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"Sozialpartnerschaft bringt uns nichts"

Bei Amazon im polnischen Poznań hat sich die Wut der Beschäftigten über die schlechten Arbeitsbedingungen in einem "wilden Streik" entladen. Gespräch mit Lidia G. *


Lidia G. Ist Aktivistin der Basisgewerkschaft »Inicjatywa Pracownicza« (Arbeiterinitiative, jW) bei Amazon in Poznań/Polen.

Gerade hat Amazon in Polen eine Lohnerhöhung angekündigt. Kann man Ihnen gratulieren?

Dieses Gehaltsplus wäre nicht gekommen ohne den Druck der Beschäftigten. Amazon wird natürlich immer erklären, es sei alles freiwillig und aus eigener Initiative der Firma gewährt, aber das kennen unsere deutschen Kollegen auch: Sie fordern etwas, und ein halbes Jahr später geht Amazon darauf ein – angeblich ohne Zusammenhang zu den Kämpfen.

Wie ist Ihr Kontakt zu den Kollegen bei Amazon Deutschland zustande gekommen?

Als die Ansiedlungspläne von Amazon in Polen bekannt wurden, gab es eine Menge Artikel in den Medien, in denen Amazon als »Arbeitslager« dargestellt wurde. Da wurde auch berichtet, dass die deutschen Beschäftigten ständig streiken müssen. Die Kommunikation aufzunehmen war dann nicht mehr schwierig, das lief über Unterstützergruppen und Leute, die in den Betrieben arbeiten und bei ver.di organisiert sind. Unsere Kontakte in Deutschland sind überwiegend gewöhnliche Beschäftigte, die kämpferisch genug sind zu streiken, keine Funktionäre. Wir waren im Frühjahr in Bad Hersfeld, später kamen die deutschen Kollegen zu uns. Wir waren zusammen auf der Demonstration »Wir, das Prekariat« in Warschau Ende Mai, und wir planen für den September ein internationales Beschäftigtentreffen von Amazon. Nicht als Kooperation von Gewerkschaftsapparaten, sondern als Zusammenkommen der Angestellten, also der Basis.

Neulich haben Sie auch eine Solidaritätsaktion mit den streikenden deutschen Kollegen veranstaltet ...

Als die im Juni die Arbeit niedergelegt hatten, ordnete unsere Geschäftsleitung plötzlich an, die Schichten auf elf Stunden täglich zu verlängern. Wir sollten also Streikbrecherarbeit machen. Das machten wir den Kollegen auf Flugblättern deutlich. Wir waren auch mit Streik-T-Shirts im Betrieb und machten den Arbeitskampf in Deutschland zum Gesprächsthema. In dieser Situation ist ein sogenannter wilder Streik ausgebrochen – den haben nicht wir organisiert, was wir als Gewerkschaft auch gar nicht dürfen. Es war eine spontane Aktion aus Wut über die angeordneten Überstunden, während die deutschen Kollegen im Ausstand waren. Sie zeugte von der großen Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen. Und der Gedanke der Solidarität war ganz wichtig, denn als früher Überstunden angeordnet wurden, hat es keinen derartigen Protest gegeben.

So ging das also allein von der Basis aus?

Ja. Wir als Gewerkschaft haben das erst im nachhinein zum Anlass genommen, einen »Kollektivkonflikt« zu erklären. Denn wir müssen uns schließlich an die Gesetze halten. Aber gleichzeitig unterstützen wir Arbeiterproteste und Kämpfe aller Art.

Wie ist das soziale Profil der Belegschaft? Sind das Personen mit hoher Qualifikation oder einfach nur Leute, die nichts anderes finden?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt sehr viele Leute aus der Provinz, die mit Werkbussen im Umkreis von fast 100 Kilometern eingesammelt werden. Aber es finden sich auch Hochschulabsolventen, die bei Amazon einfache Arbeiten verrichten. Die Belegschaft ist relativ jung, im Schnitt um die 30 Jahre alt, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass die Arbeit sehr anstrengend ist. Ältere Leute schaffen es einfach nicht, in zehn Stunden 20 Kilometer zu laufen. Selbst auf der untersten Ebene sind durchaus erhebliche Qualifikationen gefragt: Englisch- und Computerkenntnisse, manche müssen den Gabelstaplerführerschein haben.

Wie bringen Sie diese unterschiedlichen Leute zusammen?

Manche verteilen in den Werkbussen auf der Rückfahrt unsere Flugblätter und diskutieren mit den Kollegen darüber. Sie nutzen einfach die Stunde, die man nach der Arbeit in diesen Bussen noch zusammen ist. In unserem Vorstand ist ein Kollege, der keinen Computer bedienen kann, aber einen solchen Rückhalt im Betrieb hat, dass die Leute ihn einstimmig unterstützen, wenn er zum Beispiel Unterschriften sammelt. Er stammt aus einem eher proletarischen Kontext, aber wir haben in der Gewerkschaft auch einen Jurastudenten, der Waren in die Regale stellt und uns mit seinen Kenntnissen unterstützt.

Gibt es in Ihrem Betrieb noch andere Gewerkschaften?

Im Moment sind wir die einzige Arbeiterorganisation in der Einheit in Poznań. Letzte Woche haben wir eine Flugblattaktion vor dem Betrieb in Wrocław gemacht – dort gibt es eine Abteilung der Solidarność, die aber auf Sozialpartnerschaft gebürstet ist. Hier in Poznań habe ich von denen noch niemanden gesehen.

Sie haben also keinen Kontakt zu den Solidarność-Kollegen in Wrocław?

Die Solidarność bei Amazon in Wrocław ist im Januar entstanden, also nach uns. Wir haben ihnen einen Brief geschrieben und unsere Solidarität für den Fall zugesagt, dass es dort Repressionen gegen Gewerkschafter geben sollte. Wir erhielten keine Reaktion. Erst nach unserem Bummelstreik kam von dort ein Brief, in dem Besorgnis über unsere Kampfmethoden ausgedrückt wird. Sie setzten auf Dialog und Kooperation mit der Geschäftsleitung, und wir operierten am Rande der Legalität. Sie haben also gleich ganz dickes Geschütz aufgefahren und sind uns damit natürlich in den Rücken gefallen, und das mitten in einem betrieblichen Konflikt. Wir halten es für äußerst naiv anzunehmen, dass man mit Sozialpartnerschaft weiterkommt.

Interview: Reinhard Lauterbach, Nekielka

* Aus: junge Welt, Dienstag, 28. Juli 2015


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