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Armee im Einsatz - 20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr

Eine Bilanz. Vorgelegt von der AG Friedensforschung - erschienen im vsa-Verlag


Vor wenigen Tagen erschien eine Studie, die im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung von der AG Friedensforschung an der Uni-Kassel erarbeitet wurde. Daraus im Folgenden die Inhaltsübersicht, das Vorwort sowie das Schlusskapitel mit den friedenspolitischen Empfehlungen. Weitere Informationen erhalten Sie hier: www.vsa-verlag.de [externer Link]

Maybritt Brehm, Christian Koch, Werner Ruf, Peter Strutynski: Armee im Einsatz. 20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr
vsa-Verlag, Hamburg 2012, 256 Seiten, EUR 16,80; ISBN 978-3-89965-546-9 (Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Aus dem Inhalt

Vorwort
  1. Deutschlands Weg zurück zur Weltmacht – nicht mehr allein, sondern im Bündnis
    • 1.1. Deutsche Einbindung in Bündnisse: Von der Knebelung zur Wiedergewinnung der Souveränität
    • 1.2 Die neuen Chiffren: „Normalität“ und „Verantwortung“
    • 1.3 Deutschland und die Europäische Union
    • 1.4 Kriegseinsätze nur im Bündnis
    • 1.5 Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen
    • 1.6 Die Transformation der Bundeswehr zur „Armee im Einsatz“
    • 1.7 Fazit
  2. Politischer, rechtlicher und ideologischer Rahmen von Militäreinsätzen
    • 2.1. Sicherheitsstrategien
      2.1.1 NATO
      2.1.2 Europäische Union
      2.1.3 Bundesrepublik Deutschland
    • 2.2 Ideologische Begründungen für Militäreinsätze: „Responsibility to Protect“
    • 2.3 Das Bundesverfassungsgerichts-Urteil vom 12. Juli 1994
    • 2.4 Das Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBetG)
    • 2.5 Resümee
  3. Militäreinsätze seit 1990
    • 3.1 Phase 1: Die Anfänge in einer rechtlichen Grauzone
    • 3.2 Phase 2: „Humanitäre“ Einsätze im Bündnis
    • 3.3 Phase 3: EU-geführte Missionen gewinnen an Gewicht
    • 3.4: Resümee
  4. Ausgewählte Militäreinsätze auf dem Prüfstand
    • 4.1 Kosovo und die Folgen
    • 4.2 Demokratische Republik Kongo: Ein Mandat für die EU
    • 4.3 Libanon-Einsatz: Außer Spesen nichts gewesen?
    • 4.4 Piraten vor Somalias Küste – Chaos und Hunger in einem gescheiterten Staat
    • 4.5 Zehn Jahre Kriegseinsatz in Afghanistan
  5. Fazit und friedenspolitische Empfehlungen
  6. Literatur
Anhang:
  • Leitsätze des BVerfG-Urteils 1994
  • Europäische Sicherheitsstrategie 2003
  • Strategisches Konzept der NATO 2010
  • Verteidigungspolitische Richtlinien 2011
Zu den Autoren


Vorwort

[S. 7-11]

Vor 20 Jahren hätte eine Studie über Auslandseinsätze der Bundeswehr noch keinen Sinn gemacht. Bis zur historischen Wende 1990/91 war es undenkbar gewesen, dass die (alte) Bundesrepublik Deutschland allein oder im Bündnis mit anderen Staaten in irgendeinen Konflikt der Welt militärisch eingegriffen hätte. Das galt übrigens nicht nur für Deutschland, das bis 1990 in außenpolitischer Hinsicht nicht souverän war, sondern es galt auch für das westliche Militärbündnis NATO als Ganzes, das ausschließlich für die Verteidigung des „freien Westens“ vor dem „drohenden Kommunismus“, d.h. vor dem im Warschauer Vertrag zusammengeschlossenen realsozialistischen Staaten vorgesehen war. Welche geheimen Aufgaben die NATO darüber hinaus wahrnahm, soll hier nicht weiter interessieren.

Die Beschränkung der (west-)deutschen Außenpolitik war von besonderer Bedeutung, weil sie einerseits friedenspolitisch überhöht werden konnte nach dem Muster: „Die alliierten Vorbehaltsrechte und die Westbindung zwangen die BRD zu einer Politik der Zurückhaltung, die jegliches militärische Abenteuer ausschloss.“ Andererseits zeigte sich, dass trotz dieser außenpolitischen Restriktion die alte BRD zu einer ansehnlichen Militärmacht im NATO-Bündnis heranwuchs – vergleichbar mit der Entwicklung Japans, das heute ebenfalls zu den großen Militärmächten der Welt gehört, obwohl es laut Verfassung nicht einmal über eine normale Armee verfügen dürfte. Pikanterweise hatte die BRD den größten rüstungspolitischen Schub in der Ära Brandt-Scheel erhalten, also vor dem Hintergrund der Politik der Anerkennung der Nachkriegsrealitäten und der Normalisierung der Beziehungen zur DDR.

