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Türkei greift Syrien an

Nachbarland bombardiert. Ankara vereinbart mit Washington Flugverbotszone und stellt dafür Luftwaffenstützpunkt zur Verfügung

Von Nick Brauns, Izmir *

Am frühen Freitag morgen hat die Türkei das Nachbarland Syrien bombardiert. Kampfflugzeuge griffen mehrere Ziele des »Islamischen Staates« (IS) an, wie ein Regierungssprecher bekanntgab. Dabei seien Stützpunkte der Dschihadisten zerstört worden. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu erklärte, die am Freitag begonnenen Einsätze seien »kein Einzelfall« und würden fortgeführt.

Die syrische Regierung hat die Angriffe kritisiert. »Syrien kann auf seinem Boden keine türkische Aktion akzeptieren«, sagte Vizeaußenminister Faisal Al-Mikdad am Freitag laut Al-Watan. Die Türkei müsse die Souveränität Syriens respektieren.

Dem Luftangriff vorausgegangen war am Donnerstag ein Gefecht zwischen der türkischen Armee und IS-Einheiten im türkisch-syrischen Grenzgebiet bei Kilis. Fünf Islamisten hätten, nachdem Soldaten sie daran gehindert haben sollen, über die Grenze zu gelangen, auf einen Posten geschossen. Dabei sei ein Soldat getötet worden, heißt es in einer Erklärung des Militärs. Die türkischen Truppen erwiderten das Feuer mit Panzern und Artillerie und töteten einen IS-Kämpfer.

Bereits am Mittwoch sollen sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein US-amerikanischer Amtskollege Barack Obama während eines Telefonats geeinigt haben, dass die US-geführte Anti-IS-Allianz ab August den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik bei Adana nutzen darf. Das berichtete die Zeitung Hürriyet Daily News am Donnerstag unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten US-Regierungsbeamten.

Bislang musste das Kriegsbündnis für seine Luftangriffe auf Stützpunkte in den Golfstaaten zurückgreifen, die 2.000 Kilometer von der in Syrien gelegenen Hauptstadt des IS, Al-Rakka, entfernt liegen. Von Incirlik aus beträgt die Entfernung dagegen nur 400 Kilometer. Aus dem Weißen Haus hieß es lediglich, beide Seiten hätten sich auf Maßnahmen zur Sicherung der türkischen Grenze sowie gegen die Bewegungen »ausländischer Kämpfer« geeinigt. Der türkische Vizeministerpräsident Bülent Arinc bestätigte eine Übereinkunft, nannte aber ebenfalls keine Details.

Nach Informationen von Hürriyet Daily News willigten die USA in die türkische Forderung nach einer Flugverbotszone ein. In einem Korridor von 90 Kilometern Länge und 50 Kilometern Tiefe westlich der vom IS kontrollierten Stadt Dscharabulus sollen Flugzeuge der syrischen Luftwaffe abgeschossen werden. Damit sollen die von der Türkei und den USA unterstützten sogenannten gemäßigten Rebellen – eine Koalition unter Einschluss von Al-Qaida-Kräften – beim Kampf gegen die syrische Regierung von Präsident Baschar Al-Assad geschützt werden. Ankara hatte bislang die Öffnung von Luftwaffenstützpunkten an die Bedingung geknüpft, dass von dort ausgehende Kampfeinsätze sowohl gegen den IS als auch die syrische Regierung gerichtet sein müssten.

In den vergangenen Wochen hatte die Türkei ihre Truppen entlang der Grenze nach Syrien erheblich verstärkt, Regierungsvertreter drohten mit einem Einmarsch – um die angeblich bevorstehende Bildung eines kurdischen Staates im Norden Syriens zu verhindern. Auch der jetzt beschlossene Bau einer 150 Kilometer langen Mauer zur Grenzsicherung soll sich nicht nur entlang der vom IS gehaltenen Gebiete, sondern auch entlang der kurdischen Selbstverwaltungskantone erstrecken.

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. Juli 2015


Terror und Täuschung

Türkei greift IS-Stellungen in Syrien an

Von Sevim Dagdelen **

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lässt Stellungen der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) in Syrien bombardieren. Es ist fraglich, ob dies einen grundlegenden Wandel in der Syrien-Politik Ankaras einleitet. Vieles deutet darauf hin, dass es sich lediglich um ein großangelegtes Täuschungsmanöver handelt. Nach dem Anschlag des IS in Suruc steht Erdogans AKP-Regime massiv unter Druck. Denn es ist offensichtlich: IS und AKP arbeiten zusammen bzw. verfolgen zumindest gemeinsame Interessen, wenn es um Angriffe auf die kurdische Selbstverwaltung und ihre Unterstützer geht. Mit den Bombardements auf IS-Stellungen im Nachbarland tritt Zauberlehrling Erdogan nun die Flucht nach vorn an. Nach den Niederlagen bei Giri Spi (arabisch: Tal Abyad) und bei Heseke (Al-Hasaka), wo kurdische Selbstverteidigungseinheiten gemeinsam mit syrischen Regierungstruppen Einheiten des sogenannten Islamischen Staates eingekesselt haben, erfüllt der IS seine Funktion für Ankara, die syrische Regierung zu schwächen und die kurdische Selbstverwaltung zu zerschlagen, nur noch in unzureichender Weise. Erdogan nimmt jetzt die Sache selbst in die Hand. Er lässt den IS gerade zwischen den beiden kurdischen Kantonen Efrin und Kobani angreifen. Offenbar soll ein territorialer Zusammenschluss wie im Fall von Kobani und Cizire an der irakischen Grenze verhindert werden. Dazu will die Türkei wie seit 2012 gefordert eine Pufferzone nördlich der syrischen Großstadt Aleppo einrichten.

