Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

MH17 und die "Operation Helena"

Propaganda und Pragmatik auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg – statt Wahrheit und Gerechtigkeit

Von René Heilig *

Wer am 17. Juli 2014 den Mord an 298 Insassen einer Passagiermaschine verübte, ist umstritten. Das zweistrahlige Flugzeug wurde über der Ostukraine vom Himmel geschossen.

Experten äußerten ihre Meinung über das Schicksal der Boeing 777 der Malaysia Airlines, die vor genau einem Jahr auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur war. Selbsternannte Rechercheure überbieten sich mit immer gleichen Mutmaßungen. Die werden von Medien je nach inhaltlicher Ausrichtung in verschiedener Weise benutzt.

Die ukrainische Regierung und Verantwortliche im Westen vermuten, dass prorussische Rebellen die Maschine mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen haben. Angehörige verklagen einen der Separatistenführer und wollen damit Druck auf Russland ausüben. Moskau aber sieht die Verantwortung in Kiew. Es gibt Theorien über Raketentypen und Attacken von Jagdflugzeugen.

Mit der Aufklärung betraut sind Experten des Onderzoeksraat vor Veiligheid (OVV) in Den Haag. Man wählte die 2005 gegründete, unabhängige niederländische Untersuchungsbehörde für Zwischenfälle, Unfälle und Katastrophen aller Art, weil die meisten Insassen der Boeing niederländische Staatsbürger waren.

Die OVV stellte in einem ersten Zwischenbericht fest, dass Schäden am vorderen Flugzeugteil auf den Einschlag zahlreicher »Objekte mit hoher Geschwindigkeit« von außen hindeuteten, was das Auseinanderbrechen des Flugzeugs in der Luft erkläre. Es gebe keine Hinweise auf Defekte oder Pilotenfehler. Das war am 9. September 2014. Seither herrscht – sachlich gesehen – Schweigen.

Nun hat Malaysia erklärt, man wolle den Abschuss durch ein Tribunal der Vereinten Nationen aufklären lassen. Das südostasiatische Land brachte dazu gemäß Kapitel sieben der UN-Charta einen Resolutionsentwurf in den Sicherheitsrat ein. Russland wies das als übereilt zurück. Es sei keine gute Zeit, der Vorschlag sei kontraproduktiv, erklärte ein Außenamtssprecher der Vetomacht.

Obwohl es keine neuen Fakten gibt, tobt eine erbitterte mediale Schlacht um die Schuldzuweisung. Jeder noch so dümmliche »Beweis« schafft es in Schlagzeilen. Welches Mittel hilft dagegen? Ein Mann namens Edward Bernays rät: »Die beste Verteidigung gegen Propaganda ist mehr Propaganda.« Der US-Amerikaner war ein Neffe von Sigmund Freud. Doch während der Onkel die untergründige menschliche Psyche zu begreifen suchte, schuf der Neffe untergründige Methoden, um das Innere der Menschen zu manipulieren. Das tat er höchst erfolgreich. Beispiel: Das »American Breakfast«. Jeder weiß, dass die US-Bürger zum Frühstück am liebsten Rührei mit Speck und Würstchen verputzen. Das tun sie auch – seit es Bernays im vergangenen Jahrhundert erfunden hat. Er hatte den Auftrag, für eine Fleischfirma Public Relation zu machen. Millionen auf der Welt folgen ihm inzwischen.

FBI-Chef Hoover gehörte ebenso wie General Eisenhower, General Motors, Procter and Gamble und Cartier zu seinen Auftraggebern. US-Präsidenten bedienten sich seiner und die CIA engagierte den in Wien gebürtigen PR-Machiavelli in den fünfziger Jahren für ihren Putsch in Guatemala. Inzwischen sind die geheimen Dienste ihrem Lehrer weit überlegen und Meister beispielsweise im Dirigieren netzaktiver »unabhängiger« Recherchegruppen.

Doch verglichen mit den Erfindern der Propagandawaffe sind sie alle Stümper. 1622 schuf Papst Gregor XV. eine »Congregatio de Propaganda«, um der Irrlehre des Protestantismus zu wehren, erinnert Eva C. Schweitzer in ihrem Buch »Amerikas Schattenkrieger«. Stets hatte jener, der eine Meinung unter die – wie Bernays sagte – »Herde, die geführt werden muss«, zu bringen versteht, die Herrschaft über die Geschichte. Die Kriege gegen Troja wurden im Bewusstsein der Menschen wegen der schönen Helena geführt – nicht weil die Griechen einen Zugang zum Schwarzen Meer verlangten. Die Römer rannten gegen Karthago an, weil dessen Bewohner angeblich ihren Erstgeborenen dem Gotte Baal opferten. Krieg im Namen der Menschenrechte …

Zumindest einen Unterschied zu herkömmlichen Propagandaschlachten gibt es aber in unserer Zeit. Vor allem dank moderner Medien kommt die Wahrheit schneller ans Licht. Doch ist die Lüge auch dann nur noch schwer zurückzuholen. Aus pragmatischer Sicht – nicht aus moralischer – ist das offizielle Schweigen zu den Ursachen des MH17-Verbrechens vielleicht erklärbar. Jeder endgültige und unerschütterliche Beweis einer Täterschaft könnte mehr als nur den notwendigen Minsk-2-Friedensprozess unmöglich machen.