Diese Restriktionen in der Außen- und Sicherheitspolitik fanden ein Ende mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990. Damit einher ging die Erlangung der vollen Souveränität des größer gewordenen deutschen Staates. Dies musste nicht gleich spektakuläre militärische Interventionen – ob allein oder im Bündnis – nach sich ziehen. Vielmehr verlegte sich die neue BRD darauf, ihre Außenpolitik selbstbewusster und in Teilen auch aggressiver zu gestalten (dies wurde etwa deutlich in der vorpreschenden Balkan-Politik) und in der Sicherheitspolitik zunächst auf Samtpfoten daherzukommen. Die Bundeswehr sollte nicht nur im Inneren (Oderbruch 1997), sondern auch im Ausland als (Katastrophen-)Helfer in Erscheinung treten (Sanitäter in Kambodscha 1991, Brunnen bauen in Somalia 1993). Damit sollte hier zu Lande die Bevölkerung mit der neuen Rolle Deutschlands in der Welt allmählich vertraut gemacht werden und an das Ausland ging das Signal, Deutschland sei nun ein verlässlicher Partner der NATO und der Europäischen Union, und zwar auch dann, wenn es um militärische Missionen ging.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung vollzog sich auch ein Paradigmenwechsel des politischen und friedenswissenschaftlichen Diskurses. Im Zuge der Balkankriege kamen Theorien an die Oberfläche, die das völkerrechtliche Gewaltverbot in Frage stellten und einer militärisch gestützten Außenpolitik das Wort redeten. Von den einen als „Militarisierung“ des Denkens kritisiert, von den anderen als „Durchsetzung von Menschenrechten“ in den internationalen Beziehungen gefeiert, häuften sich in den beiden Jahrzehnten nach der Wende Militärinterventionen mit und ohne UN-Mandat – die meisten mit dem Ziel oder unter dem Vorwand, bedrohte Zivilpersonen vor Bürgerkriegsparteien, Aufständischen oder brutalen Regierungen zu schützen. Der UN-Sicherheitsrat, nach der UN-Charta das zuständige Organ für die Sicherung des Friedens in der Welt, produziert entsprechende Resolutionen fast schon am Fließband. In 45 Jahren, von 1945 bis 1990, verabschiedete der Sicherheitsrat 683 Resolutionen; im Durchschnitt des Jahres also 15 Resolutionen. Von 1991 bis heute (Juli 2011), also in nur 21 Jahren, wurden dagegen 1.317 Resolutionen verabschiedet - 63 pro Jahr, also rund vier Mal so viel. Und die meisten von ihnen berufen sich auf Kapitel VII der UN-Charta, das heißt, es geht in ihnen um Fragen der Friedenssicherung.

In der Bundesrepublik Deutschland nach der Wende wurde die politische Debatte geprägt vom Streit zwischen Pazifisten und Bellizisten (90er Jahre) und später vom Streit um das richtige Maß und die richtigen Mittel des Eingreifens der internationalen Staatengemeinschaft in die inneren Angelegenheiten problematischer Staaten – ganz überwiegend Länder der Dritten Welt. Die politik- und friedenswissenschaftliche Debatte verlief in ähnlichen Bahnen. Dies kann auch gar nicht anders sein, da Politikwissenschaft immer auch eine politisch argumentierende und Partei ergreifende Wissenschaft ist, die von normativen Grundeinstellungen und Entscheidungen ihrer Protagonisten abhängt – übrigens auch dann, wenn diese das für sich leugnen und sich für „wertfrei“ oder neutral halten.

Im Parteienspektrum der neuen Bundesrepublik wurde dieser Diskurs im Großen und Ganzen zugunsten der Militarisierung entschieden. Nachdem die Partei von Bündnis90/Die Grünen in den späten 90er Jahren ihren Frieden mit dem Krieg gemacht hatte und auf die Seite der „Interventionisten“ übergelaufen ist (der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 gilt hier als die große Zäsur), gibt es heute mit der Partei Die Linke nur noch eine nennenswerte parlamentarische Kraft, die sich jeglicher Kriegsbeteiligung widersetzt. Dies ist umso bemerkenswerter, als der politische und mediale Druck auf die parlamentarischen und außerparlamentarischen Kriegsgegner ständig erhöht wird. In der Libyen-Debatte des Frühjahrs 2011 wurde selbst die schwarz-gelbe Regierung – sonst keinem militärischen Eingreifen abhold – an den öffentlichen Pranger gestellt, weil sie es gewagt hatte, der NATO-Kriegskoalition gegen Libyen nicht direkt beizutreten.

Die vorliegende Studie bewegt sich also auf einem hochgradig verminten Gelände. Die AG Friedensforschung, eine ursprünglich an der Universität Kassel angesiedelte Forschungsgruppe, wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der Erarbeitung einer Expertise beauftragt, in der die 20-jährige Geschichte der Bundeswehrauslandseinsätze kritisch bilanziert werden sollte. Dabei konnte auf eine Vorgängerstudie aus dem Jahr 2009 zurückgegriffen werden, in der an Hand einer Reihe von Fallbeispielen gezeigt wurde, welche verheerenden Wirkungen die meisten Militärinterventionen neuerer Zeit hatten – ob mit oder ohne deutsche Beteiligung (Ruf/Jöst/Strutynski/Zollet 2009). Im Unterschied dazu steht in der vorliegenden Studie ausschließlich die deutsche Verantwortung für Militärinterventionen im Mittelpunkt des Interesses.

In Teil 1 der vorliegenden Studie wird der historische Hintergrund des außenpolitischen Paradigmenwechsels der Bundesregierung ausgeleuchtet. Der Weg aus dem „Kalten Krieg“ und zur Wiedergewinnung der vollen Souveränität war gepflastert mit einer Reihe „humanitärer“ Interventionen sowie mit der Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen NATO-Krieg. In der herrschenden Diktion war dies gleichbedeutend mit dem Eintritt Deutschlands in die „internationale Gemeinschaft“ als „normaler“ Staat, der seiner größer gewordenen Verantwortung endlich auch militärisch gerecht werden konnte. Parallel dazu entwickelte sich die Europäische Union – unter tatkräftiger Mitwirkung Berlins – zu einer Militärunion, die sich gern „auf gleicher Augenhöhe“ mit der NATO sieht, wenngleich die militärischen Fähigkeiten hierzu noch lange nicht gegeben sind. Gleichwohl sollte neben der NATO auch die EU für die Bundesrepublik ein wichtiger Referenzrahmen werden, wenn es um die Transformation der Bundeswehr aus einer Verteidigungsarmee zu einer „Armee im Einsatz“ geht.

