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Vor dem Verhungern

Humanitäre Katastrophe durch Krieg im Jemen

Von Gerrit Hoekman *

Der Jemen steht vor einer humanitären Katastrophe. »Seit im März 2015 der Konflikt eskalierte, ist die ohnehin schon hohe Zahl der Hungernden täglich um 25.000 gestiegen und hat mittlerweile 13 Millionen erreicht – die Hälfte der Gesamtbevölkerung«, schlug die Hilfsorganisation Oxfam am Mittwoch in einer Presseerklärung Alarm. Jeder zweite »könnte verhungern, wenn sich die Versorgungslage nicht entscheidend verbessert«. Die Organisation fordert die Vereinten Nationen auf, ihre Anstrengungen um eine Waffenruhe zu verstärken. Nur dann können dringend benötigte Hilfsgüter die Menschen erreichen.

In dem Land an der Südspitze der Arabischen Halbinsel hatten schiitische Ansarollah-Rebellen, die in westlichen Medien meist als »Huthis« bezeichnet werden, im Januar die Hauptstadt Sanaa erobert und den amtierenden Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi in die Flucht geschlagen. Saudi-Arabien, das dem Präsidenten Asyl bot, will einen von Schiiten regierten Staat an seiner Südgrenze unbedingt verhindern. Im März begann das sunnitische Königreich mit Luftangriffen gegen die Ansarollah. Unterstützt wird die erzkonservative Golfmonarchie dabei von anderen arabischen Scheichtümern in der Region. Nach Angaben der Weltgesundheitsbehörde WHO sind in dem Krieg bis jetzt 4.000 Tote zu beklagen, die Hälfte von ihnen Zivilisten. 20.000 wurden verletzt.

Oxfam macht neben den Kämpfen und Bombenangriffen auch die Seeblockade, die Saudi-Arabien und seine Alliierten über das Land verhängt haben, für die schlimme Versorgungslage verantwortlich: »Der Jemen ist darauf angewiesen, 80 Prozent der benötigten Nahrungsmittel zu importieren, doch seit März sind nur 20 Prozent ins Land gekommen.« Besonders schlimm ist die Lage offenbar in der Provinz Saada, wo nach UN-Angaben 80 Prozent der Bevölkerung hungern.

»Die Nahrungsmittelknappheit treibt die Preise mit Steigerungen von bis zu 274 Prozent in unerschwingliche Höhen. Viele Einwohner haben seit Monaten kein Einkommen mehr«, schreibt Oxfam. Um über die Runden zu kommen, müssen Bauern ihr Vieh weit unter Wert an skrupellose Händler verkaufen, haben Mitarbeiter der Organisation bei einem Besuch in der Provinz Hajjah festgestellt.

Hilfsgüter für drei Millionen Jemeniten stehen offenbar bereit, aber um sie zu den Menschen zu bringen, wäre zunächst eine stabile Waffenruhe nötig. Das mahnte UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien am Mittwoch vor dem UN-Sicherheitsrat an. Der letzte Versuch war am Dienstag gescheitert, nachdem im Süden des Landes die Kämpfe unvermindert fortgesetzt wurden und Saudi-Arabien seine Luftschläge am Dienstag fortsetzte.

O'Brien erinnerte noch einmal an den verheerenden Raketenangriff auf Arbeiterunterkünfte in der Hafenstadt Mokha vom 24. Juli, bei dem mindestens 73 Zivilisten umkamen, darunter bis jetzt zehn Kinder: »Immer noch werden Körper unter den Trümmern hervorgezogen, und die endgültige Zahl der Toten ist noch unbekannt«, sagte O'Brien. Saudi-Arabien hatte daraufhin einen einseitigen Waffenstillstand angekündigt, den die Rebellen als Versuch werteten, von dem brutalen Luftkrieg abzulenken. Sie lehnten ab.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch bewerten den Luftangriffe der saudi-arabischen Allianz als Kriegsverbrechen. Das angebliche Ziel, ein Elektrizitätswerk, habe keine militärische Bedeutung gehabt. Insgesamt sind bei dem bisher schlimmsten Bombardement im Krieg um den Jemen wohl weit mehr als 100 Menschen umgekommen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Juli 2015


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