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In der Region abgehängt

Indonesien: Die Schere zwischen Arm und Reich klafft auseinander. Gewerkschaften kritisieren staatliche Anreize für Investoren, die Niedriglöhne bezahlen

Von Sandra Siagian (IPS) *

Jeden Nachmittag steht Wahyu mit seinem Holzkarren am Rande einer vielbefahrenen Straße in Jakarta, um süße Knödel, so genannte »bakpao«, zu verkaufen. In guten Monaten verdient er umgerechnet etwa 57 Euro. Gleich gegenüber liegt eines der vielen Einkaufszentren der indonesischen Hauptstadt mit etwa 9,6 Millionen Einwohnern, wo Waren von Luxusmarken wie Louis Vuitton, Chanel oder Gucci angeboten werden. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in Indonesien im Laufe der Jahre immer weiter vergrößert.

In dem südostasiatischen Land leben nach Angaben der Weltbank schätzungsweise 28 der etwa 250 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze und verfügen somit über ein Einkommen von weniger als 292.951 Rupien (etwa 20 Euro) monatlich. Als Staatspräsident Joko Widodo im vergangenen Oktober in sein Amt kam, versprach er, das Einkommensgefälle zu verringern. Zugleich betonte er, das Land mit der viertgrößten Bevölkerung der Erde für Investoren attraktiver zu machen. Dagegen laufen Gewerkschaften Sturm. Sie befürchten, dass unkontrollierte ausländische Finanzströme den indonesischen Arbeitskräften schaden könnten.

»Wir sind einverstanden mit dem Plan der Regierung, Anreize für Investoren zu bieten, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. Doch die Regierung muss auch sicherstellen, dass die Beschäftigten mit niedrigen Einkommen geschützt werden«, sagte Said Iqbal, Vorsitzender des indonesischen Gewerkschaftsverbandes KSPI Ende Mai.

Das Durchschnittseinkommen in Indonesien liegt laut der Statistikbehörde BSP bei etwa 115 Dollar monatlich. In jeder Provinz und jedem Bezirk gilt eine andere Grenze für ein Mindesteinkommen. In der Hauptstadt bewegt sich diese Grenze derzeit bei ungefähr 206 Dollar. Gewerkschaften wenden jedoch ein, dass der Betrag nicht die steigenden Lebenshaltungskosten deckt. »In Malaysia wurde das Mindesteinkommen auf 228 Dollar, in Thailand auf 244 Dollar und auf den Philippinen auf 274 Dollar festgelegt«, erklärte Iqbal. Tausende Arbeiter waren am 1. Mai seinem Aufruf gefolgt und für höhere Löhne auf die Straße gegangen. »Die Löhne müssen mit dem Anstieg der Preise für Erdöl und Verbrauchsgüter Schritt halten«, forderte Iqbal.

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hatte im Januar berichtet, dass jeder dritte Beschäftigte mit einer Vollzeitanstellung Geringverdiener ist. Während die Niedriglöhne in manchen Schwellenländern steigen, sind der ILO zufolge prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Indonesien die Norm. Laut dem Report verdienen 45,9 Prozent der regelmäßig Beschäftigten weniger als den im August 2014 gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Sharan Burrow, Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes IGB, wirft der indonesischen Regierung vor, nicht ausreichend gegen die zunehmende soziale Ungleichheit und den weiter anwachsenden informellen Sektor vorzugehen. »Die Gewerkschaften des Landes kämpfen seit Jahren gegen Niedriglöhne. Doch die Menschen verdienen immer noch nicht genug für ein Leben in Würde«, sagte Burrow anlässlich eines Besuchs in Jakarta am 1. Mai.

Laut der Weltbank nimmt in Indonesien das Angebot an Arbeitsplätzen langsamer zu als das Bevölkerungswachstum. »Die öffentlichen Dienstleistungen sind unzureichend, wenn man sie an mittleren Einkommensstandards misst«, heißt es in einem Bericht der Institution. Auch dem Gesundheitssektor und der Infrastruktur bescheinigt die Bank Defizite.

Nur 68 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Sanitätseinrichtungen, während die Vereinten Nationen 86 Prozent vorschreiben. Etwa 153,2 Millionen Menschen – 62 Prozent der Gesamtbevölkerung – leben in ländlichen Regionen, in denen Krankenhäuser, Schulen und Finanzinstitutionen nicht leicht zu erreichen sind. Experten zufolge wird es höchste Zeit, dass das Land Maßnahmen zu einer gerechteren Verteilung der Einkommen ergreift. Während einige Beobachter darauf beharren, dass die niedrigen Löhne Investoren anziehen könnten, sind andere Experten vom Gegenteil überzeugt. Die Zunahme an Ungleichheit in den vergangenen zehn Jahren habe den ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung kaum Gewinne verschafft, sagte Keith Loveard von der Beratungsfirma »Concord Consulting« in Jakarta. Laut Loveard belaufen sich in Indonesien die Kosten für Logistik auf mehr als ein Viertel der Produktionskosten. Diese geben die Unternehmen an die Beschäftigten weiter, indem sie sie durch die Vorenthaltung angemessener Entlohnung ausbeuten. »Solange die Transportkosten nicht durch bessere Infrastruktur und weniger Bürokratie gesenkt werden, bleibt etwa die Situation der Fertigungsindustrie äußerst schwierig«, so Loveard. Der Fertigungsbereich bietet ILO zufolge in Indonesien die meisten regulären Arbeitsplätze nach dem Dienstleistungssektor und trägt erheblich zum Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum bei.

Finanzinstitutionen wie die Weltbank weisen darauf hin, dass die Einkommensdifferenz in dem Land so schnell wächst wie sonst in kaum einen anderen Staat Südostasiens. Solange die Regierung in Jakarta keine Sozialprogramme für die Ärmsten einführt und nicht in die Infrastruktur investiert, dürfte in den nächsten Jahren der soziale und politische Zusammenhalt verloren gehen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 02. Juni 2015


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