Die politischen und rechtlichen Voraussetzungen für die Transformation der Bundeswehr sind Gegenstand des zweiten Teils. Dabei wird deutlich, dass die Formulierung der sicherheitspolitischen Konzepte des „Westens“ nach dem Ende der Blockkonfrontation zuerst jeweils von der NATO vorgenommen wurde; Deutschland folgte in kurzem Abstand, während die EU aus strukturellen und institutionellen Gründen längere Zeit brauchte, bis ein verbindlicher sicherheitspolitischer Rahmen verabschiedet werden konnte. Dies war einerseits mit der Europäischen Sicherheitsstrategie (2003), andererseits mit dem Lissabon-Vertrag (der 2009 in Kraft trat) der Fall. Mit den jeweils neugefassten strategischen Konzepten der NATO (1991, 1999 und 2000) und den deutschen Sicherheitsdoktrinen (Verteidigungspolitische Richtlinien 1992, 2003 und 2011, Weißbücher 1994 und 2006) haben sie gemein, dass „Verteidigung“ heute anders definiert und praktiziert wird als zu Zeiten des Kalten Kriegs: Es geht zunehmend um Energie- und Rohstoffsicherheit, um geopolitische Ziele und um die Absicherung der wirtschaftlichen Vormachtstellung der Länder der Ersten Welt gegen die aufkeimende Konkurrenz der Schwellenländer (z.B. die BRICS-Staaten). Von enormer Bedeutung war die legitimatorische Unterstützung durch das Bundesverfassungsgericht, das in einem Aufsehen erregenden Urteil von 1994 Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen von Bündnissen und mit dem Plazet des Bundestags seine juristischen Weihen verlieh.

Die Dynamik der Entwicklung der Auslandseinsätze der Bundeswehr geht aus der Darstellung in Teil 3 hervor. Die bisherigen 35 Einsätze unter militärischen Vorzeichen verteilen sich sowohl quantitativ als auch sachlich ungleich auf die vergangenen 20 Jahre. In einer ersten Phase (frühe 90er Jahre) waren die – noch spärlichen - Einsätze ausschließlich „humanitär“ begründet und als risikolos präsentiert worden. In der zweiten Phase war die Bundesregierung bemüht, Militäreinsätze, darunter den eindeutig völkerrechtswidrigen Krieg gegen Restjugoslawien 1999, sowohl mit starken „humanitären“ Argumenten zu begründen, als auch als notwendigen Beitrag zur Bündnissolidarität darzustellen. Auch dem Krieg in Afghanistan – mit dem die dritte Phase begann - lag ein NATO-Beschluss zu Grunde. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hatte sie – nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – den Verteidigungsfall ausgerufen und der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von OEF (Operation Enduring Freedom) erfolgte offiziell als Beistandshandlung nach Art. 5 des NATO-Vertrags. Diese Phase ist zudem gekennzeichnet durch die Zunahme von Einsätzen im Rahmen von EU-Operationen.

Teil 4 bildet das Kernstück der vorliegenden Studie; es geht hier um eine vertiefende Analyse des deutschen Interventionismus. Dabei konnten natürlich nicht alle Auslandseinsätze der Bundeswehr ausführlich geschildert und bilanziert werden. Aus den 35 Einsätzen stechen einige besonders hervor. Es handelt sich dabei um bedeutsamere Operationen, entweder hinsichtlich der langen Dauer (Afghanistankrieg) oder des Umfangs der eingesetzten Truppen (Afghanistan, Kosovo, Libanon) oder wegen der zeitlichen Beschränkung und wegen des EU-Mandats (Kongo) oder wegen der augenscheinlichen Nutzlosigkeit des Einsatzes (Libanon) oder schließlich wegen der Neuartigkeit des Einsatzes (Piratenjagd). In der Vorgängerstudie hatten wir bereits einige bis dahin mehr oder weniger abgeschlossene Konflikte behandelt, wobei der Fokus nicht auf der deutschen Beteiligung, sondern auf der Art der Konfliktbearbeitung lag. Zwei der damals bearbeiteten Konflikte, Kosovo und Somalia, werden in der vorliegenden Arbeit noch einmal aufgegriffen; einmal weil sich der Konflikt weiter verschärft und teilweise seine Gestalt verändert hat (Somalia), zum anderen weil die Kosovo-Frage zumindest in völkerrechtlicher Hinsicht ungelöst bleibt und auch sonst immer wieder zu grundsätzlichen friedenspolitischen Diskussionen Anlass gibt.

Die Studie wird abgeschlossen mit einer Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse und - wie es sich für eine Politik-Expertise gehört – mit einer Reihe von friedenspolitischen Empfehlungen. Sie richten sich nicht nur an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, sondern auch an die demokratischen Parteien und die außerparlamentarische Opposition.


5 Fazit und friedenspolitische Empfehlungen

[S. 185-195]

Wie in den einleitenden Texten dieser Studie dargestellt wurde, kann von einer gefestigten Bereitschaft der etablierten politischen Parteien Deutschlands ausgegangen werden, militärische Maßnahmen bis hin zu größeren Interventionen als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele in Betracht zu ziehen. Sowohl die politischen wie auch die rechtlichen Entscheidungen, die innerhalb des zeitlichen Bezugsrahmens dieser Studie sowohl von Justizorganen wie dem Bundesverfassungsgericht als auch von den Bundesregierungen getroffen wurden, untermauern diese Annahme. Es hat seit dem Beitritt der ehem. DDR zur BRD sukzessive eine Verschärfung/Militarisierung deutscher Außenpolitik stattgefunden. Anfängliche Zurückhaltung, wie sie noch zu Beginn der 1990er Jahre durch die Regierung Kohl geübt wurde, wurde bereits in seinen letzten Regierungsjahren aufgeweicht und von den folgenden Regierungskoalitionen Schritt für Schritt ausgehöhlt und schließlich ganz aufgegeben.

