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Ukraine wird Chefsache

Washington und Moskau verhandeln über Wege aus dem Konflikt. Prowestliche russische Politiker von Kiew recycelt

Von Reinhard Lauterbach *

Russland und die USA werden künftig auf Staatssekretärsebene regelmäßig über die ukrainische Krise verhandeln. Das geht aus einem Interview des Stabschef der russischen Präsidialadministration, Sergej Iwanow, vom Wochenende hervor. Iwanow sagte darin, beide Länder hätten ein »spezielles bilaterales Format« vereinbart, um über den Konflikt im Gespräch zu bleiben. Die US-Seite soll dabei die für Eurasien zuständige Staatssekretärin im State Department, Victoria Nuland (»Fuck the EU«), vertreten, Russland der ranggleiche Vizeaußenminister Grigorij Karasin.

Völlig neu ist diese Nachricht nicht. Ein erstes Gespräch zwischen Nuland und Karasin hatte es schon im Mai parallel zu einem Besuch von US-Außenminister John Kerry in Sotschi bei Präsident Wladimir Putin gegeben. Ein Fußtritt im Nulandschen Sinne gegenüber der EU und ihrem »Normandie-Format« (BRD, Frankreich, Russland, Ukraine) ist diese Einigung ohnehin. Iwanow bezeichnete es – ohne ins Detail zu gehen – als »zu riskant«, diese Gesprächsrunde einfach um die USA zu erweitern. Die Ukraine wird zwischen Washington und Moskau zur Chefsache erklärt. Sekundäre Spieler wie die EU-Staaten werden auf beiden Seiten für obsolet erklärt.

Die USA haben sich von den Minsker Verhandlungen bewusst ferngehalten, um durch eventuelle Kompromisse in der Sache nicht gebunden zu sein. Sie haben in der Ukraine ihre strategischen Ziele weitgehend erreicht: der nach wie vor von Kiew kontrollierte Großteil des Landes ist inzwischen scharf antirussisch formatiert und wird von Poroschenko und Jazenjuk in Richtung NATO geführt – da ist die EU nur noch als Zahlmeister interessant. Die Verwüstungen, die der auf dem Maidan angezettelte Großkonflikt in der Ukraine angerichtet hat, sind den USA herzlich egal.

Russland hat bisher asymmetrisch auf das US-Engagement in der Ukraine reagiert. Es hat einerseits die Aufständischen im Donbass mit so vielen Waffen ausgerüstet und ihre Truppen so gut trainiert, dass sie durch die ukrainische Armee militärisch nicht oder nur unter großen Risiken für das Kiewer Regime zu besiegen sind. Andererseits hindert Moskau die Aufständischen beharrlich, ihre Defensiverfolge militärisch auszuweiten. Das politische Signal ging an Washington: Uns ist die Ukraine sehr wichtig, wichtiger als euch. Genau die Spekulation darauf, dass Kiew für die USA nur eine Spielfigur ist, und dass das wirkliche Duell zwischen Washington und Moskau ausgetragen wird, bestätigt sich mit diesem neuen Gesprächsformat und wird von den USA offensichtlich inzwischen akzeptiert.

Dass US-Präsident Barack Obama sich neulich artig bei Wladimir Putin für dessen Kooperation in der Iran-Frage bedankt hat, heißt jedoch nicht, dass Washington bereit ist, Russland künftig in Ruhe zu lassen.

Die neueste Wendung ist eine Art politische Recyclingstation, die die ukrainische Regierung für russische Liberale einrichtet. So hat der als Gouverneur von Odessa amtierende georgische Expräsident Michail Saakaschwili jetzt als seine Stellvertreterin Maria Gaidar engagiert. Die Tochter jenes russischen Ministerpräsidenten der frühen 90er Jahre, dessen Schockprivatisierung nach wie vor ein Trauma für die russische Bevölkerung ist. Angeblich soll sie der russischsprachigen Bevölkerung der Region in ihrer Muttersprache die Botschaften Saakaschwilis vermitteln und damit signalisieren, dass »die Ukrainer nichts gegen die Russen haben«, wie es Petro Poroschenko darstellte.

Man kann es freilich auch anders sehen. Die russischen Prowestler, die im eigenen Land seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin ohne jeden politischen Einfluss und außerhalb von Moskau auch ohne Rückhalt in der Bevölkerung sind, dürfen in der Ukraine Verwaltungspraxis lernen und sich für künftige Aufgaben bereithalten. Zwar hat Maria Gaidar für den Job in Odessa ihren russischen Pass abgegeben und die ukrainische Staatsangehörigkeit angenommen. Aber das lässt sich im Falle eines prowestlichen Machtwechsels in Moskau schnell rückgängig machen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Juli 2015


Poroschenko befiehlt Waffenabzug

Trotz der Vereinbarung ging im Donbass der Beschuss vorerst weiter / 30 Prozent der Ukrainer für Krieg um abtrünnige Gebiete *

Nach wiederholten Rückschlägen verständigen sich die Konfliktparteien in der Ostukraine auf einen Waffenabzug. Die Bundesregierung hofft auf eine Entspannung der Lage. Doch hält die Vereinbarung diesmal?