Zugleich will Erdogan eine Flugverbotszone im Norden Syriens durchsetzen. Die richtet sich allein gegen die syrischen Regierungstruppen, denn der IS selbst verfügt über keine Luftstreitkräfte. Ein NATO-Bündnisfall rückt in greifbare Nähe. Zudem erhalten so die mit Erdogan verbündeten islamistischen Gotteskrieger der »Ahrar Al-Scham« einen Rückzugsraum. Seit geraumer Zeit versucht Ankara diese Terrortruppe dem Westen als »moderate Rebellen« für einen Regime-Change in Syrien schmackhaft zu machen. Doch »Ahrar Al-Scham« ist verantwortlich für zahlreiche Massaker an Minderheiten in Syrien. Die Gruppe eroberte in diesem Jahr gemeinsam mit Al-Qaida einen Teil des Nordens Syriens und hat die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates zum Ziel.

Mit seiner fortgesetzten Unterstützung für islamistische Terroristen in Syrien und seiner Interventionspolitik gegen die Kurden riskiert Präsident Erdogan offen den Bürgerkrieg in seinem Land. Ganz nach dem Motto: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Auch etliche Anhänger der AKP träumen von einem Gottesstaat Türkei. Angesichts dieses Szenarios braucht es Widerstand gegen den Krieg und die Terrorpolitik des Westens an der Seite Ankaras und der Golfdiktaturen.

Sevim Dagdelen ist Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke für Internationale Beziehungen und Vizevorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe.

** Gastkommentar in jW, 25.07.2015




Erdogan sucht Eskalation

Eine Tote und Hunderte Verhaftete nach Razzien in der Türkei

Von Thomas Eipeldauer ***


Mit mehr als 5.000 Beamten ist die Polizei in der Türkei am Freitag morgen bei großangelegten Razzien in mehreren Städten des Landes sowohl gegen linke Gruppierungen als auch gegen Sympathisanten der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) vorgegangen. Helikopter und gepanzerte Fahrzeuge kamen zum Einsatz, Spezialeinheiten stürmten Wohnungen und Vereinsräumlichkeiten in Bursa, Istanbul, Antalya und Izmir. Ersten Erkenntnissen zufolge befinden sich unter den Verhafteten auch 37 Ausländer. In Istanbul wurde ein Mensch während der Razzien getötet. Die türkischen Behörden behaupten, die junge Frau habe bewaffnet Widerstand gegen ihre Verhaftung geleistet. Das linke Anwaltsbüro Halkin Hukuk Bürosu (HHB) schreibt dagegen, es habe sich um eine »Hinrichtung« gehandelt.

Hintergrund der Repressionen, die sich hauptsächlich gegen die marxistisch-leninistische Volksbefreiungsfront (DHKP-C) und die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) richteten, ist das Massaker von Suruc. In der südosttürkischen Stadt hatte am vergangenen Montag ein mutmaßlicher IS-Selbstmordattentäter 32 Menschen mit in den Tod gerissen, die auf dem Weg in die zerstörte syrisch-kurdische Stadt Kobani waren. Dort wollten sie Hilfe beim Wiederaufbau leisten. Unmittelbar nach dem Anschlag erklärten kurdische und türkische linke Gruppierungen, dass die Regierungspartei AKP eine Mitschuld an dem Tod der 32 sozialistischen Aktivisten trage und man sie zur Verantwortung ziehen werde. »Die AKP unterstützt nicht nur den IS, sie führt auch selbst Massaker durch«, ließ das Exekutivkomitee der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, verlauten.

Nach der Bluttat kam es in der gesamten Türkei zu – teilweise bewaffneten – Massenprotesten, bei denen sich eine erstaunliche Einigkeit zwischen den ansonsten zerstrittenen Fraktionen der kurdischen und türkischen Linken zeigte. Der militärische Arm der PKK, die Hêzên Parastina Gel (HPG), tötete bei »Strafaktionen« in der Stadt Ceylanpinar zwei Polizisten. Die Jugendorganisation der PKK, YDG-H, bekannte sich zur Tötung von zwei IS-Sympathisanten. Der sogenannte Friedensprozess zwischen der AKP-Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung, den das türkische Militär ohnehin immer wieder verletzt hatte, dürfte nach den neuesten Entwicklungen endgültig gescheitert sein.

Ankara ist nun bemüht, die Razzien verschwörungstheoretisch als einen Schlag gegen einen vermeintlichen »Parallelstaat« darzustellen. »Worum es tatsächlich geht, ist, dass die Regierung sich vor der Dynamik der linken Bewegung nach Suruc fürchtet. Sie will die Eskalation. Erdogan will den Bürgerkrieg«, erklärte ein linker Aktivist aus Istanbul, der anonym bleiben wollte, gegenüber junge Welt. Unmittelbar nach den Razzien kam es erneut in mehreren Stadtteilen Istanbuls zu Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 25. Juli 2015


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