Als folgenschwerster Einschnitt ist in diesem Zusammenhang die Beteiligung deutscher Kampfflugzeuge am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Republik Jugoslawien im Jahr 1999 anzusehen. Dieses Engagement, war die erste Beteiligung deutscher Truppen an Angriffshandlungen seit dem Zweiten Weltkrieg und in ihrer Folgewirkung mit einem Dammbruch zu vergleichen. Auf dieser Grundlage wurden Militärmissionen, wie die aktuell bedeutendste in Afghanistan erst denkbar und, was noch wichtiger ist, politische tragbar. Zwar waren die Widerstände innerhalb der rot-grünen Bundesregierung gegen den Afghanistan-Einsatz zuerst groß, doch konnten sie durch die von Bundeskanzler Schröder gestellte Vertrauensfragen fraktionspolitischen Erwägungen unterworfen und so zumindest in Bezug auf die Entscheidung des Bundestages für den Einsatz aus dem Weg geräumt werden. Besonders die Parteien SPD und Bündnis 90/ Die Grünen durchliefen im Umgang mit diesen beiden Kampfeinsätzen eine Transformation. Friedliebende Ideale wurden zu Gunsten geopolitischer Zielvorstellungen zurückgestellt, so dass heute selbst die Grünen mit ihren Wurzeln in der Friedensbewegung nicht länger in nennenswerter Opposition gegen die Militarisierung deutscher Außenpolitik auftreten. Verwundern kann dies vor dem Hintergrund, dass diese Partei mit ihrem Koalitionspartner SPD in den Jahren 1999 und 2001 zentrale Weichenstellungen durchführte, nicht. Mit Erlangung der politischen Macht konnte auch der Ausweitung internationaler Bedeutung durch militärisches Engagement nicht widerstanden werden. So wurde selbst eine rot-grüne Regierung zum Träger einer deutschen Militarisierung mit globaler Ausrichtung, welche die folgenden schwarz-roten und schwarz-gelben Regierungsbündnisse konsequent weiterverfolgten.

Von zentraler Bedeutung für das militärische Handeln Deutschlands im Ausland sind die Bündnissysteme in denen die Bundesrepublik Mitglied ist. Wie schon das Grundgesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 festlegen, kann und wird die Bundesrepublik nie militärische Alleingänge, also außerhalb der NATO, EU oder UNO grundgesetzkonform durchführen können. Aufgrund der starken Einbindung, besonders in NATO und EU kann von Seiten der Politik auch kein Interesse an einem derartigen Vorgehen bestehen. Deutsche Interessen, wie immer diese auch geartet sein sollten, lassen sich im Bündnis bei weitem komfortabler umsetzen. Oft ist es auch so, dass erst die militärischen Fähigkeiten der Bündnispartner militärisches Handeln der Bundesrepublik ermöglichen, da die Strukturen der Bundeswehr noch immer den ehrgeizigen Vorgaben der Politik hinterherhinken. Vorhaben, wie die seit den 90er Jahren geplante Transformation der deutschen Streitkräfte verliefen bisher so, dass sie nur einen begrenzten Beitrag zur Verbesserung der personellen und materiellen Fähigkeiten der Bundeswehr im Auslandseinsatz beitragen konnten. Doch immer robuster gestaltete Einsatzszenarien haben auch in diesem Punkt zu einem Umdenken geführt.

Die aktuell in der Planung befindliche Bundeswehrreform soll nun dazu beitragen die militärische Bearbeitung deutscher Interessen im Verbund mit den verschiedenen Bündnispartnern zu effektiveren und den deutsche Beitrag auszuweiten. Besonders der Bericht der Weise Kommission scheint diesbezüglich wichtige Impulse beigesteuert zu haben und die neue Marschrichtung vorzugeben. Diese lautet: „ Vom Einsatz her denken.“ Dieses Denken ist nichts Neues. Als Instrument der Außenpolitik hat die Bundeswehr in den letzten 20 Jahren bereits den Wandel von der nationalen Verteidigungs- zur internationalen Interventionsarmee vollzogen. Nun sollen auf Grundlage der Vorschläge der Weise-Kommission die Fähigkeiten der Truppe an die Erfordernisse ihres Auftrags angeglichen werden.

In Zukunft werden mehr Soldaten für Auslandseinsätze zur Verfügung stehen. Die anvisierte Zahl von 10.000 Soldaten die dauerhaft im Ausland einsetzbar sein sollen, würde auf Grundlage der zur Zeit verwendeten Rotation im Viermonatstakt bedeuten, dass jährlich 30 000 Bundeswehrangehörige in Auslandseinsätzen stationiert sein werden. Im Grunde stellt dies jedoch vorerst keine quantitative Veränderung dar, zumindest nicht in Bezug auf die aktuellen Kontingentsobergrenzen aller Einsätze. Zählt man diese zusammen so ergibt sich ebenfalls eine Zahl um die 10 000 herum. Das heißt also, dass die Bundeswehr derzeit mit einer Entsendefähigkeit von ca.7500-8500 Soldaten nicht in der Lage wäre alle Kontingentsobergrenzen vollständig auszufüllen. Dies belegt vor allem eines; die Bundeswehr arbeitet an der Belastungsgrenze und auch die Bundeswehrreform wird dies nicht ändern. Allerdings werden durch sie neue Spielräume geschaffen werden, so dass zukünftig mit einer weiteren Zunahme von Einsätzen im Ausland zu rechnen ist. Freiwerdende Kapazitäten, etwa aus dem Balkan oder aus UN-Mission werden in andere Einsätze verschoben werden können. Der Kampfeinsatz in Afghanistan wird nicht der letzte dieser Art sein, an dem deutsche Truppe teilnehmen, selbst wenn es zu einem vollständigen Abzug vom Hindukusch kommen sollte. Besonders Afrika und der Nahe Osten werden in den Focus militärischer Interventionen mit deutscher Beteiligung rücken.

