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Streit im Gazastreifen

Die Spannungen zwischen Anhängern des »Islamischen Staates« und der regierenden Hamas nehmen zu

Von Gerrit Hoekman *

Vieles deutet darauf hin, dass dem Gazastreifen nach dem israelischen Dauerbombardement im vergangenen Jahr ein neuer Sommer der Gewalt droht. Am Samstag schlug abermals eine Grad-Rakete in Südisrael ein. Zu der Attacke bekannte sich die noch junge Scheich-Omar-Hadid-Brigade, die der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) und seinem selbsternannten Kalifen die Treue geschworen hat. Es ist der dritte Angriff innerhalb von 14 Tagen auf die Hafenstädte Aschdod und Aschkelon. Erst am Mittwoch waren drei Raketen in Südisrael eingeschlagen.

Die Auswirkungen in Gaza sind heftiger als in Israel. Die Geschosse richteten keine Schäden an; dennoch schickte Tel Aviv Samstag nacht erneut die Luftwaffe, um Vergeltung zu üben. Am Mittwoch traf es unter anderem einen Trainingsplatz der in Gaza regierenden Hamas-Bewegung. Zwar hat diese nichts mit den Attacken zu tun, aber Israel macht sie trotzdem »dafür verantwortlich, was im ›Streifen‹ passiert«, wie der israelische Verteidigungsminister Mosche Jaalon vergangene Woche noch einmal betonte.

Immer unverblümter treten die Anhänger des IS im Gazastreifen auf, berichten Palästinenser im Internet. An vielen Stellen weht mittlerweile die schwarze Fahne der in der ganzen arabischen Welt gefürchteten Salafisten. Seit Wochen geht die Hamas hart gegen sie vor, besonders, nachdem der IS im April im syrischen Bürgerkrieg für kurze Zeit das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus erobert und Anhänger der Hamas hinrichtet hatte.

An die 100 Sympathisanten des IS sollen in Gaza seitdem verhaftet worden sein, berichtet die große arabische Tageszeitung As-Scharq Al-Awsa, darunter auch islamische Würdenträger. In ihrem Bekennerschreiben wirft die Omar-Hadid-Brigade der Polizei vor, die Gefangenen zu foltern und sie bei den Verhören auf schlimme Weise zu demütigen. Hamas macht die Salafisten für mehrere Anschläge verantwortlich, die seit April im Gazastreifen verübt wurden, unter anderem auf ein Militärlager der Qassam-Brigaden, dem militärischen Arm der Hamas.

Anfang vergangener Woche stellten die IS-Getreuen der Hamas ein Ultimatum: Innerhalb von 48 Stunden sollten die Festgenommenen freigelassen und alle konfiszierten Waffen zurückgegeben werden. Doch statt dessen stürmte eine Einheit der Hamas am Dienstag die Wohnung eines vermeintlichen IS-Kämpfers. Der Verdächtige widersetzte sich offenbar und wurde bei einem Schusswechsel getötet. Der Innenminister von Gaza präsentierte danach ein Arsenal an Waffen und Munition, die in der Wohnung des 27jährigen angeblich gefunden wurden. Auch Sprengstoffgürtel seien darunter gewesen. Die Polizei in Gaza glaubt, dass der Getötete für den ersten Raketenangriff auf Israel am 26. Mai verantwortlich ist.

Die Rache der Omar-Hadid-Brigade folgte mit der neuerlichen Attacke gegen Israel am vergangenen Mittwoch. Der einkalkulierte israelische Vergeltungsschlag traf schließlich auch die Hamas und nicht die Salafisten. Deren Stärke wird mittlerweile auf maximal 2.000 Kämpfer geschätzt. Eine verschwindend geringe Zahl angesichts der gut 40.000 Fedajin, die die Hamas unter Waffen haben soll. Im Internet kursieren jedoch Gerüchte über Dutzende Palästinenser, die von der Hamas zum IS übergelaufen sein sollen. Die Raketen »destabilisieren Hamas und bedrohen den Waffenstillstand zwischen Israel und Hamas«, zitiert The Telegraph den Politikwissenschaftler Mukhaimer Abu Sada’a von der Universität in Gaza.

»Wir setzen unseren Heiligen Krieg gegen die Juden, die Feinde Gottes, fort, und niemand wird uns daran hindern«, droht die Omar-Hadid-Brigade in einem Bekennerschreiben. Beobachtern ist aufgefallen, dass in den Propagandavideos des IS Jerusalem und Palästina eine immer größere Rolle spielen. »Aschdod war erst der Anfang, was kommt wird schlimmer«, kündigten die Salafisten an.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 9. Juni 2015


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