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Punktsieg für "Prekäre"

Polnisches Verfassungsgericht erlaubt Gewerkschaften, atypisch Beschäftigte aufzunehmen. Erster Schritt zur Reregulierung des Arbeitsmarktes?

Von Reinhard Lauterbach *

Das polnische Verfassungsgericht hat ein Grundsatzurteil gegen die übermäßige Deregulierung des Arbeitsmarktes erlassen. In der am Dienstag nach nur 30minütiger Beratung und damit wohl ohne große Diskussion des Gerichts ergangenen Entscheidung heißt es, auch Beschäftigten mit Werk- und Dienstleistungsverträgen sowie Selbständigen müsse es erlaubt sein, Gewerkschaften beizutreten oder neue zu gründen. Die Bestimmung des geltenden Gewerkschaftsgesetzes, wonach nur solche Beschäftigten als »Arbeitnehmer« gälten, die aufgrund von regulären Arbeitsverträgen beschäftigt sind, wurde für verfassungswidrig erklärt. Außerdem widerspreche sie geltenden europäischen und internationalen Arbeitsschutzkonventionen, denen Polen beigetreten ist. Geklagt hatte der sozialdemokratisch orientierte Gewerkschaftsdachverband OPZZ.

Das Urteil ist ein Schlag gegen den Wildwuchs »atypischer Beschäftigungsverhältnisse«, der den polnischen Arbeitsmarkt seit dem Beginn der kapitalistischen Transformation kennzeichnet. Nach Gewerkschaftsschätzungen sind rund vier Millionen Menschen auf Grundlage von Werkverträgen oder als Scheinselbständige tätig, obwohl sie die gängigen Kriterien für den Status als »Arbeitnehmer« erfüllten, etwa Weisungsgebundenheit und Abhängigkeit von einem einzelnen Auftraggeber. Diese Verträge werden in der Regel befristet abgeschlossen, oft nur für Monate. Sozialabgaben werden von den Auftraggebern nicht abgeführt, die Krankenversicherung müssen die Beschäftigten allein tragen, für Altersvorsorge bleibt meist kein Geld übrig. Ein Recht auf Urlaub oder Lohnfortzahlung bei Krankheit gibt es auch nicht. Viele, gerade Berufsanfänger, hangeln sich so über Jahre von Zeitvertrag zu Zeitvertrag; eine im Prinzip auch in Polen geltende Bestimmung darüber, dass Kettenverträge unzulässig sind, wird von Auftraggebern immer wieder dadurch umgangen, dass zwischen zwei Kontrakte einmonatige Pausen eingebaut werden oder jedesmal eine andere Firma als Auftraggeber fungiert. Der Volksmund nennt dieses System »Drecksverträge«, weil sich die so Beschäftigten wie Dreck behandelt fühlen. Das – ungedeckte – Versprechen, diese Zustände abzuschaffen, war im zurückliegenden Präsidentenwahlkampf eines der Themen, mit denen der Wahlsieger Andrzej Duda von der konservativen Oppositionspartei PiS punkten konnte.

Selbst in regierungsnahen Denkfabriken ist inzwischen die Erkenntnis angekommen, dass dieses System prekärer Beschäftigung nicht nur für die davon Abhängigen schlecht ist, sondern auch für die Volkswirtschaft nicht dauerhaft von Vorteil. Auf die deregulierten Arbeitsverhältnisse bei niedrigen Löhnen wird z. B. die Emigration von Millionen gerade junger und gut ausgebildeter Polen ins westeuropäische Ausland zurückgeführt, die inzwischen in manchen Bereichen zu Fachkräftemangel – und durchaus zu sektoralen Lohnsteigerungen – geführt hat. In polnischen Stellenanzeigen wird häufig schon die Tatsache, dass ein Beschäftigungsverhältnis als »Arbeitnehmer« geplant ist, als Teil des Angebots angepriesen. Konservative weisen im übrigen in lichten Momenten nicht ohne Berechtigung darauf hin, dass die in Polen auf ähnlich niedrigem Niveau wie in Deutschland liegende Geburtenrate womöglich damit zusammenhängt, dass eine Lebensperspektive von Quartal zu Quartal wenig dazu einlädt, Familien zu gründen. Erkannt wird allmählich auch: Eine Entwicklungsstrategie, die das Land einzig als Niedriglohnstandort und als Ansammlung unternehmenssteuerfreier Sonderwirtschaftszonen zu profilieren versucht, ist wenig nachhaltig und droht, den Status als verlängerte Werkbank ausländischer Konzerne zu verewigen. Ein auch nach sozialen Kriterien moderner Industriestandort kann so nicht geschaffen werden.

Mehr als ein politisches Signal ist das Urteil des Verfassungsgerichts dennoch nicht. Es eröffnet den Gewerkschaften die Möglichkeit, sich zu öffnen und damit den in Polen auf sechs Prozent der Beschäftigten gesunkenen Organisationsgrad wieder zu erhöhen. Den »Prekären« bietet das Urteil neben dem Recht, sich zu organisieren, einige kleinere rechtliche Verbesserungen. So könnten sie künftig Streitigkeiten mit ihren Arbeit- bzw. Auftraggebern vor den Arbeitsgerichten ausfechten und wären nicht auf den wesentlich teureren zivilen Rechtsweg angewiesen. Ob sie dadurch materiell bessere Chancen auf eine Stabilisierung ihrer Beschäftigungsverhältnisse erhielten, ist eine andere Frage.

Die Reaktion der polnischen Unternehmerverbände auf das Urteil war erstaunlich gelassen. Wenn es Beschwerden gab, dann darüber, dass mit einer Stärkung der Gewerkschaften die von den Unternehmen zu tragenden Kosten für Freistellungen und laufenden Bürobetrieb anwachsen würden. Ein Kapitalvertreter versuchte das Urteil sogar ins Positive zu wenden: Wenn sich die prekär Beschäftigten jetzt organisieren dürften, dann sei ja Gewerkschaften und Politik wohl das grundsätzliche Argument gegen diese Arbeitsverhältnisse aus der Hand geschlagen, und die Polemik gegen die »Drecksverträge« müsse jetzt aufhören. Er erinnerte damit unbeabsichtigt an eine alte marxistische Weisheit: Das Recht auf irgend etwas ist nicht dasselbe wie dessen materielle Durchsetzung. Die polnischen Gewerkschaften haben eine kleine Schlacht gewonnen, ihr Kampf für stabilere Beschäftigungsverhältnisse steht erst am Anfang.

* Aus: junge Welt, Freitag, 5. Juni 2015


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