Vor diesem Hintergrund ist es von größter Wichtigkeit eine weitere Militarisierung der deutschen Außenpolitik zu verhindern und Alternativen aufzuzeigen. Der Großteil der in der Vorgängerstudie, in der es um Militäreinsätze generell ging (Ruf u.a. 2009), und in dieser Studie behandelten Einsätze zeigt, dass die bisher durch militärische Interventionen erreichten Ergebnisse die behaupteten Zielvorgaben nicht erfüllen. Weder konnte durch den Krieg gegen den Terror und die Stabilisierungstruppe ISAF Afghanistan befriedet werden noch zeigen die Antipiratenmaßnahmen am Horn von Afrika die erwünschte Wirkung. Die Entsendung von Soldaten, ausgestattet mit robusten Mandaten hat sich gegenüber den vorherrschenden nicht-militärischen Problemlagen als nicht zielführend herausgestellt. Bereits bestehende bewaffnete Konflikte werden durch dieses Vorgehen weiter verschärft, wie z. B. Afghanistan und der Antipiraten-Einsatz zeigen. Humanitäre Notlagen können durch die Fixierung auf das Militärische nicht gelindert werden und das Misstrauen sowie die Ablehnung großer Teile der Weltbevölkerung gegenüber dem Westen wird durch imperiale Geopolitik vergrößert. Und schließlich werden durch die kontinuierliche Aushöhlung des Völkerrechts neue Praktiken geschaffen die weder den Frieden und die Sicherheit in der Welt noch die Souveränität einzelner Staaten respektieren. Die Etablierung des Konzepts der R2P dient der Legitimation eines neuen Interventionismus.

Besonders durch die enge Einbindung der BRD in mehrere Bündnisse, wird der Ausstieg aus diesem vielschichtigen System nicht einfach sein. Dennoch muss er eingeleitet werden. Zunächst durch eine Ablehnung von Peaceenforcement-Einsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta. Diese sog. friedenserzwingenden Missionen bewirken, wie in dieser und der Vorgänger-Studie nachgewiesen, das Gegenteil von Frieden, nämlich eine Zunahme von Krieg und Gewalt in den betroffenen Staaten. Unter Respektierung ihrer Souveränität sollte wieder zum bewährten Peacekeeping (Blaumhelmkonzept) nach Kapitel VI der UN-Charta zurückgekehrt werden. Nur dies gewährleistet die Einbeziehung aller Konfliktparteien und die Möglichkeit einer einvernehmlichen Konfliktbeilegung. Militärischen Interventionen unter Vorgabe humanitärer Gründe muss ein für alle Mal eine Absage erteilt werden. Die Empirie belegt eindeutig, dass diese Einsätze das vorgegebene Ziel nicht erreichen und nur dann und dort erfolgen, wenn und wo nationale oder auch Bündnisinteressen verfolgt werden. „Entwicklungspolitik unter dem Kanonenrohr“ (Erös) kann nicht funktionieren. Wer auf humanitärer Grundlage argumentiert darf, und kann nicht glaubwürdig militärisch agieren. Diese Doppelzüngigkeit muss aus der deutschen Außenpolitik sowie den internationalen Beziehungen verschwinden.

Unter diesen Umständen wäre eine Erhöhung des deutschen Beitrags zu Friedenmissionen der UN wünschenswert und notwendig. Die UNO bleibt weiterhin trotz der anachronistischen Zusammensetzung des Sicherheitsrats und mangelnder demokratischer Mechanismen das Gremium mit der größten Legitimität im internationalen Raum. Die Bundesrepublik sollte ihren Einfluss dahingehend nutzen eine gerechte und zeitgemäße Reform der UNO anzustreben, auch wenn dies bedeuten sollte keinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erhalten.

„Friedensmissionen“ müssen Friedensmissionen sein. Längst nicht alles, was unter diesem Etikett firmiert, trägt zur Friedenserhaltung oder Friedensschaffung bei. Libyen ist das vorerst letzte Beispiel für einen von den Vereinten Nationen mandatierten Militäreinsatz, der Zivilisten schützen sollte, sich aber zu einem veritablen NATO-Krieg gegen eine der Bürgerkriegsparteien, das herrschende Gaddafi-Regime und dessen Armee, entwickelte (Crome 2011). Dass die Bundesregierung sich in der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat gegen das Mandat entschied und – zusammen mit Brasilien, China, Indien und Russland – sich der Stimme enthielt, war im Kontext des Diskurses der politischen Klasse im NATO-Bündnis zumindest eine diplomatische Überraschung. Die pragmatische Argumentation lief darauf hinaus, die durch ein militärisches Eingreifen in einen inneren Konflikt eintretenden Risiken seien unkalkulierbar und möglicherweise größer, als wenn man sich auf die den Vereinten Nationen zur Verfügung stehenden nicht-militärischen Sanktionsinstrumente beschränken würde. Solche waren beispielsweise zuvor schon mit Resolution 1970 (2011) beschlossen und eingeleitet worden. Es wäre zu begrüßen, wenn die Entscheidung Berlins aus Respekt vor dem Völkerrecht, insbesondere des Art. 2,7 der UN-Charta zustande gekommen wäre. Plausibler erscheint indessen die Annahme, dass die Bundesregierung um ihren wachsenden Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent besorgt ist.

Im innenpolitischen Diskurs um das Libyen-Mandat überwiegen seither die Stimmen, die der Bundesregierung vorwerfensich mit ihrem „Alleingang“ von der „internationalen Gemeinschaft“ zu „isolieren“, einen gefährlichen „Sonderweg“ einzuschlagen und die NATO-Bündnispartner „im Stich zu lassen“. Die Mainstream-Medien von FAZ über die SZ bis zur taz und zu den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten kritisieren die Haltung der Bundesregierung als „Rückfall“ in die Zeit außenpolitischer Beschränktheit während des Kalten Krieges. Solche Argumentation reduziert außenpolitisches Handeln auf militärische Aktionen und beraubt sich damit eines breiten Spektrums politischer Gestaltungsmöglichkeiten.

