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"Genehmigen Sie die Freigabe"

Ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter fordern Präsident Obama auf, nachrichtendienstliche Informationen über den Abschuss von Flug MH17 über der Ostukraine vor einem Jahr veröffentlichen *


Vor einem Jahr hat die US-Regierung einen skizzenhaften Bericht über den Abschuss der Maschine des Fluges MH17 der Malaysia Airlines publiziert und dazu »soziale Medien« oder andere dürftige Daten zitiert, die Rebellen aus der Ostukraine und Russland dafür die Schuld gaben. Als später belastbare nachrichtendienstliche Informationen verfügbar wurden, hüllte sich die Führung in Washington in Schweigen. Jetzt fordern ehemalige Mitarbeiter der US-Geheimdienste deren Veröffentlichung. junge Welt dokumentiert den offenen Brief der »Veteran Intelligence Professionals for Sanity« (Pensionierte Geheimdienstexperten für den gesunden Menschenverstand – VIPS) an US-Präsident Barack Obama mit Datum vom 22. Juli 2015.

Vor einem Jahr ist die Passagiermaschine des Fluges MH17 der Malaysia Airlines über der Ukraine abgeschossen worden, wobei 298 Passagiere und Crewmitglieder starben. In ihrer ersten Reaktion stützte die US-Regierung die Behauptung, dass regierungsfeindliche Kräfte in der Ostukraine (die übliche falsche Bezeichnung in den Medien für sie ist »Separatisten«) die Täter waren und dass sie möglicherweise direkt von Moskau unterstützt wurden.

Am 29. Juli 2014 haben wir, Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS), der US-Regierung vorgeschlagen, öffentlich dazu Stellung zu nehmen, über welche nachrichtendienstlichen Informationen sie in bezug auf den Abschuss verfügt, damit der Vorfall nicht in einem Ausbruch grundloser Beschuldigungen gegen Russland endet. Auf diese Stellungnahme warten wir noch heute.

Die Spannungen zwischen den USA und Russland betreffs der Ukraine nähern sich mit hohem Tempo einem gefährlichen Punkt. Einer der Hauptfaktoren für das negative Bild, das die US-amerikanische Öffentlichkeit von Moskau hat, ist der Abschus der Maschine von Flug MH17 der Malaysia Airlines.

Ein öffentlicher Bericht über die Untersuchung des Vorfalls durch die niederländischen Sicherheitsbehörden wird im Oktober erwartet, aber der Entwurf ist angeblich bereits in den Händen der Regierung der Vereinigten Staaten. Es gibt Spekulationen, dass der Report mit den Medien und durchgesickerten Informationen aus Regierungsquellen abgestimmt werden soll, die die Schuld hauptsächlich den Ukrainern russischer Herkunft im Südosten der Ukraine zuschreiben. Letztere befinden sich in Oppostion zu der Regierung, die nach dem vom Westen eingefädelten Putsch vom 22. Februar 2014 in Kiew an die Macht gekommen ist.

Weil die Beziehungen zu Moskau von wesentlicher Bedeutung sind – und wenn auch nur deshalb, weil Russland die militärische Stärke hätte, die USA zu zerstören –, muss es um eine vorsichtige Neujustierung dieser Beziehungen gehen. Wenn die USA sich die Schlussfolgerung zu eigen machen, die Russlands Schuld ohne jede solide nachrichtendienstliche Erkenntnis behauptet, wird eine bereits brüchige bilaterale Beziehung so gut wie sicher auf unnötige Weise beschädigt. Wir sind der Meinung, dass zu einer gründlichen Untersuchung des Flugzeugabsturzes gehört, in alle Richtungen zu ermitteln und zu überprüfen, was die Beweise taugen.

Das einzige, was die US-amerikanische Öffentlichkeit und das weltweite Publikum gegenwärtig sicher wissen, ist, dass die Maschine abgeschossen wurde. Aber der Abschuss könnte zufällig erfolgt sein und auf das Konto einer Reihe von Beteiligten gehen. Er könnte aber auch von Regierungsgegnern inszeniert sein, mit oder ohne Duldung Moskaus. Es ist auch möglich, dass der Flugzeugabsturz absichtlich von der Regierung in Kiew oder einem der mächtigen Oligarchen der Ukraine herbeigeführt wurde, um die Anti-Kiew-Kräfte und Russland mit diesem Massenmord in Verbindung zu bringen. Obwohl eher unwahrscheinlicht, könnte es letztlich aber auch möglich sein, dass auf der Basis der vorhandenen Geheimdienstinformationen ermittelt werden kann, wer es getan hat.

