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Revolte oder Intrige?

Machtdemonstration auf dem Maidan: "Rechter Sektor" fordert in Kiew Sturz der "Regierung der Verräter". Die zerlegt sich derweil selbst

Von Reinhard Lauterbach *

Entmilitarisierte Zone im Donbass

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat der Schaffung einer 30 Kilometer breiten entmilitarisierten Zone im Kriegsgebiet Donbass zugestimmt. Aus dieser Pufferzone sollten alle Panzer sowie Artillerie abgezogen werden, sagte der Staatschef am Mittwoch nach Medienberichten bei einem Auftritt in Lugansk. Der Schritt solle den »dauerhaften Beschuss« beenden. Poroschenko ordnete demnach an, dass die ukrainische Seite ein entsprechendes Abkommen der sogenannten Kontaktgruppe unterzeichnet. Am Vorabend hatten sich Vertreter der Ukraine, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie Russlands bei neuen Friedensverhandlungen in Minsk auf einen Abzug der Waffen geeinigt.

»Die jüngste Verständigung über den teilweisen Abzug von Militärtechnik aus den umkämpften Gebieten der Ukraine ist ein Hoffnungsschimmer«, erklärte am Mittwoch Andrej Hunko, der für die Fraktion Die Linke Mitglied des EU-Ausschusses des Bundestags sowie der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist. »Auch die ersten Schritte zur Dezentralisierung der Ukraine gehen in die richtige Richtung und müssen nun schnell konkretisiert werden.« Die Gesamtlage sei dennoch »alles andere als positiv«, so Hunko weiter. »Während das Sterben in der Ostukraine andauert, rasseln USA und NATO weiter mit den Säbeln und führen unter deutscher Beteiligung im Rahmen der Übung ›Rapid Trident‹ Militärmanöver in der Ukraine durch. Zugleich rollen Panzer und anderes Militärmaterial durch Deutschland, um ins Baltikum verlegt zu werden. Das ist im Hinblick auf Entspannung und eine friedliche Lösung des Konflikts absolut kontraproduktiv. Ziel der diplomatischen Bemühungen aller Seiten muss ein Ende der Kämpfe sein, damit das Minsk-II-Abkommen endlich umgesetzt werden kann.«



Mehrere tausend Anhänger des faschistischen »Rechten Sektors« (RS) haben am Dienstag abend in Kiew den Sturz der gegenwärtigen ukrainischen Regierung gefordert. RS-Chef Dmitro Jarosch nannte sie eine »Regierung der Verräter« und erklärte das als »Volksversammlung« angekündigte Treffen zu einem »Parteitag des Rechten Sektors«. Die Gruppierung selbst will künftig als »nationale Befreiungsbewegung« in Erscheinung treten und im ganzen Land ein Misstrauensreferendum gegen Präsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk vorbereiten. Auf Plakaten waren Parolen wie »Krieg den Oligarchen und ihrem Gefolge« zu lesen. Zu Jaroschs Forderungen gehören die Einführung des Kriegszustands, die Aufkündigung des Minsker Waffenstillstands und die Legalisierung der »Freiwilligenbewegung« – d. h. des »Rechten Sektors«. Das deutet auf Finanzprobleme des RS hin. Die Legalisierung hätte die Gruppe längst haben können, wenn sie sich der Militärführung unterstellt hätte. Dies hat Jarosch in der Vergangenheit stets abgelehnt.

Aus dem Versuch des »Rechten Sektors«, in der westukrainischen Provinz die Kontrolle über wichtige Städte zu übernehmen, ist offenbar nichts geworden. Zu einer Kundgebung der Gruppe in Iwano-Frankiwsk kamen nur etwa 20 Personen, die Kontrollpunkte um Lwiw wurden inzwischen wieder abgebaut. Im Transkarpatengebiet nehmen Einheiten der Polizei nach und nach die nach den Kämpfen mit der Armee in der vergangenen Woche in die Wälder geflohenen RS-Angehörigen fest. Präsident Poroschenko hatte zuvor den bisherigen Gouverneur des ukrainisch kontrollierten Teils des Bezirks Lugansk, Gennadi Moskal, als neuen Gouverneur ins Transkarpatengebiet versetzt. Moskal, ein Polizeigeneral, kennt die Gegend und ihre Oligarchen, er war vor etlichen Jahren schon einmal dort tätig. Er beschuldigte seinen Amtsvorgänger Wassili Hubal, den »Rechten Sektor« mit monatlich 10.000 US-Dollar unterstützt zu haben – was eine Verbindung zum Schmuggelbusiness unterstellt –, und bestätigte, dass der RS sich in hohem Maße aus Kriminellen zusammensetze; 80 Prozent seiner Mitglieder hätten Vorstrafen, viele auch mehrere.