Ein besonderes Gewicht erhält das mediale Sperrfeuer durch die ideologische Beihilfe prominenter Friedensforscher. Als „moralischen und politischen Fehler“ bezeichnete Harald Müller, Vorstand der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, die Entscheidung der Bundesregierung (SZ, 29.04.2011). Dabei übernimmt er vollkommen unkritisch die beiden Hauptbegründungen für die Intervention in Libyen: Erstens sei die Auseinandersetzung derart zugespitzt gewesen, dass „ein Massenmord“ in Bengasi bevorstand. Als Beleg hierfür genügte die Ankündigung Gaddafis, in der angekündigten Offensive gegen die Aufständischen „keine Gnade“ walten zu lassen. „Gnadenloses“ Vorgehen gegen eine Bürgerkriegspartei mag auf die beabsichtigte Verletzung des Kriegsrechts hindeuten, nicht aber auf ein geplantes Massaker an der Zivilbevölkerung. Zweitens beruft sich Müller bei seinem Plädoyer für eine Kriegsbeteiligung Deutschlands auf das Prinzip der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to protect). Diese sei als „neue Norm für die internationale Gemeinschaft“ von der UN-Generalversammlung 2005 „festgeschrieben“ worden und ermächtige die Staatengemeinschaft zu militärischen Eingriffen in die Souveränität einzelner Staaten, wenn diese nicht Willens oder nicht fähig sind, für ausreichenden Schutz der eigenen Bevölkerung im Fall drohenden Völkermords, schwerer Kriegsverbrechen und schwerer „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu sorgen.

Wir zitieren an dieser Stelle noch einmal die diesbezüglichen Passagen aus der Erklärung der Generalversammlung: „In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Wir betonen die Notwendigkeit, dass die Generalversammlung die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die sich daraus ergebenden Auswirkungen eingedenk der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts weiter prüft.“ (Ziff. 139 des Ergebnisdokuments des Weltgipfels 2005.) Ist also nach dem Wortlaut dieser Erklärung die „Schutzverantwortung“ keinesfalls als völkerrechtlich verbindliche „Norm“ „festgeschrieben“ worden, so lässt ein Blick in die einschlägigen Paragraphen derselben Erklärung keinen anderen Schluss zu, als dass die strikte Achtung der UN-Charta oberstes Prinzip bei der „friedlichen Beilegung von Streitigkeiten“ (Ziff. 73-76) und bei der „Anwendung von Gewalt“ (Ziff. 77-80) bleiben müsse. Das gewaltsame Eingreifen Dritter in einen internen bewaffneten Konflikt eines Staates auf der Seite einer Konfliktpartei ist weder mit der Neutralitätspflicht der Vereinten Nationen noch mit dem Nichteinmischungsgebot nach Art. 2 Abs. 7 der UN-Charta vereinbar.

Der HSFK-Vorsitzende Harald Müller schließt sein Kriegsplädoyer mit zwei Überlegungen ab, die der Bundesregierung auf die Sprünge helfen sollen. Mit deren Enthaltung zum Libyen-Einsatz „brach“ die Bundesregierung „mit bewährten Prinzipien deutscher Weltordnungspolitik, gerade in dem historischen Moment, in dem die internationale Gemeinschaft einen kleinen Schritt voran machte. So erlangt man keinen weltpolitischen Fortschritt und einen Dauersitz im Sicherheitsrat schon gar nicht.“ Abgesehen davon, dass vollkommen unklar bleibt, welches die angeblich „bewährten Prinzipien deutscher Weltordnungspolitik“ gewesen sein mögen, ist es aus friedenspolitischer und Friedensforschungs-Perspektive geradezu obszön, von „weltpolitischem Fortschritt“ zu sprechen, wenn die Welt vom strikten Gewaltverbot der UN-Charta (Art. 2 Abs. 4) Abschied nimmt. Und was die Verminderung der Chancen Deutschlands betrifft, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erhalten, so sollten das ohnehin nicht die Sorgen der Friedensforschung sein. Eine Reform der UNO bedarf zuallererst ihrer Demokratisierung und einer Verrechtlichung, die auch die Entscheidungen des Sicherheitsrats einer Normenkontrolle unterzieht. Dies wird nicht dadurch eingelöst, dass ein weiterer europäischer Staat, sondern dadurch, dass weitere Staaten der Dritten Welt in den Sicherheitsrat aufgenommen werden.

Schließlich müssen die Instrumentarien der Zivilen Konfliktprävention, der Entwicklungszusammenarbeit und der Wirtschafthilfe unter fairen Bedingungen gestärkt werden. Finanzielle Kürzungen in diesen Bereichen sind nicht hinnehmbar und sollten, so schon durchgeführt, zurückgenommen werden. Auf diesem Wege kann mehr zur der Vermeidung von Kriegen und der „Verteidigung“ der Sicherheit erreicht werden, als dies mit militärischen Mittel möglich wäre. Nur auf diesem Wege kann eine nachhaltige Außenpolitik unter friedlichen Vorzeichen gestaltet werden.

Deutschland steht vor der zentralen Frage, die für die herrschenden politischen Mehrheiten schon längst beantwortet zu sein scheint: Ist deutsche Politik Friedenspolitik? Eine dem Frieden und der Humanität verpflichtete Politik muss auf einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel gerichtet sein, der dieUrsachen von Konfliken bearbeitet, nicht aber ihre Folgen mit militärischer Gewalt bekämpft. Friedenspolitik fügt sich so in einen politischen Gesamtzusammenhang, der die Schaffung einer menschenwürdigen Welt zum Ziel hat: wirtschaftlich, sozial, kulturell – und international.

Friedenspolitische Empfehlungen

Die folgenden sieben friedenspolitischen Empfehlungen richten sich in erster Linie an politische Akteure im parlamentarischen und außerparlamentarischen Raum. Sie stellen keine umfassende friedenspolitische Agenda dar (siehe hierzu z.B. Friedensratschlag 2011), sondern sind Resultat der Überlegungen, die wir in der vorliegenden Schrift detailliert vorgetragen haben.

