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Abes hohle Phrasen

70. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima: Mahnung zum Frieden und Forderung nach kernwaffenfreier Welt

Von Michael Streitberg *

Eine Welt ohne Nuklearwaffen: Auf dieses Ziel konnten sich am gestrigen Jahrestag des Atombombenangriffs auf Hiroshima alle politischen Lager einigen. Zu einer Zeremonie an der Gedenkstätte für die Opfer der Katastrophe versammelten sich laut der Tageszeitung Asahi Shimbun (Onlineausgabe) circa 55.000 Menschen. Auch Überlebende und ihre Angehörigen sowie diplomatische Vertreter aus etwa 100 Staaten waren an der Gedenkstätte für die Opfer der Katastrophe zusammengekommen. Sowohl Premierminister Shinzo Abe als auch Hiroshimas Bürgermeister Kazumi Matsui riefen in Ansprachen dazu auf, Anstrengungen zur nuklearen Abrüstung zu unternehmen.

Hinsichtlich ihrer Tonlage unterschieden sich die beiden Redebeiträge jedoch deutlich. Shinzo Abe erinnerte in sehr allgemeinen Worten an die etwa 140.000 durch den Angriff unmittelbar zu Tode gekommenen Menschen und das unermessliche Leid der Überlebenden. Laut der Japan Times (Onlineausgabe) erklärte der Regierungschef zudem, Japan werde »seine Anstrengungen, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, noch weiter verstärken«. Des weiteren kündigte er an, dass sein Land der UN-Generalversammlung im Herbst eine Resolution zur vollständigen Beseitigung von Atomwaffen vorlegen wolle. Angesichts des Militarisierungskurses und des nationalistischen Säbelrasselns, von dem Abes Politik abseits solcher Bekenntnisse geprägt ist, sind diese Beteuerungen für viele Japaner jedoch nicht mehr als hohle Phrasen.

Erst im Juli hatte Abes Regierungskoalition aus seiner rechtskonservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) und der buddhistischen Komeito ein neues Sicherheitsgesetz verabschiedet. Dieses erlaubt der als »Selbstverteidigungsstreitkräfte« bezeichneten Armee des Landes Auslandseinsätze an der Seite seiner Verbündeten, wenn diese angegriffen werden. Laut verschiedener Umfragen lehnt eine Mehrheit der japanischen Bevölkerung dieses Gesetz ab und bezweifelt zudem, dass es im Einklang mit der pazifistischen Verfassung des Landes steht. Artikel 9, dessen umfassende »Neuinterpretation« bereits im vergangenen Jahr beschlossen wurde, verbietet Japan (abgesehen von einem beschränkten Kontingent zur reinen Landesverteidigung) das Unterhalten von Streitkräften. Faktisch zählt die Armee des Landes zu den modernsten der Welt; japanische Soldaten beteiligten sich zudem bereits im Jahr 2003 an der US-amerikanischen Besatzung des Irak.

Dass Bürgermeister Matsui in seiner Rede explizit auf Artikel 9 verwies, kann somit als Kritik an der Regierungspolitik verstanden werden. Er forderte laut Japan Times »(...) Sicherheitssysteme, die nicht auf militärischer Macht basieren«. Um dies zu erreichen, sei es nötig, für den von Japan eingeschlagenen »Weg zu wahrem Frieden« zu werben, der in der pazifistischen Verfassung zum Ausdruck komme.

Matsui wies zudem explizit auf die zahlreichen Koreaner, Chinesen und Angehörigen anderer Nationalitäten hin, die sich unter den Opfern der Atombombe befanden. Insbesondere diese Opfergruppen, unter ihnen zahlreiche nach Japan verschleppte Zwangsarbeiter, kämpften lange vergeblich um Anerkennung als Opfer und werden im Rahmen des staatlichen Gedenkens an Hiroshima noch immer weitestgehend übergangen. Abe und sein Kabinett verfolgen unterdessen einen geschichtsrevisionistischen Kurs und relativieren die von Japan in Korea und anderen asiatischen Ländern begangenen Kriegsverbrechen.

Die japanischen Opfer wurden ebenfalls lange vernachlässigt und erhielten keine angemessene medizinische Behandlung. Bis heute werden zahlreiche Folgeschäden der Katastrophe nicht als solche anerkannt. Außerdem wurden zahlreiche Betroffene, ebenso wie ihre Nachkommen, jahrzehntelang diskriminiert und ausgegrenzt. Viele Menschen hingen dem Irrglauben an, die durch die Strahlung verursachten Leiden seien ansteckend oder vererbbar. Auch dieses von Abe unerwähnte, durch »Diskriminierung und Vorurteile« verursachte Leid der Überlebenden wurde von Kazumi Matsui nicht verschwiegen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 7. August 2015


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