Wir steuern in einen neuen Kalten Krieg. Die NATO und Russland überbieten sich in gefährlicher politischer Unvernunft. Auch wenn es zynisch klingt – die Passagiere des malaysischen Passagierflugzeuges sind ein erster Kollateralschaden. Es braucht mehr als die Wahrheit über MH17, um weitere zu verhindern. Im Moment gibt es nicht mehr als drei Rote Telefone – in Brüssel, in Washington und in Moskau –, aber jede Menge Hitzköpfe, die sich das »amerikanische Frühstück« servieren lassen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 17. Juli 2015


Ukraine streitet nicht nur mit Russland

Kiew beschuldigt Moskau des Flugzeugabschusses, fürchtet Anarchie und hat (k)einen Status für den Donbass

Von Klaus Joachim Herrmann **


Die »Anti-Terror-Operation« in der Ostukraine ist nicht Kiews einziger Konflikt. Abgesehen von der Auseinandersetzung mit Russland werden einige weitere Streitigkeiten im Lande selbst ausgetragen.

Einen »direkten Befehl« der höchsten politischen und militärischen Führung Russlands unterstellte der ukrainische Präsident zum ersten Jahrestag des Abschusses der malaysischen Passagiermaschine am Freitag. Nur so habe »die Hochtechnologiewaffe in die Hände der Terroristen gelangen« können, klärte Petro Poroschenko einmal mehr die Schuldfrage aus seiner Sicht. Die »Mörder« seien zu bestrafen, forderte er mit Blick auf Moskau.

Dort wiederum gehen russische Experten eines Ermittlungsausschusses als »Hauptversion« davon aus, dass die Boeing 777 über der Ostukraine mit einer Luft-Luft-Rakete nicht russischer Produktion abgeschossen wurde, wie dessen Sprecher Wladimir Markin mitteilte. Gemeint ist die Rakete eines ukrainischen Kampfjets.

So wenig vor einem Jahr das Entsetzen über den Tod von 298 unschuldigen Menschen über dem ostukrainischen Kriegsgebiet zu einem betroffenen Innehalten führte, so schlecht und vergiftet bleiben die ukrainisch-russischen Beziehungen. Der Rausschmiss des russischen Generalkonsuls in Odessa aus der Ukraine, den ausgerechnet zu diesem düsteren Jahrestag das Außenministerium in Kiew verkündete, gehört dazu. Geltend gemacht wurden Verstöße gegen die Wiener Konvention. Nimmt man den Hinweis auf »Materialien des Sicherheitsdienstes« hinzu, dann war Spionage gemeint. Nach aller Erfahrung wird nun wohl ein ukrainischer Diplomat persona non grata und als unerwünschte Person aus Russland ausreisen.

»Leichte Beute für den Feind«, werde das Land, befürchtete Präsident Poroschenko aber aus anderen Gründen. Der »Rechte Sektor« machte mit einem Waffengang vor Wochenfrist in der Westukraine und dann mit Kundgebungen mobil. Er geriet unter Putschverdacht. Die Partei des Rechtsextremisten und Ultranationalisten Dmytro Jarosch mochte man Eigenwerbung als Ordnungsmacht gegen Schmuggel und Korruption nicht abnehmen. Auch angesichts von Todesopfern und eines Dutzend Verletzter war sogar bis ins Parlament von »Banditen« die Rede.

»Ich lasse in der Ukraine keine Anarchie zu«, beschwor der Präsident anschließend seine Landsleute nicht nur im transkarpatischen Mukatschewo, sondern auch in Ushgorod und schließlich in Kiew. Vor der Werchowna Rada wiederholte er, dass keine politische Partei ein Recht auf bewaffnete Einheiten oder bewaffnete kriminelle Gruppen habe. Zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Transkarpatien, das mit Grenzen zu Ungarn, der Slowakei und Rumänien auch eine klare europäische Dimension hat, entsandte er den Polizeigeneral Gennadi Moskal.

