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Virtuelle Wahrheiten im ZDF

Kronzeuge im jüngsten Bilderstreit um Boeing-Absturz betreibt Bildforensik als "Hobby". Experten kritisieren Analyse des "Bellingcat"-Rechercheportals

Von Stefan Huth *

Der Aufmacher auf Spiegel online vom Montag morgen schlug hohe Wellen. Unter der Überschrift »Forensische Analyse: Kreml hat offenbar Satellitenfotos zu MH-17-Absturz gefälscht«, wurde dort über angebliche Manipulationen des russischen Verteidigungsministeriums im Zusammenhang mit dem Absturz der malaysischen Boeing im Juli 2014 berichtet (siehe jW vom 3.6.). Das Nachrichtenportal berief sich dabei auf eine aktuelle Untersuchung des britischen Recherchenetzwerks »Bellingcat«, derzufolge Satellitenfotos vom Abschussgebiet in der Ostukraine mit Bildbearbeitungsprogrammen verfälscht worden seien. Die »Analyseergebnisse« zirkulierten schnell in bundesdeutschen Medien und waren auch auf prominenten Plätzen fast aller öffentlich-rechtlichen Sender Gegenstand ausführlicher Berichterstattung.

Als Verfasser der »forensischen Analyse« wird in dem Papier selbst ein Timmi Allen genannt, der am Montag nicht nur in der »Aktuellen Stunde« des WDR-Fernsehens ausführlich zu Wort kam, sondern auch für die ZDF-Nachrichtensendung »Heute« am heimischen Arbeitsplatz interviewt wurde. Hinter dem als »investigativer Journalist« (WDR) bzw. »Internetaktivist« (ZDF) Eingeführten verbirgt sich Olaf Neitsch – ein Mann mit vielfachen Begabungen und einer bewegten Vergangenheit, wie jW-Recherchen ergaben. Bis 1989 war er nach Auskunft ehemaliger Kollegen bei der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Berlin-Treptow beschäftigt. Neitsch selbst bestritt das auf jW-Nachfrage jedoch. Nach dem Anschluss der DDR versuchte er sein Glück zeitweise als Kneipier in Bernau und wechselte später in die Versicherungsbranche. Bei der Deutschen Krankenversicherung (DKV) taucht er online als Mitarbeiter auf (olaf-neitsch.dkv.com), auskunftsfreudiger ist sein Werbeauftritt für die Ergo-Versicherung, wo er nach dem Motto »Versichern heißt verstehen!« als »Organisationsleiter (Werbekolonnen)« in Ahrensfelde bei Berlin den Verkauf von Policen koordiniert.

Aber auch sonst ist Neitsch in den Sphären des World Wide Web kein unbeschriebenes Blatt, im Gegenteil: In Sachen Internet scheint er über eine besondere Expertise zu verfügen, die ihn bei »Bellingcat« empfohlen haben mag: Für das Onlinespiel »Second Life« (deutsch: zweites Leben) bietet er über seine Firma »Virtual Services« Tier- und Landschaftsbilder zum Verkauf an. Die Mitarbeit bei »Bellingcat« betreibt Neitsch nach eigener Auskunft als Hobby.

Ein Versicherungsvertreter aus Ahrensfelde fordert die Weltmacht Russland heraus, ein Amateurkriminalist als Kronzeuge in einem Konflikt von weltpolitischen Dimensionen. Eine schöne Geschichte für die simulierten Lebenswelten von »Second Life«, vielleicht. Doch das ZDF, das laut Auskunft der Pressestelle über Neitschs beruflichen Hintergrund informiert war, sah sich nicht bemüßigt, dessen Kompetenz zu hinterfragen.

Spiegel online hat unterdessen ein Update unter den Artikel gesetzt, der den jüngsten Bilderstreit um MH17 in Gang gesetzt hat. Jens Kriese, ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der digitalen Bildforensik, kommt zu dem Schluss: »Bellingcat betreibt Kaffeesatzleserei. Die Error Level Analyse ist eine Hobbymethode.« Auch Neal Krawetz, der Gründer der Website FotoForensic.com, auf die sich Bellingcat beruft, ging auf Distanz: Die Schlussfolgerungen des Netzwerks seien ein gutes Beispiel, »wie man eine Analyse nicht machen sollte«. Vielleicht lässt auch das ZDF im Nachgang einmal einen Experten zu Wort kommen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 04. Juni 2015


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