(1) Afghanistankrieg beenden

Absolute Priorität in der Friedensbewegung hat heute und vermutlich noch länger der Kampf für die Beendigung des Afghanistan-Krieges. Seit zehn Jahren beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland an zwei Kriegen, die gleichermaßen völkerrechtswidrig sind: Am Antiterror-Krieg im Rahmen der Operation Enduring Freedom (seiner Zeit ausgerufen von George W. Bush) und am UN-mandatierten „Stabilisierungseinsatz“ im Rahmen der ISAF-Truppe. Beide Kriegseinsätze werden mittlerweile von den USA und der NATO geführt und sind kaum noch voneinander zu unterscheiden. Die Ergebnisse des Krieges sind desaströs. Der wesentliche Beitrag, den Deutschland zur Beendigung des Krieges beitragen könnte, ist der sofortige Beginn des Abzugs der Bundeswehr. Wir wären nicht die ersten, aber ein Rückzug der Bundeswehr - immerhin drittgrößter Truppensteller in Afghanistan – wäre ein ermutigendes Signal für andere Staaten, gleiches zu tun. Das entspricht auch dem Wunsch der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands und anderer NATO-Staaten. Wir halten den Abzug der Bundeswehr und später aller NATO-Truppen aus Afghanistan nicht nur für eine politische Notwendigkeit, sondern auch für ein erreichbares Ziel – realisierbar noch vor den für 2014 in Aussicht gestellten Abzugsplänen der Interventionsmächte.

(2) Bundeswehr: Zurück zum Grundgesetz

Die Bundeswehrreform, die von zu Guttenberg eingeleitet wurde und von dessen Nachfolger im Kern weiter geführt wird, ist rundweg abzulehnen, weil mit der Transformation der Bundeswehr ihre weltweite Interventionsfähigkeit hergestellt werden soll. Die vom Verteidigungsminister eingesetzte Strukturkommission (sog. „Weise-Kommission“) hat die neuen Aufgaben der Bundeswehr schon im Titel des Berichts auf den Punkt gebracht: „Vom Einsatz her denken“. Die Devise der Herrschenden lautet: Kleiner und feiner, effektiver und aggressiver! Der Weise-Bericht liest sich streckenweise wie ein Beratungspapier einer Unternehmensberatung, die der Bundeswehr eine schlanke Organisation verpassen will. In diesen Kontext passt auch die Übertragung logistischer Aufgaben an private militärische Unternehmen. Militär und Rüstung werden gewissermaßen marktwirtschaftlich ausgerichtet, was in der Logik der Herrschenden auch Sinn macht, weil der Auftrag der Bundeswehr ja auch die weltweite Sicherung der wirtschaftlichen Interessen „Deutschlands“ sein soll. Ziel einer friedensorientierten Sicherheitspolitik muss es dagegen sein, die Bundeswehr auf eine Restgröße zu schrumpfen, die zur Landes- und Bündnisverteidigung notwendig erscheint. Dies wäre gleichbedeutend mit der Rückkehr zum Grundgesetz und zum Völkerrecht!

(3) Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnen

Die grundsätzliche Ablehnung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr, die nicht unter die Rubrik „Katastrophenhilfe“ und Blauhelmmissionen fallen, gehört zum Kernbestand einer friedensorientierten Politik und somit zum „cetero censeo“ ihr verpflichteter Parlamentarier. Deutsche Soldaten haben weder in Afghanistan, noch auf dem Balkan, noch am Horn von Afrika oder im Sudan etwas zu suchen. Es ist eine gefährliche Illusion, mit Militär dort humanitär helfen zu können, wo Menschen systematisch die Lebensgrundlagen entzogen werden, wo sie ihrer fundamentalen Rechte beraubt werden, wo sie ausgebeutet, aus religiösen, ethnischen oder sozialen Gründen diskriminiert oder politisch verfolgt werden. Alle diese Probleme und Bedrohungen haben ihre Wurzeln und Ursachen in gesellschaftlichen Verhältnissen, sind also im weitesten Sinn „zivilen“ Ursprungs. Sie können demnach auch nur mit zivilen, nicht-militärischen Mitteln bearbeitet werden. Jede Prävention, jede Form ziviler Konfliktbearbeitung, jeder Einsatz politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Mittel ist besser und nachhaltiger als eine militärische Symptombehandlung.

(4) Rüstungsexporte stoppen und Rüstungsproduktion konvertieren

Die Bundesrepublik Deutschland belegt seit Jahren einen der vordersten Plätze im internationalen Rüstungsgeschäft. Waffenhandel mit Ländern in Krisengebieten gehört ebenso zum Alltagsgeschäft wie die Rüstungskooperation mit menschenrechtsresistenten Regimen. Bevorzugte Empfänger deutscher Waffen im Nahen Osten und Nordafrika sind bzw. waren neben Israel Ägypten, Algerien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien und Libyen. Die Verantwortung für die exzessive Rüstungsexportpolitik trägt der Bundessicherheitsrat, ein besonderer Ausschuss der Bundesregierung, der geheim tagt und seine Beschlüsse nicht offen legt. Dieses vordemokratische Gremium ist sofort und ersatzlos aufzulösen. Insbesondere der Export bzw. die Lizenzvergabe von sog. „Kleinwaffen“, mit denen heute der Großteil aller Bürgerkriege und zwischenstaatlichen Kriege bestritten wird und die Jahr für Jahr für den Tod Zehntausender Menschen verantwortlich sind, trägt dazu bei, dass bewaffnete Konflikte geschürt oder am Leben gehalten werden. Es ist z.B. zutiefst scheinheilig und unmoralisch, wenn sich die deutsche Marine an der UNIFIL-Mission vor Libanons Küste beteiligt um den Waffenschmuggel an die Hisbollah zu verhindern, während andererseits Israel alles an Waffensystemen erhält, was es in Berlin bestellt. Auf der friedenspolitischen Agenda steht ein Verbot jeglichen Rüstungsexports. Darüber hinaus wäre darüber nachzudenken, ob die in Deutschland ansässige Rüstungsindustrie nicht zu verstaatlichen sei, um so die Kontrolle unmittelbarer ausüben zu können. Notwendig sind aber in jedem Fall öffentliche Programme zur gezielten Umstellung der Rüstungsproduktion auf die Produktion nützlicher ziviler Güter (Konversion). Die Beschäftigten in Rüstungsbetrieben wollen auch keine Waffen für den Tod, sondern viel lieber Produkte für das Leben herstellen. Der Staat als 100-prozentiger Abnehmer der produzierten Waffen und militärischen Geräte trägt auch die Verantwortung für die Umstellung der Rüstungsproduktion bei Erhalt der Arbeitsplätze.

