst zu übernehmen. Doch ich war gar nicht hochschulpolitisch aktiv. Aber weil ich mich von dieser Erklärung nicht distanzierte, bekam ich zwei Monate später den Bescheid, dass meine Einstellung abgelehnt wird.

Ein Schock für Sie?

Es ging mir ziemlich schlecht. Ich habe mich damals anderthalb Jahre mit Hausaufgabenbetreuung und anderen Hilfsjobs über Wasser gehalten. Aber ich war ja schon 27, wenig später habe ich meine Familie gegründet. Schließlich bin ich in einen Metallbetrieb gegangen. Das war eine völlig andere Welt für mich.

Sie kamen nicht in den Staatsdienst, damit wurde Ihnen auch das Lehrergehalt vorenthalten. Wie kamen Sie über die Runden?

Ich hatte Glück. Als Lehrer hätte ich sicherlich mehr verdient, doch in dem Betrieb, in dem ich gelandet bin, waren die Löhne recht hoch. Mit der Schicht- und Akkordarbeit hatte ich sogar ähnlich viel wie meine Schwester. Doch ich kenne auch den Fall eines Kollegen, der nach dem Berufsverbot ebenfalls in einem Metallbetrieb gelandet ist. Das Werk wurde geschlossen, und er kam nie wieder auf die Beine. Heute bekommt er eine Rente von 580 Euro. Aber mit so wenig Geld kann man nicht leben.

Haben Sie Unterstützung von Kommilitonen oder Kollegen erfahren?

Von der Hochschule war ich völlig abgeschnitten, da gab es auch keine Kontakte mehr. Das war ein anderes Leben. Aber von meinen Kolleginnen und Kollegen habe ich viel Hilfe erfahren. Die wussten von meinem Berufsverbot – und haben mich sozusagen aufgefangen. Für diese Unterstützung bin ich noch heute dankbar. Ich fand immer: Ich muss dazu stehen. Von meiner Unterschrift gegen den Schiess-Erlass abzuschwören, kam für mich nie in Frage. Sie war richtig, weil ein Zeichen gesetzt werden musste. Es ging um die Meinungsfreiheit. Aber andere sind zugrunde gegangen, noch 2010 beging ein Betroffener Suizid.

Wie haben Sie denn die Stimmung damals wahrgenommen?

Mir persönlich ist man in meinem Heidelberger Umfeld immer mit Respekt begegnet. Doch von Seiten der Behörden war klar: Man machte Jagd auf Linke. Schon zwei Jahre nach Einführung des Schiess-Erlasses gab es an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg 30 Berufsverbote. Und es gab viel Angst. Wer als Lehrer öffentlich die Bildungspolitik Baden-Württembergs kritisierte, dem drohte die Entlassung. Es wurde erwartet, dass die Lehrer zum Staat stehen – auch bei Personalmangel und viel zu großen Klassen.

Und was wäre nötig, um das Unrecht wiedergutzumachen?

Die Landesregierung aus Grünen und SPD muss endlich die Opfer der Berufsverbote rehabilitieren. Für die, die kaum von ihrer Rente leben können, muss es auch eine Entschädigung geben. Und der Verfassungsschutz muss aufgelöst werden. Diese Behörde hat ganz entscheidend zu den Berufsverboten beigetragen. Der Verfassungsschutz hat unsere damalige Erklärung dem Kultus- und dem Innenministerium weitergegeben. Damit stand meine Lehrerkarriere vor dem Aus.

Interview: Johannes Supe

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. Juli 2015


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