Aus Berichten ukrainischer Medien geht hervor, dass der RS zuletzt eine Söldnertruppe verschiedener Oligarchen war. So habe ihn im Transkarpatengebiet Igor Baloha finanziert, der »Schmuggelkönig« der Region. Dessen Ware, unversteuerte Zigaretten, kommt nach Moskals Angaben überwiegend aus der Tabakwarenfabrik in Lwiw. In ukrainischen Medienberichten war wiederholt die Rede davon, dass die Ökonomie der Stadt weitgehend von der Swoboda-Partei kontrolliert werde, so dass sich hier schattenwirtschaftliche Verflechtungen der ukrainischen Faschisten andeuten. Bereits im Frühjahr 2014 war bekanntgeworden, dass der RS nach dem Ende des Euromaidan in den Dienst des Oligarchen Igor Kolomojskij getreten war und diesen bei der Übernahme eines Großteils der Unternehmen der Region unterstützt hatte. Womöglich sind daher die jetzigen Auftritte des RS die Oberfläche einer auf Destabilisierung und einen inneroligarchischen »New Deal« abzielenden Intrige Kolomojskijs gegen Präsident Poroschenko, der ihn im Frühjahr um die Kontrolle über das einträgliche staatliche Ölunternehmen Ukrnafta gebracht hat. Auch Kolomojskijs Priwat-Bank soll in Schwierigkeiten sein. Der OIigarch hat vor kurzem eine Partei mit dem Namen »Ukrainisch-patriotische Vereinigung« gegründet. Sie wird von engen Mitarbeitern Kolomojskijs aus seiner Zeit als Gouverneur geleitet; Kolomojskij selbst hält sich im Hintergrund.

Letzterer Vorstoß kommt in einem Moment, in dem die Kiewer Koalition nach Aussage ihrer Spitzenvertreter in einer tiefen Krise steckt. Im Parlament ist die aus früheren Zeiten vertraute Sitte der Prügeleien im Plenarsaal wiederaufgelebt, meist angezettelt von der »Radikalen Partei«, die in ukrainischen Berichten ebenfalls als Kolomojskijs Geschöpf beschrieben wird. Die aktuellen Umfragen sind für alle Regierungsparteien desaströs: Für die Präsidentenpartei BPP würden noch zwölf Prozent stimmen, für die Volksfront von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk etwa zwei, weniger als für den »Rechten Sektor«, der stabil bei drei Prozent steht. Von dem Chaos im Regierungsviertel profitiert allerdings nicht etwa die Opposition, die aus der »Partei der Regionen« hervorgegangen ist, sondern ausgerechnet die rechtspopulistische »Vaterlandspartei« von Julia Timoschenko. In dieser Situation der Zersetzung der bisherigen Mehrheit versucht sich Innenminister Arsen Awakow offenbar persönlich abzusichern. Der auf dem Volksfrontticket ins Amt gekommene Minister, dessen Entlassung eines der wichtigsten Ziele des »Rechten Sektors« ist, hat die Gründung einer neuen, ihm persönlich unterstellten, Sondereinheit der Nationalgarde bekanntgegeben. Wenn diese Entwicklung weitergeht, steht ein Hauen und Stechen diverser Politiker und Oligarchen um die schrumpfenden Pfründe in der Ukraine bevor. Die USA scheinen angesichts dessen den Glauben an den Reformwillen der ukrainischen Führung verloren zu haben. Ihr in Odessa als Gouverneur eingesetzter Vertrauensmann Michail Saakaschwili hat jetzt beschlossen, die ukrainischen Zollbehörden seiner Region ganz zu schließen und die Zollabfertigung einer US-Firma zu übertragen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. Juli 2015


Die zweite Welle des Maidan

Klaus Joachim Herrmann über neue Forderungen des »Rechten Sektors« **

Wie einst zum Sturz von Viktor Janukowitsch, treten in der Ukraine derzeit ultrarechte Kampftruppen erneut gegen einen gewählten Präsidenten an. Ihr Ausgangspunkt ist ein weiteres Mal der Maidan in Kiew. Wie es den Rechtsradikalen bereits aus der Deckung hinter idealistischen Kräften der Zivilgesellschaft heraus gelang, soll nun »das Volk« für einen weiteren Machtwechsel unter dem Vorwand eines Referendums herhalten.

Die neuen Forderungen des rechtsextremistischen Führers Dmytro Jarosch, denen auf dem inzwischen weltbekannten Platz im Herzen Kiews Nachdruck verliehen wurde, sind unmissverständlich: Misstrauensvotum gegen Präsident, Parlament und Regierung; Bewertung der »Anti-Terror-Operation« in der Ostukraine als »Krieg mit Russland«, Aufhebung des Abkommens Minsk-2, völlige Blockade der abtrünnigen Gebiete und Legalisierung der »Freiwilligenverbände«.

Die marschieren so gar nicht selten unter faschistischen Symbolen und in diesem Geist, bilden die im Wortsinne schlagkräftige Vorhut eines scharfen Rechtsschwenks. Der erste Machtwechsel brachte zumindest ultranationalistische Schlüsselfiguren in Schlüsselpositionen, jetzt wollen sie die zweite Welle. Der »Rechte Sektor« würde dann alle jüngsten Hoffnungen auf Entspannung mit sich reißen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 23. Juli 2015 (Kommentar)


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