Angesichts des hohen Einsatzes sowohl in bezug auf unsere extrem wichtigen Beziehungen zu Russland als auch bei der Erarbeitung einer vertrauenswürdigen Darstellung des Vorfalls, die auch dem Weißen Haus zur Ehre gereicht, ist es rätselhaft, warum die Regierung dabei versagt hat, eine koordinierte Geheimdiensteinschätzung zu erstellen. Diese fasst zusammen, welche Beweise zur Ermittlung der Verantwortlichen für den Absturz vorliegen. Wenn die US-Regierung weiß, wer den Angriff auf das Flugzeug durchgeführt hat, sollte sie die Beweise vorlegen. Wenn sie es nicht weiß, sollte sie es sagen.

Im Folgenden werden wir als frühere Geheimdienstexperten mit einer gemeinsamen Dienstzeit von über 360 Jahren in verschiedenen Abteilungen der US-Nachrichtendienste unsere Sicht auf die Dinge beisteuern. Und wir werden zum zweiten Mal darum ersuchen, dass die nachrichtendienstlichen Informationen über den Absturz veröffentlicht werden, um den unklaren und dürftigen Beweisen, die uns seit einem Jahr aufgetischt werden – einige davon gestützt auf »soziale Medien« – etwas entgegenzusetzen.

Die russische Dimension

Es wäre nicht das erste Mal, dass ein tragisches Ereignis zu Propagandazwecken mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen ausgeschlachtet wird. Wir beziehen uns auf das Verhalten der Reagan-Regierung unmittelbar nach dem Abschuss der Maschine von Flug KAL 007 der Korean Airlines über Sibirien am 1. September 1983.

Stunden nach dem tragischen Abschuss setzte die Reagan-Regierung ihre äußerst versierte Propagandamaschine in Gang, um den Vorfall so darzustellen, als seien die Sowjets schuld daran, wissentlich und absichtlich die Zivilmaschine von Flug KAL 007 mit 269 Menschen an Bord abgeschossen zu haben. In Wahrheit wurde das Passagierflugzeug abgeschossen, nachdem es Hunderte von Meilen vom Kurs abgekommen war und über sensiblen Militäreinrichtungen in Kamtschatka und auf der Insel Sachalin in den russischen Luftraum eingedrungen war. Der sowjetische Pilot versuchte, die Maschine zum Landen zu bewegen, aber die KAL-Piloten reagierten nicht auf die wiederholten Warnungen. Inmitten der Konfusion über die Identität der Maschine – Stunden zuvor war in der Nähe ein US-Spionageflugzeug gesichtet worden – befahl die sowjetischen Bodenkontrolle dem Piloten zu feuern.

Schon bald erkannten die Sowjets, dass sie einen entsetzlichen Fehler begangen hatten. Die US-Geheimdienste wussten auch aus abgefangenen Funksprüchen, dass der Grund für die Tragödie eine grobe Fehlentscheidung war und kein vorsätzlicher Mordangriff (so wie am 3. Juli 1988, als die USS Vincennes eine iranische Passagiermaschine über dem Persischen Golf abschoss, 290 Insassen tötete und damit einen Akt beging, den Präsident Ronald Reagan abfällig als »nachvollziehbaren Unfall« bezeichnete).

Die Geschichte von KAL 007 sollte einem in den Sinn kommen, wenn man sich mit dem Schicksal des Fluges MH17 auseinandersetzt. Es mag legitime Gründe dafür geben, die zunehmend autoritäre Regierung von Präsident Wladimir Putin abzulehnen, aber das Ausnutzen einer Tragödie hat nichts mit konstruktiver Staatskunst im Umgang mit einem Gegner zu tun.

Das Weiße Haus und das US-Außenministerium haben zumindest vor einem Jahr eine unziemliche Eile bei der Entscheidung gezeigt, zuerst mit einer nicht auf Fakten gestützten Darstellung an den Start zu gehen, die Russland zumindest indirekt mit dem Abschuss in Verbindung bringt. Es ist völlig inakzeptabel, dass seitdem zwölf Monate vergangen sind und keinerlei Bemühungen erkennbar waren, diese Darstellung entweder zu korrigieren oder sie zu belegen.