Wenn er auch Kurs auf die Entmonopolisierung genommen habe, gehöre das Monopol auf Anwendung von Gewalt und Waffen doch dem Staate, versicherte der Präsident. Doch Ordnung wird angesichts der wirtschaftlichen Misere, ungezählter vagabundierender Waffen und kriegserfahrenen Personals nicht leicht durchzusetzen sein. An der Grenze zur »Anti-Terror-Zone« jedenfalls kam eine frisch formierte Kontrollgruppe von Korruption und Schmuggel nicht an Militärposten vorbei. Kaum hatte der Präsident ausgesprochen, machte auch die Runde, dass in seiner Hauptstadt ein Autofahrer die Pistole gegen die Polizei richtete. Zwei Milizionäre wollten seinen falsch geparkten Wagen abschleppen lassen. Da griff der Fahrer zur Waffe, beugte sich dann aber polizeilicher Übermacht.

Wenn schon nicht gleich Anarchie, dann aber doch einige arge Widersprüchlichkeiten barg die ukrainische Politik. So brachte der Präsident unter Berufung auf das Minsker Abkommen eine Verfassungsänderung zum besonderen Status von Gebieten der Ostukraine, der per Gesetz zu regeln sei, in das Parlament ein. Das wurde im Plenum harsch kritisiert. Sogar 20 Abgeordnete der Präsidentenpartei »Blok Poroschenko« verweigerten dem Chef die Gefolgschaft. Doch dann ging das ganze mit großer Mehrheit durch und wurde an das Verfassungsgericht zur Prüfung übergeben. Im Herbst wäre dann bei einer neuen Abstimmung eine Zweidrittelmehrheit für die neue Verfassung nötig.

Die Vertreter der »Volksrepubliken« im Donbass kritisierten, dass die Änderung nicht ausreiche und es keine gemeinsamen Gespräche über die Änderungen gegeben habe. Zudem versicherte Poroschenko auch noch unmissverständlich, dass es keinen Sonderstatus für die Ostukraine geben werde. Auch sei von niemandem Druck auf die Ukraine ausgeübt worden. Zuvor hatte noch die Vizechefin des Parlaments sogar über einen »wahnsinnigen Druck« geklagt. Dafür könnte in erheblichem Maße, so wollten es örtliche Medien wissen, die extra angereiste US-Europabeauftragte Victoria Nuland gesorgt haben. Sie verfolgte offiziell als Gast die Debatte.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 18. Juli 2015

Starker Mann: Gennadi Moskal

Von Klaus Joachim Herrmann

Nimmt man es militärisch, dann kommt Gennadi Moskal direkt von der Front. Er führte von Herbst 2014 bis Frühjahr 2015 die staatliche Verwaltung des Gebietes Lugansk und war dort anschließend Chef der «militärisch-zivilen Administration». Wenn auch im Ruhestand, wird der Generalleutnant der Miliz sein strategisches und taktisches Wissen nicht vergessen haben. Er war ja nicht grundlos der starke Mann Kiews ausgerechnet an der Grenze der von Aufständischen kontrollierten ostukrainischen Konfliktzone. Die nennt die Zentralmacht ganz bewusst Gebiet der «Anti-Terror-Operation».

Nun wurde Moskal in den Westen nach Transkarpatien verlegt. Der Verdacht auf die Eröffnung einer zweiten Front liegt nahe. Denn dort soll er nach dem ausdrücklichen Willen seines Präsidenten Petro Poroschenko als neuer Chef der staatlichen Gebietsverwaltung «Ordnung schaffen». Das taten am 11. Juli angeblich auch schon Kämpfer des extremistischen «Rechten Sektors» in tödlichen Schusswechseln mit der staatlichen Miliz und vorgeblichen Kämpfern des Abgeordneten Michail Lano von der Partei «Wille des Volkes». Sie wurden der Korruption und des Schmuggels bezichtigt, die Rechtsextremisten selbst aber auch.

Der auf seiner Webseite freundliche Herr mit der ukrainischen Stickerei auf dem weißen Hemd murrte schon einen Tag vor der Entsendung: «Transkarpatien erfüllt den Plan der Mobilisierung zu 30 Prozent, aber zur gleichen Zeit fährt durch das Zentrum von Ushgorod ein Jeep mit Granatwerfer wie in Somalia.» Die Rechtsextremisten sollten nicht auf Schonung hoffen. Schon im Donbass beschuldigte Moskal deren Waffengefährten vom Faschistenbataillon Aidar« übelster Gewalttaten.

Mit den zeitgleich neu eingesetzten Chefs für Inneres und den Geheimdienst bilde der »hypererfahrene General Moskal« eine »mächtige Formation« lobte Innenminister Arsen Awakow. Hinzu kommt Ortskenntnis. Moskal war 1995 bis 1997 Chef des Inneren und 2001 bis 2002 Gouverneur in Transkarpatien.

nd, 18.07.2015




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