(5) NATO in Frage stellen

Eine Herkulesaufgabe wird die Delegitimierung der NATO sein. Verschiedene Umfragen bestätigen hohe Zustimmungswerte zur NATO. Dieser mächtigste Militärpakt in der Geschichte der Menschheit, der noch dazu keinen Gegner hat, ist zum anachronistischen Überbleibsel der untergegangenen bipolaren Weltordnung geworden. Seine Aufrechterhaltung dient ganz offenkundig der militärischen Absicherung imperialistischer Interessen gegen die Ansprüche der Völker der unterentwickelt gehaltenen Welt, gegen die aufstrebenden neuen Mächte wie China, Indien oder Brasilien und gegen unbotmäßige Regime überall in der Welt. Eine auf gemeinsame Sicherheit setzende Sicherheitspolitik muss die NATO als aggressiven Akteur in den Großkonflikten unserer Tage (Beispiel Afghanistan und Libyen) darstellen, ihre usurpierte globale „Zuständigkeit“ und ihr Festhalten an der atomaren Option ablehnen. Friedenspolitik setzt nicht auf exklusive Militärpakte, sondern auf regionale und globale Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Beispiel UNO, OSZE, AU). Darin hat die NATO keinen Platz und sollte daher lieber früher als später aufgelöst werden.

(6) Militarisierung der Europäischen Union bekämpfen

Mit dem Vertrag von Lissabon ist die Europäische Union endgültig zu einem Militärbündnis mit einem eigenen Beistandspaktmechanismus geworden. Sie verfügt über eine eigene Sicherheitsstrategie, über eigene militärische Fähigkeiten (z.B. die bekannten Battle Groups, deren Aufbau allerdings nur stotternd voran kommt), eine europäische Rüstungsagentur, deren Aufgabe es ist, die geforderte Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der EU (Aufrüstungsverpflichtung) zu vermitteln und zu managen, und sie hat in einigen Probeläufen erste Erfahrungen in Auslandseinsätzen gesammelt (z.B. Kongo, Tschad). Parlamentarier auf nationaler und europäischer Ebene müssen sich des grundsätzlich gewandelten Charakters der EU stellen. Da gibt es kein Schönreden nach dem Motto: „Na ja, so schlimm wird es in der Praxis nicht werden“. Da gibt es aber auch kein Herausstehlen etwa derart, dass man aus der EU austreten oder sie „neu gründen“ solle – eine Forderung, deren Realisierungschance etwa so groß ist wie das Verlangen nach einer Päpstin in Rom. Eine verantwortungsvolle Friedenspolitik wird den steinigen Weg des Kampfes gegen die Militarisierung der EU gehen müssen. Wie in der Kampagne gegen den Verfassungsvertrag muss es auch heute heißen: „Ja zu Europa, Nein zur europäischen Militärunion“.

(7) Stärkung und Demokratisierung der UNO

Friedenspolitik beinhaltet auch ein eindeutiges Bekenntnis zu den Vereinten Nationen – und das trotz ihrer erheblichen strukturellen Defizite und ihrer zuweilen irritierenden Politik. Die UNO ist das einzige, was die schwachen Staaten dieser Welt noch haben und worauf sie sich in ihrem berechtigten Anspruch auf „souveräne Gleichheit“ aller Mitgliedstaaten berufen können. In der UN-Charta sind die wesentlichen Prinzipien des Völkerrechts verankert wie die Souveränität, Gleichberechtigung und territoriale Integrität der Staaten, das unbedingte Gewaltverbot sowie das Verbot, sich in die inneren Angelegenheiten von Staaten einzumischen. Die UNO, insbesondere ihr Sicherheitsrat, hat manche problematischen und falschen Entscheidungen getroffen, insbesondere was die (nachträgliche) Legitimierung völkerrechtswidriger Aggressionskriege (Afghanistan, Irak), aber auch was die vorsätzliche Militärintervention in Libyen betrifft. Dennoch ist sie keinesfalls zu einem vollständigen willigen Instrument der USA und/oder anderer imperialer Mächte geworden. Worum es künftig gehen muss, ist die Demokratisierung der UNO und die Erweiterung der Kompetenzen des IGH in Richtung auf eine Normenkontrollkompetenz, nicht ihre Marginalisierung.


Zu den Autoren:

  • Maybritt Brehm geb. 1979, Studium Germanistik und Politik und Wirtscharft für Gymnasiallehramt an der Universität Kassel, derzeit Lehrerin im Vorbereitungsdienst in Kassel;
  • Christian Koch geb. 1980, Studium der Politikwissenschaft und Germanistik (Magister) in Kassel. Derzeit wartend auf die Zulassung zum Zweitstudium Lehramt für Gymnasien in Kassel;
  • Dr. Werner Ruf, mehrjährige Forschungsaufenthalte in Nordafrika. Lehrtätigkeiten: Universität Freiburg i. Br., New York University, Universität Aix-Marseille III, Universität Essen. 1982-2003 Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel;
  • Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, AG Friedensforschung Kassel, www.ag-friedensforschung.de; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.



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