Jemand lügt

Sowohl Russland als auch die Ukraine bestreiten jede aktive Rolle beim Abschuss der Maschine des Fluges MH17. Auch die gegen den Putsch gerichteten Kräfte im Südosten der Ukraine bestreiten ihre Beteiligung. Irgend jemand weiß aber etwas und lügt, um seine Rolle bei dem Zwischenfall zu verschleiern. Aus Sicht der USA muss das, was passiert ist, aufgeklärt und zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung werden. Keine andere Nation verfügt wie die USA über die Mittel, um eine auf Beweise gestützte Antwort zu geben; das Sammeln nachrichtendienstlicher Informatioen und ihre Analyse sind die Werkzeuge, die dafür eingesetzt werden müssen. Die bis heute veröffentlichten Informationen halten keiner Überprüfung stand; sie erlauben kein informiertes Urteil darüber, wer zur Frage des Abschusses der Maschine von Flug MH17 lügt.

Auf den Tag vor einem Jahr hat der Direktor der nationalen Nachrichtendienste James Clapper ausgesuchten Mainstreamjournalisten eine sehr kurze »Regierungseinschätzung« mit von ihm autorisierten Hintergrundinformationen gegeben, die ein paar grob skizzierte Anhaltspunkte enthielten. Das geschah gerade einmal fünf Tage nach dem Abschuss und zwei Tage nachdem US-Außenminister John Kerry mit dem Finger auf die Putschgegner in der Ukraine und auf Russland gezeigt und ihnen die Schuld gegeben hatte. Verständlicherweise wurde nach Bestätigung getrachtet.

Wie Kerrys in seinen Äußerungen in den sonntäglichen Talkshows vom 20. Juli 2014 stützte sich auch die »Regierungseinschätzung« weitgehend auf Beiträge in den »sozialen Medien«. Im Briefing vom 22. Juli 2014 wurde die zentrale Frage angesprochen, wer die Buk-Flugabwehrrakete abgefeuert hatte, von der allgemein angenommen wird, dass damit am 17. Juli 2014 das Verkehrsflugzeug abgeschossen wurde, ohne dass dafür irgendein Beweis vorgelegt werden konnte.

Im Verlauf des letzten Jahres gab es keine Aktualisierung der bereits fünf Tage nach dem Abschuss veröffentlichten »Regierungseinschätzung«. Will man uns wirklich weismachen, dass die Geheimdiesnte ein Jahr danach nicht in der Lage sind, Beweise zu liefern, die über die Unterstellungen bezüglich der Buk-Rakete hinausgehen?

Das Briefing vom 22. Juli 2014 suggerierte auch, die Rakete könnte von einem ukrainischen »Überläufer« abgefeuert worden sein. War es nicht möglich, diesen Punkt zu klären? Offen gesagt fällt es uns schwer zu glauben, dass es den US-Geheimdiensten im zurückliegenden Jahr nicht gelungen sein soll, ihren Kenntnisstand in diesen Kernfragen zu erweitern.

Es gibt seit langem eine Tendenz in Washington, »to fix the intelligence around the policy«, um das Downing-Street-Memo (Protokoll eines geheimen Treffens der Labour-Regierung mit Geheimdienstvertretern am 23. Juli 2002, jW) im Zusammenhang mit dem unrühmlichen Beginn des Irak-Krieges zu zitieren. In letzter Zeit beobachten wir wiederholt Behauptungen von US-Außenminister John Kerry wie am am 30. August 2013, dass »wir wissen«, das Regime von Baschar Al-Assad sei für die Einsätze von Chemiewaffen neun Tage zuvor in der Nähe von Damaskus verantwortlich. In diesem Fall zitierte Kerry auch eine »Regierungseinschätzung«, um seine Anschuldigungen zu bekräftigen. Wir sahen die Einführung dieses einzigartigen Genres der »Einschätzung« anstelle der normalerweise erforderlichen »Geheimdiensteinschätzung« als Beweis dafür, dass rechtschaffene Geheimdienstanalysten sich weigerten, sich der bevorzugten Darstellung anzuschließen. In der Tat stellte sich heraus, dass Kerrys Anschuldigungen auf falschen und sogar fabrizierten nachrichtendienstlichen Informationen beruhten, die Gegner der syrischen Regierung geliefert hatten.