Kiew/Moskau. Neue Hoffnung auf ein Ende der Gewalt im Donbass: Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat einer 30 Kilometer breiten entmilitarisierten Zone in der Kriegsregion zugestimmt. Alle Panzer sowie Artillerie sollten aus der Pufferzone abgezogen werden, befahl der Staatschef im Konfliktgebiet Luhansk. Der Schritt solle den »dauerhaften Beschuss« beenden. Die Konfliktparteien hatten sich unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Russlands am Vorabend auf einen Abzug von Kriegsgerät geeinigt. Die prorussischen Separatisten in Donezk teilten am Mittwoch mit, Waffen mit einem Kaliber von weniger als 100 Millimetern bereits drei Kilometer von der Front abgezogen zu haben.

Die Bundesregierung begrüßte die grundsätzliche Einigung. Sollte der Abzug umgesetzt werden, wäre das »ein großer Schritt in Richtung eines belastbareren, nachhaltigen Waffenstillstands«, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Zwar sei die Ostukraine noch weit entfernt von einer Entspannung. Die Fortschritte bei den Gesprächen der Kontaktgruppe und der OSZE seien aber zu würdigen. Dabei seien auch Projekte vereinbart worden, um die Wasserversorgung von mehreren Hunderttausend Menschen in Donezk und Luhansk wiederherzustellen.

Separatistenführer Wladislaw Dejnego bestätigte dies. Die durch Artilleriebeschuss beschädigten Anlagen würden vermutlich mit deutscher Finanzhilfe wiederhergestellt, sagte er. Eine schriftliche Zustimmung der prowestlichen Führung in Kiew stehe aber noch aus.

Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrej Melnik, bedankte sich für technische Hilfe aus Deutschland für das Militärhospital in Saporischschja. In Deutschland würden zudem weiterhin acht Verletzte der Massenproteste in Kiew vor einem Jahr behandelt, teilte er mit.

Trotz des vereinbarten Waffenabzugs ging im Donbass der Beschuss vorerst weiter. Die Armeeführung in Kiew warf den Separatisten vor, Stellungen des Militärs mit Panzern und Granatwerfern massiv unter Feuer genommen zu haben. Die Aufständischen wiesen dies zurück.

30 Prozent der Ukrainer für Krieg um abtrünnige Gebiete

In der Ukraine ist zudem ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung für die militärische Beendigung des Konfliktes. Nach ukrainischen Umfragen sind knapp 30 Prozent der Bürger für einen Krieg zur »Befreiung der abtrünnigen Gebiete«. Vor allem der ultranationalistische Rechte Sektor setzt sich für eine gewaltsame Lösung des Konflikts ein. Dmitri Jarosch, der »Führer der nationalen Befreiungsbewegung«, wie sich der Rechte Sektor auch nennt, will verhindern, dass Präsident Poroschenko die Gebiete kampflos aufgibt.

Mit einigen Tausend Anhängern verlangte er am Dienstagabend auf dem Maidan in Kiew ein Referendum über das »Misstrauen gegenüber Präsident, Parlament und Regierung«. Jarosch forderte auch eine totale Wirtschaftsblockade der abtrünnigen Regionen. Zwar gilt die Linie der Radikalen weiterhin nicht als mehrheitsfähig in der ukrainischen Gesellschaft. Doch warnen Experten davor, die Extremisten und Provokateure zu unterschätzen.

Ex-Sowjetpräsident Michail Gorbatschow hofft trotz der Ukraine-Krise auf eine baldige »Wiederkehr des Vertrauens« zwischen Deutschen und Russen. »Wir sollten verhindern, dass die Entfremdung zwischen unseren Völkern weiter wächst«, appellierte der 84-Jährige in Moskau. Die Regierungen in Berlin und in Moskau müssten »Weisheit zeigen, um einen Dialog aufzubauen«, sagte der Friedensnobelpreisträger.

EU überweist 600 Millionen Euro Kredit – geknüpft an Reformen

Die Europäische Union hat der Ukraine 600 Millionen Euro überwiesen, um das rezessionsgeplagte Land zu unterstützen. Der Kredit ist die erste Tranche aus einem neuen Unterstützungsprogramm, das sich auf insgesamt 1,8 Milliarden Euro beläuft, wie die EU-Kommission am Mittwoch mitteilte. Die Gelder können demnach eingesetzt werden, um »dringende Finanzierungsbedürfnisse« zu decken und bei der wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes zu helfen. Gleichzeitig wolle die EU damit Reformen der ukrainischen Regierung in Bereichen wie dem Energiesektor, dem Sozialsystem und dem Finanzsektor unterstützen. Mit Reformen, die auch vom Internationalen Währungsfonds gefordert werden, ist der Abbau von Subventionen im Energiesektor, der Abbau des Sozialstaates sowie die Liberalisierung des Finanzsektors gemeint.

** Aus: neues deutschland (online), Mittwoch, 22. Juli 2015


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