Enthüllung der Wahrheit

Wenn das Weiße Haus bezüglich MH17 über konkrete, beweiskräftige nachrichtendienstliche Informationen verfügt, dann finden wir, dass es höchste Zeit ist, ihre Freigabe zu genehmigen, bevor die Darstellung, »Russland ist schuld«, alles dominiert. Die US-Bevölkerung ist sehr wohl in der Lage, sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, was passiert ist. Aber sie braucht dazu alle Informationen, die unvoreingenommen und ohne jeden Versuch unterbreitet werden sollten, unangenehme Schlussfolgerungen zu vermeiden. Und das sollte auch trotz des Risikos getan werden, dass dabei »Quellen und Methoden« gefährdet werden könnten, weil der größere Komplex von Krieg oder Frieden mit Russland ein vorrangiges Anliegen für jeden US-Amerikaner sein sollte.

Was wir brauchen, ist ein »Interagency Intelligence Assessment« – ein Mechanismus, den wir in der Vergangenheit angewendet haben, um signifikante Ergebnisse präsentieren zu können. Von einigen unserer ehemaligen Kollegen hörten wir auf indrektem Wege, dass der Entwurf des niederländischen Berichts im Widerspruch steht zu tatsächlich gesammelten nachrichtendienstlichen Informationen. Auf eine weitere Regierungs- (nicht Geheimdienst-) Einschätzung zurückzugreifen, um dem Problem der Verantwortung aus dem Weg zu gehen, das ist nicht angemessen und stellt für sich genommen eine Beleidigung für die Integrität und Professionalität der Geheimdienstler dar.

Mr. Präsident, wir glauben, dass es notwendig ist, dass Sie sich jetzt mit rechtschaffenen Geheimdienstanalysten zusammensetzen und ihnen zuhören, vor allem, wenn sie die vom Gruppendenken bestimmte vorherrschende Darstellung des Flugzeugabsturzes hinterfragen oder gar ablehnen. Diese Analysten könnten auch Sie überzeugen, Schritte zu unternehmen, um sich direkt mit dem Abschuss der Maschine von MH17 auseinanderzusetzen und das Risiko zu minimieren, dass die Beziehungen zu Russland in eine Wiederholung des Kalten Krieges mit der Drohung der Eskalation bis hin zum thermonuklearen Konflikt ausarten. In aller Offenheit sprechen wir die Vermutung aus, dass zumindest einige Ihrer Berater die Ungeheuerlichkeit dieser Gefahr unterschätzen.

Um Antwort wird gebeten.

Unterzeichner

Für die Lenkungsgruppe der Veteran Intelligence Professionals for Sanity (Pensionierte Geheimdienstexperten für den gesunden Menschenverstand):

William Binney, früherer Technischer Direktor der NSA, zuständig in der Abteilung »World Geopolitical and Military Analysis«, Mitbegründer des SIGINT Automation Research Center, im Ruhestand; Thomas Drake, früherer leitender Angestellter, National Security Agency; Daniel Ellsberg, frührerer Beamter des US-Außen- und Verteidigungsministeriums (VIPS-Mitarbeiter); Philip Giraldi, CIA, Operations Officer, i.R.; Matthew Hoh, früherer Hauptmann des United States Marine Corps (USMC), Iraq & Foreign Service Officer, Afghanistan (VIPS-Mitarbeiter); Larry Johnson, CIA und US-Außenministerium, i.R.; John Kiriakou, früherer Antiterrorexperte der CIA; Karen Kwiatkowski, früherer Oberstleutnant der US-Air Force, i.R., Dienst im US-Verteidigungsministerium, Zeugin der Fabrikation der Lügen über Irak von 2001–2003; Edward Loomis, NSA, Informatiker für angewandte Kryptologie, i.R.; David MacMichael, National Intelligence Council, i.R.; Ray McGovern, früherer US-Armee- bzw. Geheimdienstoffizier und CIA-Analyst, i.R.: Elizabeth Murray, Geheimdienstoffizierin im National Intelligence Council, zuständig für den Mittleren Osten, i.R.; Todd E. Pierce, Major des US Army Judge Advocate General’s Corps, der Justizinstanz des US-Heeres, i.R.; Coleen Rowley, Sonderbevollmächtigte und Special Agent des FBI, i.R.; Peter Van Buren, US-Außenministerium, Foreign Service Officer, i.R. (VIPS-Mitarbeiter); Kirk Wiebe, früherer leitender Analyst, SIGINT Automation Research Center, NSA; Ann Wright, Oberst der US-Armee, i.R., Foreign Service Officer im US-Außenministerium (Amt niedergelegt).

Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Heiser

* Aus: junge Welt, Montag, 27. Juli 2015


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